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Die Fakten der EU-Verfassung

Eine Handreichung für die öffentliche Diskussion - Mit wichtigen Textauszügen aus der Verfassung - Neuauflage

Im Folgenden dokumentieren wir den Text eines Faltblatts, welches das Kasseler Friedensforum (verantw. Kathrin Fuchs) zur Debatte um die EU-Verfassung erstellt hat. Es dient in erster Linie dazu, die Bevölkerung über den Charakter der EU-Verfassung aufzuklären. Hierzu hatte der Bundesausschuss Friedensratschlag eine Abstimmungsaktion vorgeschlagen, die um den 1. September 2004 herum überall im Land stattfinden soll. (Hier geht es zum Abstimmungszettel!.)
Die Neuauflage der Handreichung war u.a. deshalb notwendig geworden, weil die EU-Verfassung am 6. August noch einmal "konsolidiert" wurde. Dadurch haben sich zahlreiche Nummern von Artikeln und einige Formulierungen geändert. Wir zitieren im Folgenden aus der letzten gültigen Textversion der Verfassung.


Wussten Sie, dass der Verfassungsentwurf für die EU

  • eine Aufrüstungsverpflichtung für die Mitgliedstaaten enthält?
  • eine Agentur für die Kontrolle und Umsetzung der Aufrüstung vorsieht?
  • nicht einmal eine Kontrolle der Außenpolitik des Ministerrats durch den europäischen Gerichtshof ermöglicht?
Die EU-Verfassung soll den EU-Vertrag ersetzen, die bislang ungeschriebenen Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger normieren und die EU zu einem hochgerüsteten Militärbündnis mit weitgehenden Eingriffsrechten ausbauen.

Neben der großen Idee einer politischen Einheit aller europäischen Staaten werden damit auch Ziele und Aufgaben festgeschrieben, die mit dem Grundgedanken unseres Grundgesetzes nicht vereinbar sind.
Hierüber findet bewusst keine öffentliche Debatte statt!

In Art.III-309 heißt es u. a. dass die vorgesehenen Missionen "Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen" umfassen. Derartige Vorhaben werden allein von dem EU-Ministerrat beschlossen. Friedensorientierte Kräfte, die in das EU-Parlament gewählt werden können, haben auf die Entscheidung keinen Einfluss. Aufgrund der Verpflichtung jedes Mitgliedstaates, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aktiv und vorbehaltlos zu unterstützen und die Rechtsakte in diesem Bereich zu achten, wird eine Abstimmung in den jeweiligen nationalen Parlamenten zur Farce.

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt uns, dass die unmittelbare Bezugnahme auf den Terrorismus und die Einsatzmöglichkeiten innerhalb eines Drittstaates ein Instrumentarium ist, das leicht für ganz andere Machtinteressen benutzt werden kann. Der Angriff eines fremden Staates als völkerrechtliche Vorraussetzung für militärische Verteidigung ist dann nicht mehr notwendig. Eine Selbstmandatierung durch den EU-Ministerrat folgt dem schlechten Vorbild der US-Präventivkriegsstrategie und bedeutet den klaren Bruch des Völkerrechts.

Um diese militärischen Möglichkeiten effektiv nutzen zu können, werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art.I-41 Abs.3). Zur Kontrolle wird zugleich eine Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet. Die Agentur soll auch untersuchen, inwieweit eine Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors erreicht werden kann. Damit wird eine noch engere Zusammenarbeit mit der Rüstungsindustrie angestrebt. Es ist interessant, dass ähnliche Anstrengungen für den sozialen Bereich völlig fehlen.

Da die militärischen Kapazitäten nicht in jedem Mitgliedstaat gleich stark sind, soll ferner eine so genannte "strukturierte Zusammenarbeit" derjenigen Staaten erfolgen, "die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten" (Art. I-41 Absatz 6). Es ist klar, dass damit der Weg zu einem "Kerneuropa" geöffnet ist. Dieser Kern entscheidet nämlich allein darüber, wer in den Kreis der "Privilegierten" aufgenommen wird.

Verpasste (?) Chance - Fortsetzung der freien Marktwirtschaft

Die EU-Mitgliedstaaten haben sich für die Beibehaltung einer freien und offenen Marktwirtschaft ausgesprochen. Die Werteverschiebung geht dabei eindeutig zu Lasten einer sozialen Absicherung. Die Solidargemeinschaft wie sie ihren Ausdruck in der sozialen Marktwirtschaft wenigstens ansatzweise findet, wird durch eine Individualisierung auf allen Ebenen beseitigt. Zwar nimmt die EU-Verfassung wie bisher schon der EU-Vertrag Bezug auf die soziale Marktwirtschaft. Die Ausrichtung auf den offenen und freien Wettbewerb nimmt aber insgesamt einen weit größeren Raum ein. So soll die soziale Marktwirtschaft zusätzlich "in hohem Maße wettbewerbsfähig" sein. Heute zeigt sich in zahlreichen europäischen Staaten ein massiver Abbau sozialer Rechte gerade mit der Begründung eben dieser Wettbewerbsfähigkeit. Dies ist kein nationales Problem sondern die logische Folge des auf EU-Ebene bereits seit 1957 im EG-Vertrag vorgeschriebenen Weges umfassender Liberalisierung. Zentrale Bedeutung erlangen hierbei die vier Grundfreiheiten:
1. Warenverkehrsfreiheit 2. Dienstleistungsfreiheit 3. Niederlassungsfreiheit 4. Kapitalverkehrsfreiheit.

