Militarisierung findet nicht statt - basta!
Der Deutsche Bundestag debattierte über die EU-Verfassung - Kommentar (fast) überflüssig
Es war eine jener Bundestagsdebatten, über die man am liebsten den Mantel des Schweigens hüllen möchte. Dabei wurde sie eröffnet durch eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers und das Thema war die auf dem vorangegangenen EU-Gipfel angenommene europäische Verfassung - ein Meilenstein also auf dem Weg der EU zu einer wirklichen politischen Gemeinschaft! Doch die Parlamentarier gefielen sich in unaufgeregtem Klein-Klein. Der "Gottesbezug" - den einen fehlt er, den anderen ist er nicht wichtig - spielte jedenfalls in der Debatte eine weitaus größere Rolle als die militärischen Strukturen und die Aufrüstung, die sich die EU qua Verfassung verordnen will. Selbst der Bundesaußenminister wusste zur neuen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nicht viel beizutragen. Vier Fünftel seiner Rede befassten sich mit anderen Themen, insbesondere mit institutionellen Fragen und natürlich mit dem Abfeiern der historischen Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses. Die Regierungserklärung des Kanzlers - der damit die Debatte eröffnete - ging überhaupt nicht auf die Außen- und Sicherheitspolitik ein.
Insgesamt beteiligten sich an der Debatte 14 Rednerinnen und Redner, und zwar in dieser Reihenfolge:
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Gerhard Schröder, Bundeskanzler
- Dr. Angela Merkel (CDU/CSU)
-
Franz Müntefering (SPD)
-
Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP)
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Joseph Fischer, Bundesminister AA
-
Peter Hintze (CDU/CSU)
-
Otto Schily (SPD)
-
Michael Glos (CDU/CSU)
-
Michael Roth (Heringen) (SPD)
-
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(FDP)
-
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
-
Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos)
-
Markus Meckel (SPD)
-
Dr. Gerd Müller (CDU/CSU)
Von den 14 Rednerinnen und Rednern haben überhaupt nur vier das Thema mit mehr als nur einer Fußnote gestreift: Es waren Angela Merkel, der schon erwähnte Außenminister Fischer, die offiziell als "fraktionslos" eingestufte Abgeordnete Gesine Lötzsch (die in Wahrheit der PDS angehört) und der SPD-Abgeordnete Markus Meckel.
Wir dokumentieren jene Auszüge aus deren Debattenbeiträgen, die einen Bezug zur Außen- und Sicherheitspolitik haben - nicht weil wir der Ansicht sind, dass dort wesentlich neue Aspekte beleuchtet oder interessante Gedanken geäußert wurden, sondern vor allem um unserer Chronistenpflicht nachzukommen. Außerdem dürfte die Qualität der Debatte einen Vorgeschmack darauf geben, was uns erwartet, wenn im Vorfeld der Ratifizierung der EU-Verfassung doch noch eine öffentliche Debatte entstehen sollte. Das, was friedensorientierte Bürgerinnen und Bürger besonders interessiert (und was eigentlich alle Menschen besonders interessieren sollte!), nämlich die Umwandlung der EU in eine Rüstungs- und Militärunion und in eine Interventionsmacht, wird verschämt unter der Decke gehalten.
Darin sind sich übrigens alle im Bundestag vertretenen Fraktionen einig. Unterschiedliche Akzentuierungen sind nur schwer auszumachen. Ob SPD, Grüne, CDU/CSU oder FDP: Alle stimmen darin überein, dass die Militarisierung der EU (das Wort "Militarisierung" fällt natürlich nicht), die Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie und der Aufbau robuster Interventionskräfte die geeignete Begleitmusik zum vielbeschworenen Lissabon-Prozess sind (die Entwicklung der EU zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt bis zum Jahr 2010). Die einzige Rednerin, die dieser Sicht widersprach, ist die schon erwähnte "fraktionslose" Gesine Lötzsch (PDS).
P. Strutynski
Im Folgenden dokumentieren wir die Redepassagen mit außen- und sicherheitspolitischen Bezügen von Merkel, Fischer, Lötzsch (die gesamte Rede) und Meckel. Als Dreingabe erhalten Sie im Anschluss einen Kommentar des Bremer Hochschullehrers Jörg Huffschmid zur EU-Verfassung, der im Juli-Heft der Blätter für deutsche und internationale Politik erschienen ist.
Bundestagssitzung 2. Juli 2004: Auszüge aus der Debatte über die EU-Verfassung
Tagesordnungspunkt 27:
Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler: Einigung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf eine europäische Verfassung
Dr. Angela Merkel (CDU/CSU):
(...)
