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Hinter verschlossenen Türen

Der "Vertrag von Lissabon" soll ohne großes Getöse von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Die Partei der Europäischen Linken fordert einen Volksentscheid über die Annahme der Verfassung der EU-Staaten

Von Gregor Schirmer *

Am 13. Dezember 2007 unterzeichnen die Regierungsvertreter der 27 EU-Mitgliedsstaaten in Lissabon einen sogenannten Reformvertrag – nicht im Namen der Bevölkerung, sondern mit Vollmacht ihrer Präsidenten und gekrönten Staatsoberhäupter. Die EU-Bürger sind an dem Unternehmen nicht beteiligt. Der Vertrag von Lissabon wurde über ihre Köpfe hinweg hinter verschlossenen Türen von den Bürokratien im Auftrag der Herrschenden zusammengeschustert. Auch die Parlamente, die nationalen wie das europäische, waren von der Mitwirkung ausgeschlossen. Herausgekommen ist ein Monstrum, das für die interessierte Leserschaft unverständlich und undurchschaubar ist. Es umfaßt 287 Seiten, einschließlich des Anhangs und 13 Protokolle, dazu noch eine Schlußakte von 36 Seiten mit 65 Erklärungen. Der Vertrag ist alles andere als bürgerfreundlich. Die Menschen können darin nicht erkennen, was aus Brüssel auf sie zukommt. Ihre Entfremdung von der EU wird eher zunehmen. Die Legitimations- und Vertrauenskrise der Union wird andauern.

Der Vertrag wird nach Artikel 6 am 1. Januar 2009 in Kraft treten, sofern alle Ratifikationsurkunden bis dahin in Rom hinterlegt worden sind. Wenn das nicht der Fall ist, soll der erste Tag nach der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde der Tag des Inkrafttretens werden. Vor Beginn des Wahlkampfs um das Europäische Parlament im Herbst 2009 soll nach der Absicht der Herrschenden jedenfalls alles erledigt sein. Volksentscheide sind – außer in Irland und eventuell in Dänemark – nicht vorgesehen. Der Ratifikationsprozeß soll nicht noch einmal – wie durch das Nein in Frankreich und den Niederlanden zum Verfassungsvertrag – von »des Volkes Stimme« gestört werden. Die Partei der Europäischen Linken und andere demokratische Kräfte fordern hingegen grundsätzlich Volksentscheide in allen EU-Staaten.

Die Bundesregierung will nach der morgigen Unterzeichnung (13. Dez.) schnell das Zustimmungsgesetz zum Reformvertrag – möglichst bis Mai 2008 – durch Bundestag und Bundesrat pauken. Sie will sich als Vorreiterin im Ratifikationsprozeß profilieren. Ob Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident das Verfahren im Falle einer Organklage oder einer Beschwerde in Karlsruhe gegen das Zustimmungsgesetz unterbrechen, wie beim ersten Anlauf, dem EU-Verfassungsvertrag geschehen, ist nicht vorauszusagen. Die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke hat einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, durch dessen Annahme in Deutschland die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Volksentscheid über den Vertrag von Lissabon geschaffen würden.

Zum Vertrag können im Bundestag keine Änderungsanträge gestellt werden. Die Abgeordneten können nur ja oder nein zum Zustimmungsgesetz sagen oder sich enthalten. Die Linksfraktion hat sich komplett für das Nein entschieden. Die anderen Fraktionen werden wohl zustimmen.

Verfassung ad acta?

Der Vertrag von Lissabon stellt offiziell das Ende des gescheiterten Verfassungsvertrags fest und reanimiert zugleich dessen Leiche. Während der Verfassungsvertrag die bisherigen EU-Verträge ablösen und die Union auf eine neue vertragsrechtliche Grundlage stellen sollte, geht der Vertrag von Lissabon den Weg der Änderung der zwei bestehenden Verträge, des Vertrags über die Europäische Union von 1992 (EUV) und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft von 1957, beide in der Fassung des »Vertrags von Nizza« aus dem Jahr 2001. Das Rechtswerk von 1957 wird in »Vertrag über die Arbeitsweise der Union« umbenannt. Beide Verträge – so heißt es in Artikel 39 EUV (neu) – haben »den gleichen rechtlichen Stellenwert«.

