"Zum Beispiel gibt es die Sorge, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu militärisch werden könnte"
Der Bundestag diskutierte in erster Lesung die EU-Verfassung – Große Einigkeit – Kaum Diskussionsbedarf über Militärpolitik (Redeauszüge)
Am 24. Februar 2005, also einen Tag, nachdem US-Präsident George W. Bush mit Bundeskanzler Schröder in Mainz zusammentraf, diskutierte der Deutsche Bundestag in erster Lesung über die Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrags. In den nächsten Monaten soll die EU-Verfassung - darüber herrschte Einigkeit unter allen Fraktionen – endgültig ratifiziert werden (wozu die Zustimmung des Bundestags und es Bundesrats notwendig ist).
Der Beratung lag ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, dem "Gesetz zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa" (Bundestags-Drucksache 15/4900). In Artikel 1 heißt es: "Dem in Rom am 29. Oktober 2004 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Vertrag über eine Verfassung für Europa einschließlich der 36 Protokolle sowie den Erklärungen, wie sie in der Schlussakte vom selben Tage aufgeführt sind, wird zugestimmt." Die Zustimmung muss mit zwei Dritteln der Stimmen von Bundestag und Bundesrat erfolgen. Ansonsten enthält die Drucksache 15/4900 in der Anlage den Text des EU-Verfassungsvertrags, den wir bereits hier als pdf-Datei dokumentiert haben: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Außerdem sind auf rund 40 Seiten Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln der EU-Verfassung angefügt. (Im Internet: http://dip.bundestag.de/btd/15/049/1504900.pdf)
Der weitere Gang des Verfahrens wird so sein, dass nach der ersten Lesung der Gesetzentwurf an zahlreiche Ausschüsse zu weiteren Beratung überwiesen wird. Der Überweisungsvorschlag sieht folgende Ausschüsse vor:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f), Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Petitionsausschuss, Auswärtiger Ausschuss, Innenausschuss, Sportausschuss, Rechtsausschuss, Finanzausschuss, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Verteidigungsausschuss, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Tourismus, Ausschuss für Kultur und Medien.
Nach den Beratungen in den Ausschüssen, die jeweils ihre Empfehlungen abgeben werden, kann der Gesetzentwurf wieder in den Bundestag zurückkehren. Wenn alles ganz schnell geht, könnte das Ratifizierungsgesetz bereit im Mai verabschiedet werden.
Weitere Gesetzesentwürfe zur Stärkung des Bundestags in der Gesetzgebung der EU lagen von allen Fraktionen vor. Die von CDU/CSU und FDP wurden abgelehnt (siehe am Ende dieser Seite). Für die Aussprache waren zwei Stunden vorgesehen.
Im Folgenden dokumentieren wir wesentliche Auszüge aus der Debatte. Wir verzichten bei der Wiedergabe der Redeauszüge auf die protokollierten Beifallskundgebungen, Zwischenrufe und Zwischenfragen. Bei der Auswahl der Textauszüge haben wir vor allem Passagen berücksichtigt, die implizit oder explizit auf außen- und sicherheitspolitische Aspekte eingehen. Zu Wort kommen:
Bundestags-Sitzung am 24. Februar 2005
Tagesordnungspunkt 3. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa – Drucksachen 15/4900, 15/4939 –
Auszüge aus der Debatte
(...) Der deutsche Philosoph Habermas hat sich mit Jacques Derrida, dem großen französischen Intellektuellen, zusammengetan. Beide haben gemeinsam ein Mut machendes Plädoyer für das vorgelegt, was unser gemeinsames Bewusstsein neben all dem Politisch-Technokratischen, was uns allzu oft auch hier beschäftigt, ausmachen könnte. Sie haben darüber gesprochen, dass uns Europäerinnen und Europäer die Höhen und Tiefen einer gemeinsam durchlittenen Geschichte einen. Uns eint die Sensibilität der Bürgerinnen und Bürger für die Widersprüche des Fortschritts. Uns eint das Ethos im Kampf um soziale Gerechtigkeit. Uns eint die Skepsis gegenüber staatlicher Allmacht. Uns eint der Kampf gegen die Todesstrafe.