Wenn man sich den Verfassungsvertrag genau anschaut, stellt man fest, dass es eigentlich gar nicht so viele neue Zuständigkeiten gibt. Es gibt aber erhebliche Erweiterungen. Bezüglich dieser Erweiterungen möchte ich positiv hervorheben, dass man erhebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemacht hat. Angesichts des zeitlich eigentlich recht kurzen Prozesses von Nizza bis jetzt ist insbesondere in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik erheblich mehr Klarheit entstanden. Ich begrüße außerordentlich - ich denke, das ist ein wichtiger Beitrag für Europa -, dass man sich zum Beispiel auf eine Rüstungsagentur geeignet hat, dass man gesagt hat, man wolle hier eng zusammenarbeiten. Das sind die Punkte, in denen Europa noch prägen kann und sich nicht sozusagen auf Dauer in Abhängigkeit begibt. Ich halte das für außerordentlich vernünftig.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich finde es auch wichtig und fast historisch, dass man in der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung zum ersten Mal ganz eindeutig den Bezug zur NATO herstellt - da ist ja viel erreicht, wenn man überlegt, dass nicht alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union Mitglieder der NATO sind - und damit die Wertegemeinschaft in der Verteidigungspolitik noch einmal betont. Ich begrüße auch außerordentlich, dass es in Zukunft einen EU-Außenminister gibt, der das Gesicht Europas in der Welt sein kann, was allerdings voraussetzt, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dann auch bereit, willens und in der Lage sind, in wichtigen außenpolitischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen; ansonsten ist das Amt des Außenministers überflüssig.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
(...)
Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:
(...)
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist Gott sei Dank weiter, als Wolfgang Gerhardt es gerade dargestellt hat. Die EU ist durch die gemeinsame Strategie, durch die Rolle, die wir im Nahen und Mittleren Osten, in der Frage der Broader-Middle-East-Initiative und in ähnlichen Fragen bereits spielen, wesentlich besser aufgestellt, als Sie es dargestellt haben. Darüber hinaus ist der gemeinsame Raum des Rechts und der Sicherheit in Richtung eines Tampere II von großer Bedeutung.
Wir haben jetzt die große Chance, weitergehen zu können, weil wir garantierte Grundrechte haben. Insofern finde ich das Verhalten einiger ziemlich kleinkariert. In Maastricht hatten diejenigen, die nicht für den Euro waren, zumindest überhaupt kein Problem damit, Helmut Kohl und der Bundesregierung für das zu danken, was sie damals erreicht haben.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Damals ging es nicht um die Türkei!)
- Bei der Verfassung geht es auch nicht um die Türkei. Aber da Sie das Thema Türkei gerade ansprechen: Die CSU - ich nehme die CDU bewusst aus - hat mit dem Thema Türkei überaus erfolgreich Wahlkampf gemacht, wie man an Ihren Wahlergebnissen in Bayern sehen kann. Sie haben ein eindeutiges Minus zu verzeichnen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)
Herr Glos, auch in diesem Punkt sind die Menschen klüger. Jeder weiß, dass es bei der Türkei nicht darum geht, dass sie heute beitritt. Man muss schon wirklich zur CSU gehören und gehörig etwas auf den Augen haben, um nicht zu begreifen, welche gewaltigen Fortschritte jetzt unter der AKP-Regierung in der Türkei erzielt wurden, angefangen bei der Umsetzung der Kopenhagener Kriterien bis - das hätte ich vorher nicht für möglich gehalten - zu einer konstruktiven Haltung im Zypernkonflikt, wodurch die Türkei zur Lösung uralter Konflikte im östlichen Mittelmeerraum beiträgt.
Nehmen Sie nur die Abschaffung der Todesstrafe und die Strafrechtsreform!
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das tut doch jedes zivilisierte Land!)
Seit Gründung der Türkischen Republik gibt es jetzt erstmals Fernsehsendungen in Minderheitensprachen, unter Einschluss der kurdischen Sprache. Die ehemaligen kurdischen Abgeordneten, die zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, sind heute alle frei.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist doch alles selbstverständlich, Herr Fischer! Das müssen Sie doch wissen! Die Menschenrechte sind verbindlich, ob man in der EU ist oder nicht! Hören Sie doch auf!)