Der Verzicht auf den Namen »Verfassung« und auf die Nennung der Symbole der Union ist Mogelei. Es sollen diejenigen beruhigt werden, die mit einer EU-Verfassung die Befürchtung verbinden, die Europäische Union könnte sich zu einem Superstaat mausern. Aber die Verträge sind, auch wenn sie nicht so bezeichnet werden, die Verfassung der Union, so wie das Grundgesetz die der Bundesrepublik Deutschland und die UN-Charta die der Vereinten Nationen ist. Der Trick besteht darin, daß die wesentlichen Neuerungen des Verfassungsvertrags in die Lissabon-Version der zwei Verträge hinübergerettet wurden. So bleibt die Substanz des Verfassungsvertrags, wie von der Bundeskanzlerin Angela Merkel angestrebt, erhalten. Bestand haben damit aber auch die Kritik am Verfassungsvertrag und die Gründe für seine Ablehnung (jW vom 24.4. und 23.7.2007, S. 10/11). Sie sind auf die geänderten Verträge übertragbar.

Man muß kein Verfechter eines »europäischen Verfassungspatriotismus« sein, um zu sagen: Die EU braucht eine Konstitution, die auch so heißt, aber eine andere, nämlich eine, die gerechte soziale, ökologische, ökonomische und Frieden sichernde Grundlagen und Ziele, eine demokratische Organisation und Arbeitsweise der EU sowie die Freiheiten und Grundrechte der Menschen in der EU festschreibt. Vorbehalte gegenüber dem Namen »Verfassung« sind unbegründet. Es gibt kein stichhaltiges Argument, warum nur Staaten und nicht auch Staatenverbände ihre Rechtsgrundlage »Verfassung« nennen sollten. Die Forderung nach einer alternativen Variante drückt ein positives Verhältnis der Linken zur europäischen Integration und zur EU als deren politisch-juristischer Form aus. Sie kann den Vorwurf aus den eigenen Reihen – wie ihn André Brie formuliert hat – entkräften, ein Teil der Linken hätte eine »klammheimliche Freude (...) am Scheitern der EU« und befürwortete Desintegration und Renationalisierung. Mit der Forderung nach einer anderen Verfassung lassen sich Alternativen für die Zukunft der Union plausibel entwickeln. Warum sollten Linke die Mogelei der Herrschenden mit dem Verzicht auf die Bezeichnung »Verfassung« nachvollziehen? Um Mißverständnissen vorzubeugen: Der Name »Verfassung« ist wichtig, aber zweitrangig. Erstrangig ist, daß die vertraglichen Grundlagen der Union so geändert werden, daß die EU im Inneren sozial und demokratisch verfaßt ist und nach außen mit einer demokratischen, Frieden und Gerechtigkeit fordernden Stimme spricht. Aber gerade das leistet der Vertrag von Lissabon nicht.

Er bringt Verbesserungen gegenüber den Verträgen in der Nizza-Fassung und mildert einige Klauseln des Verfassungsvertrags, aber die EU bleibt das, wozu sie spätestens seit Maastricht ausgebaut worden ist: eine neoliberale Vereinigung kapitalistischer Staaten, deren Definition, Zuständigkeiten und geographische Reichweite unklar sind und deren erstes Grundrecht der freie Kapitalverkehr ist.

Durch den neuen Artikel 6 EUV wird der Charta der Grundrechte, die bisher nur eine unverbindliche politische Erklärung war, »dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie den Verträgen« verliehen. Das ist ein im Völkerrecht ungewöhnliches, ja dubioses Verfahren. In den EUV, wo sie eigentlich hingehört, wurde die Charta nicht aufgenommen. Das schmälert die politische Autorität der Charta beträchtlich.