All dies sind Mut machende Beispiele. Heute fügen wir ein weiteres Mut machendes Beispiel hinzu, denn wir können stolz erklären, dass die europäische Verfassung, die uns heute Morgen hier zusammengeführt hat, Identität stiftet.
(...)
Wenn wir über den Konvent und die sich daran anschließende Regierungskonferenz reden, dann sollten wir nicht Amsterdam und Nizza vergessen, Regierungskonferenzen, die ohne parlamentarische Mitwirkung schlechtere Ergebnisse zustande gebracht haben. Ich bin deshalb von dieser europäischen Verfassung so begeistert – mit meiner Begeisterung möchte ich Sie ein wenig anstecken – weil sie deutlich macht, dass Europa nicht allein eine Wirtschaftsgemeinschaft ist, sondern von Werten zusammengehalten wird. Die Grundrechte-Charta wird rechtsverbindlicher Bestandteil dieser Verfassung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann seine Rechte einklagen. Diese Rechte und die hiermit verbundenen Pflichten sind Maßstab für alle europäischen Institutionen.
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist besonders wichtig, dass das europäische Sozialmodell zukunftsfest gemacht wird. Der Geist der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Verfassung. Daher sollten wir die Kommission und alle anderen, die in Europa Verantwortung tragen, immer wieder daran erinnern, dass Europa nur dann eine Zukunft hat, wenn es sich auf einem sozialen Fundament bewegt.
Wir haben es geschafft, die Europäische Union handlungsfähiger zu machen. Blockaden werden überwunden. In der Außen- und Sicherheitspolitik bekommt Europa Gesicht und Stimme. Es besteht die Chance, dass wir gemeinsam die großen, zentralen Herausforderungen dieser Welt lösen und dass wir nicht mehr über Gegensätze reden, sondern Gemeinsamkeiten formulieren. Auch haben wir die Chance, Globalisierung zu gestalten und den Menschen die Angst vor der Globalisierung zu nehmen. Globalisierung hat aus unserer Sicht nur dann eine Zukunft, wenn sie ein menschliches Antlitz erhält. Auch dies wird in der europäischen Verfassung deutlich. Last, but not least stärken wir die Demokratie.
(...)
Natürlich ist da manches verbesserungswürdig und auch verbesserungsfähig. Deswegen hat die rot-grüne Koalition ein Begleitgesetz vorgelegt, mit dem der Versuch unternommen werden soll, das, was uns die EU-Verfassung als Auftrag mit auf den Weg gibt, in konkrete Gesetzesmaterie zu gießen.
(...)
Der erste Punkt, nämlich die Frage, wie wir im Bundestag mit dem Prinzip der Subsidiarität umgehen, hat uns sehr eng zusammengeführt, fraktionsübergreifend. Wir – meine Kollegin Angelica Schwall-Düren, mein Kollege Günter Gloser und ich – haben schon im vergangenen Jahr dem Bundestagspräsidenten ein Papier zugeleitet und darüber auch mit allen Fraktionen gesprochen. Wir haben in der interfraktionellen Arbeitsgruppe großes Einvernehmen darüber erzielt, dass wir die Fachausschüsse und den Europaausschuss noch enger zusammenwirken lassen müssen, um die Frage der Subsidiaritätsrüge vernünftig zu lösen.
Der zweite Punkt ist die Subsidiaritätsklage. Wenn wir mit einer Rüge keinen Erfolg haben, haben wir als Deutscher Bundestag die Möglichkeit zu klagen. Wir sind der Auffassung, dass eine Klage nur dann erfolgversprechend ist, wenn die Mehrheit des Deutschen Bundestages eine solche Klage ausspricht. Deswegen sind wir gespannt auf Ihre Argumente, mit denen Sie begründen wollen, warum Sie dies als Minderheitenrecht auszugestalten beabsichtigen.