- Herr Glos, Sie wollen keine ernsthafte Diskussion führen, sonst würden Sie anerkennen, dass die Türkei gewaltige Fortschritte gemacht hat, nachdem sie eine Beitrittsperspektive bekommen hatte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Sie wollen keine ernsthafte Diskussion, sondern nur Ihre im Grunde genommen antitürkische Ideologie hier ausbreiten. Das wird nicht funktionieren; die Menschen sind nicht dumm. Es ist ein langfristiger Beitrittsprozess. Wir werden diesen Weg entschlossen weitergehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Wir sind der Meinung, dass die für die Europäische Union entscheidende Sicherheitsfrage in diesem Raum entschieden wird. Seit Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und - das vergessen Sie immer - Franz Josef Strauß bestehen entsprechende Zusagen. Helmut Kohl, Theo Waigel und Klaus Kinkel haben diese Zusagen 1997 in Luxemburg wiederholt. Wir haben sie bestätigt und in Helsinki und in Kopenhagen operativ umgesetzt. Die Ergebnisse sind beachtlich positiv. Diesen Weg gehen wir weiter, weil wir Frieden und Stabilität in der Zukunft dieses gemeinsamen Europas für unsere Menschen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Dieses Thema wird Gegenstand von zukünftigen Diskussionen bleiben. Wahlergebnisse sind in dieser Hinsicht sehr lehrreich.
(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ja!)
Meine Partei ist in Bayern mit dieser Position offen im Wahlkampf angetreten. Wir können uns über das Ergebnis nicht beschweren. Sie sind offen angetreten mit der Gegenposition. Wenn Sie Realisten sind und rechnen können, dann werden Sie feststellen, dass Sie erhebliche Verluste zu verzeichnen haben.
(Widerspruch bei der CDU/CSU)
Mit der Verfassung haben wir die große Chance, das erweiterte Europa handlungsfähig zu machen.
(Michael Glos [CDU/CSU]: Aber die SPD ist zur Splitterpartei geworden! Darum geht es doch! - Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: 19 Prozent!)
- Herr Müller, gehören Sie nicht zur CSU München? Jedenfalls müssten Sie wissen, dass die dortige CSU ganz andere Probleme hat. Das findet doch alles im Gerichtssaal statt, oder sehe ich das falsch?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Das Wahlergebnis der CSU München ist wirklich beachtlich.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wenn die Verfassung ratifiziert wird - ich bin sicher, dass sie ratifiziert wird -, haben wir die große Chance, das erweiterte Europa politisch handlungsfähig zu machen, es politisch zu integrieren und das Einigungswerk in den vor uns liegenden zwei Jahrzehnten tatsächlich zu vollenden. Damit können wir Europas Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in einem gemeinsamen Europa mit Leben erfüllen und das große Friedenswerk Europäische Union tatsächlich vollenden.
Ich danke Ihnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Viele Wählerinnen und Wähler haben ihr Desinteresse an der Europawahl bekundet und sind gar nicht erst hingegangen. Sie haben gespürt, dass sie über die wirklich wichtigen Fragen, zum Beispiel die Verfassung, nicht selbst entscheiden dürfen.
Wir als PDS konnten bei der Europawahl kräftig zulegen und das hat vor allem zwei Gründe: Erstens haben wir als PDS uns klar gegen das Rüstungsgebot in der Verfassung gewandt und zweitens haben wir uns klar für eine Volksabstimmung über die Verfassung ausgesprochen.
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
Wie schlecht Sie, meine Damen und Herren im Bundestag, mit dem Wahlergebnis leben können, haben Sie gestern gezeigt. Alle Fraktionen - von der CDU/CSU bis zu den Grünen - haben entschieden, dass die PDS-Europaabgeordneten nicht im Europaausschuss des Bundestages mitwirken dürfen. Wir haben jetzt die absurde Situation, dass die FDP einen EU-Parlamentarier in den Ausschuss delegieren kann, wir als PDS aber nicht. Dabei haben wir bei der Europawahl zwar nicht wesentlich, aber doch besser abgeschnitten als die FDP. Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat gerade die Bedeutung der Rechte der Minderheiten hervorgehoben. Schade, dass das gestern vergessen wurde.
Das Europäische Parlament ist neu gewählt worden und man hat den Eindruck, es geht alles so weiter wie bisher; das Wahlergebnis hat keine Auswirkungen. Die Kollegin Dr. Merkel von der CDU/CSU ist schon in einem anderen Zusammenhang darauf eingegangen.
Die Europapolitik wird nicht im Europäischen Parlament gemacht, sondern zwischen den Regierungschefs hinter verschlossenen Türen ausgekungelt. Nach dem letzten EU-Gipfel wird der Eindruck vermittelt, dass die Verfassung so gut wie in Kraft ist. Doch das ist ein Trugschluss und es kann für die Regierung noch ein böses Erwachen geben. Es gibt nämlich viele Menschen, die sich mit dieser Verfassung nicht anfreunden können.
Aus der Sicht der PDS gibt es drei Ablehnungsgründe: Erstens. Die Verfassung wurde mit jeder neuen Verhandlungsrunde undemokratischer. Zweitens. Die Verfassung wurde mit jeder neuen Verhandlungsrunde unsozialer. Drittens. Die Verfassung wurde mit jeder neuen Verhandlungsrunde militärischer. Auf diesen Punkt möchte ich etwas näher eingehen.