Offen bleibt auch, wie die Bestimmungen der Charta ergänzt oder geändert werden können. Die Charta ist ohne Zweifel ein bedeutsames europäisches Dokument, aber sie ist nicht vollkommen. Die Chance blieb ungenutzt, nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags Verbesserungen und Präzisierungen vor allem zugunsten der sozialen Grundrechte wie des Rechts auf Arbeit einzufügen. Die Möglichkeiten zu ihrer juristischen Durchsetzung sind sehr begrenzt. Es fehlt die Einrichtung einer kostenfreien Grundrechtsbeschwerde. Das Protokoll Nr. 7 »Über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich« erklärt sie zwar für die beiden Länder nicht direkt für unverbindlich, befreit diese aber weitgehend von der Feststellung von Grundrechtsverletzungen. Insbesondere der Titel IV der Charta, »Solidarität«, findet für sie praktisch keine Anwendung. Damit wird ein für alle Mitglieder gleichermaßen verbindlicher Grundrechtsstandard in der EU verhindert.

Kein Ersatz für Nationalstaaten

Linke tun sich im Umgang mit dem Institutionen- und Verfahrensrecht der EU oft schwer. In den Dokumenten des zweiten Kongresses der Partei der Europäischen Linken in Prag im November ist – außer vom Europäischen Parlament – davon nicht die Rede. Dabei werden durch die Organisation der Union Machtkämpfe ausgetragen und über das Funktionieren oder Versagen von Demokratie entschieden. Im Vertrag von Lissabon sind die »Leftovers« von Nizza, nämlich die »Reform« der Institutionen und Abstimmungsregeln, zur angeblich allgemeinen Zufriedenheit der Regierenden erledigt – neue Machtrangeleien nicht ausgeschlossen.

Die Demokratiedefizite der EU werden durch den Vertrag zwar gemindert, aber nicht beseitigt. Die Erhöhung der Zahl der Fälle, in denen das Europäische Parlament neben dem Ministerrat mitentscheiden kann, stärkt die Stellung des Parlaments. Aber es bleibt bei dem strukturellen Manko, daß Entscheidungsrechte der nationalen Parlamente durch Übertragung auf die EU dort zum überwiegenden Teil beim Rat und der Kommission landen, also bei der Exekutive. Diese wird so zu ihrem eigenen Gesetzgeber. Die Unterrichtung der nationalen Parlamente wird verbessert und ihr Einspruchsrecht gegen Rechtsetzungsvorhaben Kraft des Subsidiaritätsprinzips wird durch einen Kontrollmechanismus konkretisiert. Nach wie vor hat das Europäische Parlament kein Initiativrecht in der Rechtsetzung, kein Vorschlagsrecht für den Präsidenten der Kommission und kein Mitspracherecht in der Außen-, »Sicherheits«- und »Verteidigungs«-politik. Die Europäische Zentralbank unterliegt keiner demokratischen Kontrolle. Die EU wird von den Exekutiven dominiert. Daran ändern die begrüßenswerten Bestimmungen über die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern sowie ihrer repräsentativen Verbände in dem neu gefaßten Titel III EUV nichts Wesentliches.

Es wird in Zukunft einen hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates für maximal fünf Jahre und einen Quasiaußenminister mit ständigem Vorsitz im Rat der Außenminister und mit diplomatischem Apparat geben. Die Zahl der Kommissare wird ab 2014 auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedsländer begrenzt. Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit werden zu mehr Gegenständen als bisher möglich sein. Bislang galt das Erfordernis der Einstimmigkeit. In Artikel 9c EUV (neu) wird – nach einem erbitterten Streit – die qualifizierte Mehrheit definiert: Zustimmung von 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren, gültig ab 2014, spätestens ab 2017. Die »verstärkte Zusammenarbeit« nach dem neuen Titel IV EUV ermöglicht einen Vormarsch von mindestens neun Mitgliedsstaaten, wenn die anderen (noch) nicht mitziehen wollen oder können. Solche institutionellen und prozeduralen Änderungen sollen die Handlungsfähigkeit der EU mit 27 und mehr Mitgliedern gewährleisten. Ob das angesichts fortbestehender Interessengegensätze gelingt, bleibt abzuwarten. Auch Linken sollte an der Handlungsfähigkeit der Union gelegen sein, weil Lähmung niemandem nützt.