Sie sind auch im EU-Verfassungsentwurf wichtigstes Element der Wirtschaftspolitik.br> Die aus dem EU-Vertrag übernommenen Regelungen zur Wirtschaft werden durch folgende Neuerungen erweitert:
  • Die Eigentumsfreiheit soll ohne Sozialpflichtigkeit garantiert werden. Dies stellt eine Abweichung zum Grundgesetz dar, das das Eigentum (auch von Produktionsmitteln) ausdrücklich einer sozialen Verpflichtung unterwirft.
  • Neu ist ferner der Schutz des geistigen Eigentums. Dies ist eine Umsetzung des umstrittenen TRIPS-Abkommens der WTO-Staaten. Diese Vereinbarung sieht vor, dass sich international führende Konzerne wie Monsanto Patente auf lebenswichtige Lebensmittel wie Reis und Saatgut aber auch Technologien eintragen lassen können und dadurch den Menschen vor allem in der Dritten Welt die Chance zur eigenen Entwicklung nehmen. Denn nach der Übereinkunft ist die Herstellung von Nachahmerprodukten für zwanzig Jahre verboten. Auch werden sich künftig Medikamente für die armen Länder enorm verteuern, da Patente gerade im pharmazeutischen Sektor angestrebt werden. Die EU passt sich dieser Veränderung widerspruchslos an.
  • Es wird ein Grundrecht auf unternehmerische Freiheit gewährt. Ein Recht auf Arbeit, wie es bereits die Weimarer Reichsverfassung beinhaltete, ist nicht vorgesehen.
  • Erschreckend ist ferner, dass der EURATOM-Vertrag, der die Kernenergie als "eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt" ansieht, weiter volle Gültigkeit haben soll. Hinzu kommt, dass die EU erstmals im Energie-Bereich eine eigene Kompetenz zur Gesetzgebung erhalten soll und so maßgeblich Einfluss auf nationale Energievorstellungen nehmen kann. Es ist zu befürchten, dass erneuerbare Energien vor dem Hintergrund des EURATOM-Vertrages hinter die Kernenergie zurücktreten müssen.
Abschließend bleibt festzustellen, dass die EU-Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik, die die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnet, unverändert forcieren.

Noch besteht die Möglichkeit, durch Protest von unten Druck auf die Regierungen aufzubauen, um dieser Politik Einhalt zu gebieten. Alle Bürgerinnen und Bürger der EU sind hierzu aufgefordert.


Im Folgenden dokumentieren wir die wichtigsten Artikel aus dem neuesten EU-Verfassungsentwurf:



Die Weichenstellung für ein militarisiertes Europa im EU-Verfassungsentwurf:

Art. I-41
Abs. 1:
Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Sie sichert der Union die auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit gemäß den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.

Abs. 2: Die ESVP umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat einstimmig darüber beschlossen hat. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften einen Beschluss zu diesem Zweck zu erlassen. (…).

Abs. 3: (…) Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäisches Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten (Europäische Verteidigungsagentur) eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchzuführen, sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich Fähigkeiten und Rüstung zu beteiligen sowie den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zu unterstützen.

Abs. 6: Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union. Diese Zusammenarbeit erfolgt nach Maßgabe von Artikel III-312. Sie berührt nicht die Bestimmungen des Art. III-309.

Abs. 7: Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates müssen die anderen Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung leisten. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.

Art. III-294:
Die Mitgliedstaaten unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität. (…) Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Beziehungen schaden könnte.
Der Rat und der Außenminister der Union tragen für die Einhaltung dieser Grundsätze Sorge.

Art. III-309 [Petersberger Aufgaben]:
Abs. 1: Die in Artikel I-41 Abs.1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.

Abs.2: Der Rat erlässt die Europäischen Beschlüsse über Missionen nach Absatz 1; (…).

Art. III-310:
Abs. 1:
Im Rahmen der nach Art. III-309 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Rat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine derartige Mission erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Die betreffenden Mitgliedstaaten vereinbaren im Benehmen mit dem Außenminister der Union untereinander die Ausführung der Mission.

Art. III-376
Abs.1:
Der Gerichtshof ist nicht zuständig in Bezug auf die Artikel I-40 und I-41 (und) in Bezug auf Teil III Titel V Kapitel II betreffend die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (…).

Wirtschaftlicher Bereich:

Art. II-76 Unternehmerische Freiheit
Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.

Art. II-77 Abs. 2 Eigentumsrecht
Geistiges Eigentum wird geschützt.

Art. III-144
Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat der Union als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind nach Maßgabe dieses Unterabschnitts verboten.

Art. III-148
Die Mitgliedstaaten bemühen sich, über das Ausmaß der Liberalisierung der Dienstleistungen, zu dem sie aufgrund Artikel III-29 I erlassenen Europäischen Rahmengesetze verpflichtet sind, hinauszugehen, falls ihre wirtschaftliche Gesamtlage und die Lage des betreffenden Wirtschaftszweigs dies zulassen.

Art.III-178
Die Mitgliedstaaten und die Union handeln im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, (…).

Protokoll zur Änderung des EURATOM-Vertrages:
(…) die Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (müssen) weiterhin volle rechtliche Wirkung entfalten (…)




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