Am 15. Juni haben mehrere Forschungsinstitute das "Friedensgutachten 2004" vorgestellt. Die Wissenschaftler beschreiben die Sicherheitsstrategie der EU wie folgt - ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten -:
Sicherheit (wird) von der EU in einem eng militärischen Sinne als Voraussetzung für Entwicklung definiert, während die umgekehrte Blickrichtung, die soziale, ökonomische und rechtliche Entwicklungsfaktoren zum Ausgangspunkt für Sicherheit macht, unterbelichtet bleibt.
Diese Sicherheitsstrategie wird Europa nicht mehr, sondern weniger Sicherheit bringen. Es ist fatal, dass es in der Verfassung keine eindeutigen Aussagen gibt, dass militärische Interventionen nur als Ultima Ratio zu betrachten sind.
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
Dagegen wird eine Rüstungsagentur in der Verfassung verankert und das Militär auf "robustes Eingreifen" weltweit vorbereitet. Wofür braucht Europa eine Rüstungsagentur, wenn Europa schon jetzt nach den USA der größte Rüstungsproduzent der Welt ist? Gegen wen wollen Sie sich eigentlich rüsten? Wollen Sie in Zukunft Bin Laden mit 68 Eurofightern jagen, die den Steuerzahler 2,5 Milliarden Euro kosten werden? Reichen dafür nicht die 44 Eurofighter, die bereits 2,3 Milliarden Euro gekostet haben?
Die Europäische Union setzt auf die falschen Mittel zur Lösung der globalen Probleme. Das Verhältnis von zivilen und militärischen Mitteln stimmt einfach nicht. Wenn es aus Ihrer Sicht eine in der Verfassung festgeschriebene Rüstungsagentur geben muss, warum gibt es dann nicht wenigstens auch zum Beispiel eine Agentur zur friedlichen Konfliktvermeidung und Konfliktlösung? Wir finden, dass die Überbetonung des Militärischen in der Verfassung auch deshalb von uns hier so scharf kritisiert werden muss, weil klar ist, dass es nicht ohne Wirkung auf die europäische Innenpolitik bleiben wird, wenn die EU auf militärische Konfliktlösung in der Außenpolitik setzt.
Sie alle haben sich mehr oder weniger sehr zustimmend zu der Verfassung geäußert. Wenn Sie von der Verfassung so überzeugt sind, wie Sie es in der Debatte dargelegt haben, dann frage ich: Warum haben Sie nicht den Mut, die Verfassung durch das Volk bestätigen zu lassen?
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
Ich schließe mich ausschließlich der Argumentation von Frau Leutheusser-Schnarrenberger an, die gesagt hat: Wenn man etwas durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen will, dann muss man sich schon die Mühe machen, zu den Menschen zu gehen, und ihnen erklären, worum es eigentlich geht. Es reicht nicht aus, zu sagen: Wir haben etwas Gutes und Schönes, in Europa sind alle einverstanden. Vielmehr muss man vor Ort erklären, worum es im Detail geht, damit die Bürgerinnen und Bürger eine Entscheidung treffen wollen und können. Vor einer konkreten Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern scheinen aber die meisten von Ihnen - mit Ausnahme der FDP - Angst zu haben.
Vielen Dank.
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])
Markus Meckel (SPD):
(...)
Es ist von Sicherheit geredet worden. Dabei geht es nicht nur um den 11. September 2001. Vielmehr gibt es viele grundsätzliche Fragen, die unsere Sicherheit heute und in Zukunft bestimmen. Frau Lötzsch, ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern: Die Verfassung ist zwar das zentrale Dokument. Herr Solana hat im letzten Jahr eine Sicherheitsstrategie vorgelegt. Sie ist im letzten Dezember gemeinsam beschlossen worden. Jetzt ist sie die europäische Sicherheitsstrategie. Frau Lötzsch, lesen Sie sich diesen Beschluss einmal durch! Darin steht alles, was Sie hier einfordern, Stichwort "Bedeutung der integrierten Außenpolitik in den zivilen, in den ökonomischen und in den diplomatisch-politischen Dimensionen". Jeder, der glaubt, dass Sicherheitspolitik und Friedenspolitik völlig ohne militärische Dimensionen möglich sind, ist naiv. Wir leben nun einmal - "leider" mag mancher sagen - nicht im Himmelreich.