Zu bedenken ist aber: Erstens festigen diese Änderungen die Vorherrschaft der ohnehin ökonomisch, militärisch und politisch dominierenden großen und bevölkerungsreichen Mitgliedsstaaten, vor allem Deutschlands, auf Kosten der kleinen und mittleren. Zweitens erhöhen nach Lage der Dinge die Änderungen die Handlungsfähigkeit der EU nicht in Richtung auf eine friedliche und soziale Politik, sondern die EU wird handlungsfähiger bei der Durchführung der festgeschriebenen neoliberalen und militärisch orientierten Politik.

Das Verhältnis von Zuständigkeiten, die bei den Mitgliedsstaaten verbleiben, und denen der Union wird durch den Vertrag von Lissabon im Vergleich zu den beiden 2001 in Nizza überarbeiteten Verträgen und zum Verfassungsvertrag in verschiedener Hinsicht ausgewogener geregelt. Zu verweisen ist auf den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, wonach die EU nur das macht, was ihr die Mitgliedsstaaten übertragen haben. Weiterhin gilt das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur für Angelegenheiten zuständig ist, die nicht von ihren Mitgliedern auf zentraler, regionaler oder kommunaler Ebene ausreichend und auf EU-Ebene besser verwirklicht werden können. Schließlich gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, nach dem die Maßnahmen nicht über die Ziele hinausgehen dürfen. In Artikel 4 EUV (neu) heißt es: »Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedsstaaten.« Und Artikel 2 des »Vertrags über die Arbeitsweise« stellt fest: Die Mitgliedsstaaten nehmen ihre Zuständigkeiten wieder wahr, »sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat« oder »entschieden hat, [diese] nicht mehr auszuüben«. Artikel 33 EUV (neu) sieht die Möglichkeit von Vertragsänderungen vor, die »eine Ausdehnung oder Verringerung der der Union in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten zum Ziel haben«. Im neuen Artikel 35 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) ist die Möglichkeit des freiwilligen Austritts aus der Union festgelegt. In der Erklärung Nr. 7 ist die sogenannte Ioannina-Formel aufgenommen, die ein Veto einer Minderheit von Mitgliedsstaaten mit aufschiebender Wirkung gegen einen beabsichtigten Ratsbeschluß ermöglicht.

Das sind positiv zu wertende Änderungen gegenüber den Absichten des Verfassungsvertrags, die souveränen Entscheidungsrechte der Nationalstaaten und ihrer Parlamente über Gebühr zu beschränken. Für den Erhalt von »Aufgaben und Befugnissen des Bundestags von substantiellem Gewicht« zu sorgen, ist nicht nur ein Postulat des Bundesverfassungsgerichts. Schon gar nicht darf dies nationalistischen Kräften überlassen werden, die die EU auf die Funktion einer Freihandelszone reduzieren möchten. Es muß auch ein Anliegen von Demokraten und Linken sein, die verhindern wollen, daß durch schrankenlose »Europäisierung« nationalstaatliche Errungenschaften eingeebnet werden. Im übrigen bleibt es im Vertrag von Lissabon bei den verschwommenen Regelungen über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen ihren Mitgliedern einerseits und den Organen der Union andererseits. Die Möglichkeit einer Ergänzung der Kompetenzen der EU ohne Vertragsänderung nach Artikel 308 EGV bleibt erhalten.

Fatale Politikorientierungen

Der Vertrag von Lissabon korrigiert nicht die neoliberale und militaristische Ausrichtung der Union, womit ein entscheidendes Kriterium bei der Abwägung des Für und Wider zu diesem Vertrag festgemacht ist.

Was den Neoliberalismus betrifft, setzt der Vertrag dem Markt- und Wettbewerbsrigorismus, der zu Sozialabbau führt, keine wirksamen Schranken. Der »Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb« aus dem Verfassungsvertrag wurde zwar nicht in den neuen Artikel 3 über die Ziele der Union im EUV übernommen, aber im »Vertrag über die Arbeitsweise« wird die Wirtschafts- und Währungspolitik dem »Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« unterworfen. Das hat den gleichen rechtlichen Stellenwert wie die in Artikel 3 EUV proklamierte »freie Marktwirtschaft«.