Wir stehen vor inneren und äußeren Herausforderungen. Innere Herausforderungen - das beziehe ich auf die Geographie Europas - betreffen unter anderem den westlichen Balkan. Mitten in der EU gibt es einen Bereich, der für uns eine zentrale Herausforderung ist. Dadurch, dass Kaliningrad von Staaten der Europäischen Union umschlossen ist, ist Russland unser Nachbar im Osten. Auch mit Kaliningrad ist eine zentrale Herausforderung verbunden. Dort, also in einer Region umschlossen vom Territorium der EU, gibt es manche Gefahren - organisierte Kriminalität, Drogen und viele andere Bereiche -, denen wir gemeinsam mit den Nachbarn, zum Beispiel mit Russland und Staaten auf dem westlichen Balkan, mit einer eigenen Strategie begegnen müssen.
Ich glaube, dass es auf diesem Gebiet nach den Kriegen in den 90er-Jahren wesentliche Fortschritte gibt. Die EU, die NATO und die internationale Staatengemeinschaft haben durchaus erfolgreich agiert, nachdem wir uns überhaupt nicht mehr hatten vorstellen können, dass es mitten in Europa zu solchen Kriegen und zu solchen Verbrechen kommt. Wir sehen - die Welt hat es zuletzt im März im Kosovo gesehen -, wie instabil die Lage ist. Wenn wir uns die einzelnen Länder anschauen, dann erkennen wir, was alles noch getan werden muss.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Integrations- und Europaperspektive für diese Region, also das, was der Europäische Rat in Thessaloniki beschlossen hat, der wesentliche Stabilitätsfaktor ist und dass es zusätzliche Initiativen braucht. Ich halte zum Beispiel eine Kosovo-Initiative der Europäischen Union am Anfang des nächsten Jahres für ausgesprochen wichtig. Wir können und sollten es nicht wieder den USA überlassen, eine solche Initiative zu ergreifen. Ich bin sicher, dass die USA dies tun werden, wenn wir nicht vorher aktiv werden. Kosovo liegt mitten in Europa. Die Staaten dieser Region haben nicht nur eine europäische Perspektive, sondern sie wollen auch Mitglied der Europäischen Union werden. Die Europäische Union sollte gezielt aktiv werden, nicht ohne die USA, natürlich mit den Vereinten Nationen und durchaus auch im Gespräch mit Russland. Ich wiederhole: Die Initiative sollte von uns, von Europa, ausgehen.
Die nächste zentrale Frage betrifft die Gestaltung unserer Nachbarschaft. Auch hier hat die Europäische Union Initiativen ergriffen. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass das öffentliche Augenmerk deutlich darauf gelenkt ist. Ich freue mich sehr, dass die Europäische Union mittlerweile den südlichen Kaukasus in diese Strategie mit aufgenommen hat. Das war vorher nicht der Fall.
(...)
Quelle: Plenarprotokoll 15/119, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 119. Sitzung, Berlin, Freitag, den 2. Juli 2004
www.bundestag.de
Von Jörg Huffschmid*
Der Sieg der Sozialisten bei den spanischen
Wahlen wie das Scheitern der
polnischen Sozialdemokratie haben ein
Nachspiel: Die im vergangenen Dezember
scheinbar auf unabsehbare Zeit
gescheiterte EU-Verfassung steht wieder
auf der Tagesordnung. Im Zuge der
endlosen Diskussionen um die Frage
der Macht- und Mehrheitsverhältnisse
ist jedoch die entscheidende Frage
nach ihrer inhaltlichen Substanz vollkommen
ins Hintertreffen geraten. Eines
steht aber schon heute fest: Diese
Verfassung wird die Europäische Union
ihren Bürgern und Bürgerinnen nicht
näher bringen.
Sie wird den Prozess der Entfremdung
festschreiben, der sich unter anderem
in der ständig sinkenden Beteiligung
an den Wahlen zum Europäischen
Parlament niederschlägt - eine Tendenz,
die am 13. Juni wieder eindrucksvoll
unter Beweis gestellt wurde. Auch
die angekündigte Demokratisierung
europäischer Strukturen und Verfahren
durch die Verfassung ist im Wesentlichen
ausgeblieben. Vielmehr würde
bei Verabschiedung des Entwurfes die
Demontage sozialstaatlicher Substanz
durch die neoliberalen Gegenreformen
Verfassungsrang erhalten, obgleich der
Widerstand hiergegen seit Jahren
wächst. Zugleich werden stärkere Aufrüstung
und Militarisierung der Außenpolitik
zum Verfassungsgebot erhoben.
Von den grundlegenden Rechten des
Parlamentes als Vertretung des Volkes - Ernennung der Regierung, Einbringung
und Verabschiedung von Gesetzen und Verabschiedung des Haushaltes - obliegt dem Europäischen Parlament
(EP) lediglich das Haushaltsrecht
- allerdings nur unterhalb einer vom
Ministerrat festgelegten Obergrenze
(Art. I-53,3). Diese ist gegenwärtig mit
1,24 Prozent des gesamten Sozialproduktes
der EU so niedrig angesetzt,
dass damit keine in europäischen Dimensionen
relevante Haushaltspolitik
möglich ist. Bei der Festsetzung der
Obergrenze wird das EP angehört, verfügt
aber über kein Mitentscheidungsrecht,
ebenso wenig wie ein eigenes
Steuererhebungsrecht.