Im Artikel 2 EUV über die Werte der Union fehlt die Sozialstaatlichkeit. Die gehört aber unabdingbar zur im selben Artikel beschworenen Rechtsstaatlichkeit. Ohne Sozialstaatlichkeit gibt es keine Rechtsstaatlichkeit.

Das »Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb« kann dem Markt- und Wettbewerbsrigorismus dienstbar gemacht werden. Das »Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse« ist ein nur unvollkommenes Instrument, um den im »Vertrag über die Arbeitsweise« festgeschriebenen Kurs auf Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs zu stoppen.

Die aus dem Verfassungsvertrag übernommenen Bestimmungen über das Ziel einer »in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft« sowie der Vollbeschäftigung und des sozialen Fortschritts und über die Beachtung sozialer Belange in den Politikbereichen der ­Union können an der neoliberalen Orientierung und Praxis der EU schwerlich etwas ändern. In die Formel von der »wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft« können neoliberale Orientierungen und Absagen an grundlegende Änderungen der Wirtschaftsordnung hineininterpretiert werden. Die Europäische Zentralbank bleibt am »vorrangigen Ziel der Preisstabilität« und am Handeln »im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« orientiert (Artikel 105 des Vertrags über die Arbeitsweise). Die Forderung nach Vollbeschäftigung wird im Vertrag über die Arbeitsweise auf das vage Ziel eines »hohen Beschäftigungsniveaus« reduziert. Der Reformvertrag bringt keine Sozialunion. Unter den vielen Protokollen fehlt das von der Bundeskanzlerin in Aussicht gestellte Sozialprotokoll. Ein gewisser Fortschritt im Vertrag über die Arbeitsweise ist die Ergänzung des Umweltartikels 174 um das Ziel der »Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme und insbesondere zur Bekämpfung des Klimawandels«.

Was die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU betrifft, ändert der Vertrag von Lissabon den seit langem eingeschlagenen Kurs auf Militarisierung nicht, sondern verstärkt sie. In den Artikeln 17 und 28 EUV (neu) wird der Rückgriff auf militärische Mittel als Normalfall von EU-Missionen behandelt. Die Möglichkeit von Kampfeinsätzen auch ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates und außerhalb des Rechts auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung ist weiter gegeben. Die Verpflichtung zur »Verbesserung« der militärischen Fähigkeiten, das heißt zu modernisierender Aufrüstung, und die entsprechenden Aufgaben der Europäischen Verteidigungsagentur werden in die vertraglichen Grundlagen der EU aufgenommen. Konkrete Abrüstungsverpflichtungen dagegen fehlen. Die Anwendung militärischer Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus auf dem Hoheitsgebiet von Drittstaaten wird ermöglicht (Artikel 188r des »Vertrags über die Arbeisweise«). Die Verknüpfung der EU mit der NATO und damit mit der Kriegspolitik der USA bleibt nach Artikel 27 EUV (neu) erhalten. Durch die Einführung der »ständigen strukturierten Zusammenarbeit« von Mitgliedsstaaten, die bei der Militarisierung der sogenannten Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter gehen wollen als andere und der Möglichkeit, Militäreinsätze an »willige und fähige« Mitglieder zu übertragen, werden durchschlagskräftigere Mechanismen zur Durchsetzung des Kurses auf Militarisierung geschaffen (Artikel 27 und 31 EUV [neu] und das »Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit«).

Allein der Ausbau der EU als Militärmacht erfordert die kategorische Ablehnung des Vertrags. Schöne Postulate wie Frieden, Völkerrecht, die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und anderes in den Artikeln 3 und 10a EUV (neu) können und sollen am Kurs der Militarisierung nichts ändern. Begrüßenswert ist die Formel in der Erklärung Nr. 13 »zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik«, »daß die EU und ihre Mitgliedsstaaten nach wie vor durch die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere durch die übergeordnete Verantwortung des Sicherheitsrats und seiner Mitglieder für Frieden und Sicherheit in der Welt gebunden sind«.

* Aus: junge Welt, 12. Dezember 2007


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