Bei der Gesetzgebung bleiben seine
Rechte weiterhin beschränkt, obgleich
im Verfassungsentwurf die Anzahl der
Bereiche, in denen europäische Gesetze
im "normalen Gesetzgebungsverfahren"
(Art. III-302,1) beschlossen
werden sollen, gegenüber dem geltenden
EU-Vertrag mehr als verdoppelt
worden sind. Dieser unzweifelhafte
Fortschritt relativiert sich jedoch dadurch
massiv, dass dieses Verfahren
dem Parlament zwar eine Verhinderungs-,
aber weder eine Gestaltungsmacht
noch ein Initiativrecht gibt. Zwar
kann das EP Gesetzentwürfe letztlich
durch ein Veto zu Fall bringen, nach
wie vor können aber weder das Parlament
noch der Ministerrat (letzterer mit
einigen Ausnahmen) eigene Gesetzesentwürfe
formulieren und in die Beratungen
einbringen. Auch nach dem
Verfassungsentwurf bleibt allein die
Europäische Kommission dafür zuständig.
Schließlich ist es auch bei der Wahl
der "Regierung" - der Europäischen
Kommission - durch das Parlament
nicht weit her mit dem demokratischen
Forschritt: Zwar soll der Kommissionspräsident
künftig vom EP gewählt und
nicht nur - wie bisher - bestätigt werden.
Allerdings: Das Parlament darf nur
den Kandidaten oder die Kandidatin
wählen, der oder die ihm vom Ministerrat
vorgeschlagen wurde. Auch hier
kann das Parlament lediglich verhindern
und nicht gestalten. Das ist aber
jetzt auch schon so, materieller Fortschritt
findet nicht statt. Im Verfassungsentwurf
des Konvents bleibt das
EP ein demokratischer Torso.
Sozialpolitisches Trauerspiel
Eine Tragödie sind die Bestimmungen
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik - trotz
einiger Formulierungen im ersten Teil
des Verfassungsentwurfes, die hoffnungsfroh
stimmen, wenn beispielsweise
der Begriff der Solidarität neu
auftaucht und zudem mehrfach bekräftigt
wird, dass die EU eine Union der
Solidarität sein soll. Der dritte Teil des
Verfassungsentwurfes - in dem es um
"die Politikbereiche und die Arbeitsweise
der Union" geht - lässt von dieser
Absichtsbekundung aber nichts übrig.
Er erteilt vielmehr allen Hoffnungen
auf einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel
oder zumindest eine gewisse
Offenheit für neue Ideen und Konzepte
eine Absage. Die ideologische "Standfestigkeit"
der EU-Kommission gegenüber
empirischen Widerlegungen und
theoretischen Zweifeln, die das reale
Scheitern der neoliberalen Wirtschaftsund
Sozialpolitik begründen und prognostiziert
haben, ist geradezu phänomenal. Beispielsweise ist die Konzeption
der europäischen Geldpolitik eine
theoretische Absurdität mit allerdings
gravierenden Konsequenzen: Niemand
bestreitet, dass Geldpolitik das Wachstum
und die Beschäftigung einer Wirtschaft
wirksam beeinflussen, zumindest
abwürgen kann. Dennoch werden
die verhängnisvollen Bestimmungen
des Vertrags von Maastricht, dass Geldpolitik
sich vorrangig um Preisstabilität
zu sorgen hat und weder eine Verantwortung
für andere gesamtwirtschaftliche
Entwicklungen trägt, noch sich mit
den anderen Trägern der Wirtschaftspolitik
abstimmen muss, unverändert
übernommen. [1] Ebenso absurd ist es,
die Qualität von Finanzpolitik nicht danach
zu beurteilen, was sie zur Bereitstellung
öffentlicher Güter, zur gesamtwirtschaftlichen
Stabilisierung und zum sozialen Ausgleich beiträgt, sondern
nur daran zu messen, ob die öffentlichen
Haushalte ausgeglichen sind
oder nicht. Die EU propagiert gegenüber
den Mitgliedsländern seit Jahren
eine Politik der sozialen "Modernisierung",
die sich vor allem durch mehr
Druck auf Arbeitslose und Privatisierung
der sozialen Sicherungssysteme
auszeichnet. Diese neoliberale Politik
vertieft die soziale Polarisierung, schafft
mehr Unsicherheit in der Gesellschaft
und schwächt das Wachstum der
Binnenwirtschaft. Sie hat die EU mittlerweile
in einen Teufelskreis von
Wachstumsschwäche, anhaltend hoher
Arbeitslosigkeit und zunehmender Ungleichheit
getrieben. Die auf dem Gipfel
von Lissabon im März 2000 abgegebene
vollmundige Erklärung, dass die
Union bis zum Jahre 2010 zur "wettbewerbsfähigsten
Wirtschaftsregion der
Welt" werden und Vollbeschäftigung
erreicht haben solle, war nichts als heiße
Luft. Ihr Hintergrund ist eine anscheinend
unerschütterliche neoliberale
Ideologie, nicht aber eine realistische
wirtschaftspolitische Konzeption. Freilich
beruht die Unerschütterlichkeit
dieser Ideologie nicht auf der Überzeugungskraft
ihrer Argumente, sondern
auf der Macht der Konzerne, die von
der gesamtwirtschaftlich kontraproduktiven
Politik dennoch profitieren.
Dass dieser Kurs zu einer Zeit, in der
Millionen von Menschen gegen seine
Folgen auf den Straßen demonstrieren,
in der Verfassung festgeschrieben werden
soll, kann wohl nur als Versuch verstanden
werden, Kritiker zu entmutigen
und von Veränderungen abzuhalten,
die auf eine andere Wirtschaftsund
Sozialpolitik abzielen. Das europäische
Sozialmodell jedenfalls, dass die
EU in offiziellen Dokumenten immer
mal wieder beschwört, wird durch eine
solche Politik diskreditiert und demontiert.
Eine europäische Identität lässt
sich auf diese Weise nicht begründen.
Diese europäische Identität, die
wegen des polarisierenden und schwächenden
Kurses der Wirtschafts- und
Sozialpolitik nicht als sozialer Zusammenhalt
herzustellen ist, soll nun
anscheinend über die Entwicklung ei-
ner gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
geschaffen werden, die
ganz wesentlich durch eine gemeinsame
Militärpolitik gestützt wird. Dass in
Verfassungen die Existenz eines Militärapparates
verankert wird, ist normal.
Ein Gebot jedoch, die "militärischen
Fähigkeiten schrittweise zu verbessern",
wie es in Artikel I-40,3 des Verfassungsentwurfes
steht, dürfte einzigartig
sein. In dem Fehlen eines militärischen
Arms der EU sah der Konvent
offensichtlich einen solch eklatanten
Mangel, dass er besonderen Wert darauf
gelegt hat, die Lücke möglichst
schnell zu schließen. Solange die Verfassung
explizit fordert, die militärischen
Fähigkeiten zu verbessern, ist ein
derart fixiertes Aufrüstungsgebot tendenziell
grenzenlos. Sollte die EU eines
Tages zur militärischen Großmacht aufgestiegen
und eine weitere militärische
Verbesserung nicht erforderlich sein,
dann müsste die Verfassung wohl geändert
werden.
Anders als die kontraproduktive
Geld- und Finanzpolitik, die bereits im
Vertrag von Maastricht weitestgehend
kodifiziert und im Verfassungsentwurf
unverändert übernommen wurde, enthalten
die Abschnitte über die gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik
viele neue Formulierungen und Konzepte.
Sie stellen den vorläufigen Höhepunkt
einer Entwicklung dar, die mit
der Petersberger Erklärung von 1991
begann und darin besteht, eine neue
Rolle für das Militär zu finden, nachdem
die alte Ausrichtung auf Territorialverteidigung
durch den Zusammenbruch
des einzig möglichen Angreifers hinfällig
geworden war. Im Verfassungsentwurf
wird die Rolle des Militärs jetzt
"normalisiert": Sein Einsatz wird zum
regulären, wenn auch besonders gewichtigen
und daher mit besonderer
Vorsicht zu handhabenden Instrument,
mit dem die Politik die Werte der EU
verwirklicht und ihre Interessen in aller
Welt durchsetzt. Der Einsatz des Militärs
ist nicht an ein Mandat der UNO
gebunden, und im Rahmen der so genannten "Strukturierten Zusammenarbeit"
zwischen einzelnen Mitgliedsländern,
"deren militärische Fähigkeiten
höheren Kriterien gerecht werden",
setzt er auch keinen einstimmigen Beschluss
aller Mitgliedsländer voraus.
Bei Entscheidungen über Militäreinsätze
soll das EP zwar angehört und "auf
dem Laufenden gehalten" werden,
Entscheidungs- oder auch nur Mitentscheidungsrechte
hat es nicht.
Dogmatische Erstarrung
Trotz gelegentlicher fortschrittlicher
Formulierungen im ersten Teil und trotz
der begrüßenswerten Übernahme der
Charta der Grundrechte als zweiten
Teil des Verfassungsentwurfes ist dieser
insgesamt ein Dokument dogmatischer
Erstarrung. Der Europäische Konvent
wies alle Vorstellungen zurück, die mit
der fortschreitenden Integration Europas
die schrittweise Ausbildung eines
alternativen Gesellschaftsmodells verfolgen.
Das Muster, in das sich die EU
mit diesem Entwurf hineinbegibt, ist
das des klassischen Imperialismus:
Nicht Wohlstand und Gerechtigkeit für
alle, sondern Disziplin nach innen und
militärische Stärke nach außen sollen
die Klammern bilden, die die Gesellschaft
zusammenhalten. Damit begäbe
sich die EU auf den ausgetretenen Pfad
einer Großmacht, der in einer Sackgasse
enden muss.
Der Verfassungsentwurf des europäischen
Konvents sollte deshalb nicht die
"Verfassung für Europa" werden, selbst
dann nicht, wenn sich die Regierungschefs
der 25 EU-Mitglieder auf seine
Annahme verständigen. Denn die letzte
Entscheidung ist damit noch nicht gefallen.
Danach beginnt der Prozess der parlamentarischen
Ratifizierung, der lange
dauern kann. Er bietet die Chance, eine
größere europäische Öffentlichkeit
doch noch für die Frage zu interessieren,
wie es in Europa und mit Europa
weitergehen soll. Es gibt Anzeichen dafür,
dass diese Öffentlichkeit sich nicht
mehr alles gefallen lässt und dass die
Kritik an Neoliberalismus und Kriegspolitik
zunimmt. Am 15. Februar 2003
ist eine große europäische Öffentlichkeit
gegen die amerikanischen Kriegsabsichten
auf die Straße gegangen. Die
Regierungen, die diesen Kriegskurs
wie Spanien und Polen aktiv unterstützt
haben, sind seitdem entweder abgewählt
worden oder stehen unter massivem
Druck. Am 3. April dieses Jahres
haben in 26 europäischen Städten
Millionen Menschen gegen den Sozialabbau
protestiert, der von ihren Regierungen
betrieben und von der EU forciert
wird. Die soziale Unzufriedenheit
in der EU nimmt zu, Proteste werden
von größeren Teilen der Bevölkerung
unterstützt, der politische Druck für eine
andere Politik wird spürbar und veranlasst
allmählich sogar einige große
Parteien und Regierungen in der EU,
vorsichtig über Kurskorrekturen nachzudenken.
Davon hat allerdings der europäische
Konvent nichts mitbekommen. Seinen
abgehoben-dogmatischen Entwurf jetzt
zur Verfassung machen zu wollen,
käme dem demokratiefeindlichen Versuch
gleich, die gerade begonnene Diskussion
abzuwürgen und schnell noch
schwer zu überwindende Fakten zu
schaffen, ehe die politische Stimmung
kippt und diese Verfassung verhindert.
Die Alternative dazu kann nicht sein,
antieuropäische Stimmungen zu unterstützen
oder zu verbreiten. Vielmehr
sollte sie darin liegen, eine breite Diskussion
über die Konzeption einer
Europäischen Union zu initiieren, die
weder Juniorpartner noch militärisch
gerüsteter Großmachtrivale der USA
ist, sondern eine echte Alternative zum
Gesellschaftsmodell der USA darstellt.
Eine solche Konzeption müsste sich auf
drei Eckpfeiler stützen: Erstens eine
voll entwickelte Demokratie, die dem
europäischen Parlament die volle Souveränität
über die europäische Gesetzgebung
gibt und gleichzeitig die Rechte
der Mitgliedsländer (etwa durch die
Umwandlung des Ministerrates in eine
zweite Gesetzgebungskammer) wahrt.
Zweitens eine wirtschafts- und sozialpolitische
Konzeption, die sich nicht
primär am Ziel der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit ausrichtet, sondern
Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit,
Gerechtigkeit und ökologische
Nachhaltigkeit zu ihren Orientierungspunkten
macht und zu diesem Zweck
auch in Marktprozesse eingreift sowie
ein vernünftiges Verhältnis zwischen
öffentlichem und privatem Sektor etabliert.
Drittens eine Konzeption von
internationalen Beziehungen, die sehr
viel mehr Energie und Geld für friedliche
und kooperative Zusammenarbeit
sowie Entwicklungshilfe als für Marktöffnung
und Militäreinsätze aufwendet.
Nur bei Erfüllung dieser drei Voraussetzungen
würde sich eine europäische
Verfassung tatsächlich als die Verfassung
ihrer Bürger erweisen.
[1] Vgl. Hermannus Pfeiffer, Zentralbank will in die
Verfassung, in: "Blätter", 6/2004, S. 759-761.
Dieser Beitrag erschien in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2004, S. 775-778
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