Ein dritter Punkt ist die Passerelle-Klausel. Das ist ein fürchterliches Wort; man nennt es auch Brückenklausel. Wir haben als Deutscher Bundestag sehr dafür gestritten, Blockaden zu überwinden und in möglichst vielen Politikfeldern von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Wir haben uns leider nicht in allen Bereichen durchsetzen können. Deswegen eröffnet die Passerelle eine Chance für uns; denn dadurch kann der Europäische Rat einstimmig beschließen, in Politikfeldern, die gegenwärtig der Einstimmigkeit unterliegen, zur qualifizierten Mehrheit überzugehen.
Wir haben – das unterstützen wir selbstverständlich – die Chance, ein Veto einzulegen. Dieses Veto sollte aber, wenn überhaupt, von Bundesrat und Bundestag gemeinsam ausgesprochen werden. Wir sollten also nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union oder auch von den Ländern, neue Blockaden aufbauen, sondern zu erreichen versuchen, dass in noch mehr Politikfeldern nicht mehr einstimmig, sondern mit Mehrheit entschieden wird, weil sonst eine Union der 25 oder 27, perspektivisch der 30, nicht mehr führbar und steuerbar ist.
Viertens haben wir – das mag der Bundesregierung nicht in Gänze schmecken – in unserem Begleitgesetz auch dafür gesorgt, dass die Informationspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag erweitert werden. Auch darin liegt ein Angebot an Sie. Ein weiteres Angebot ist, dass wir – über die Regelungen des Begleitgesetzes hinaus –, wenn wir die Geschäftsordnung ändern und eine gesonderte Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag beschließen, den gewonnenen Spielraum konkret nutzen, um Probleme, die sich möglicherweise im Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesregierung ergeben, konstruktiv zu lösen.
Ich warne davor, neue Blockaden aufzubauen. Wir sollten versuchen, die Europäische Union handlungsfähiger zu machen. Wir sollten aber nicht das, was wir auf europäischer Ebene hinter uns gelassen haben, sozusagen durch die Hintertür im Deutschen Bundestag wieder einführen. (...)
(...)Wir sind für diesen europäischen Verfassungsvertrag. Wir halten ihn für einen großen Schritt nach vorne. Er führt zu mehr Subsidiarität, zu mehr Bürgernähe, zu mehr Transparenz, zu klar definierten Grund- und Menschenrechten für die Bürgerinnen und Bürger, zu mehr Demokratie, zu einem offeneren Verfahren in der europäischen Gesetzgebung und zu einer klaren Kompetenzordnung. Das alles ist sehr positiv zu werten. Deswegen haben wir eine grundsätzlich positive Einstellung zu diesem Vertrag. Wir werden ihn im Bundesrat ratifizieren.
Wir sind aber der Meinung, dass zum Besten in diesem europäischen Verfassungsvertrag die Kontrollrechte der nationalen Parlamente gehören.
Das sind übrigens, Herr Kollege Roth, nicht Gemeinschaftsrechte von Bundestag und Bundesrat. Wir haben die Kontrollrechte im Verfassungsvertrag vielmehr als Rechte jeder Kammer in den nationalen Parlamenten definiert. Das muss nun auf eine wirksame Weise umgesetzt werden. Dafür hat der Bundesrat vier Länder zu Verhandlungen mit der Bundesregierung beauftragt. Ich habe am letzten Freitag ganz klar zu diesem Antrag Stellung genommen, der in vielen Teilen mit dem übereinstimmt, was dem Bundestag heute in Gesetzentwürfen vorliegt.
(...)
Konrad Adenauer hat dieses Land nach 1949 nach Westen orientiert. Dies war nicht nur eine geographische Orientierung nach Westen; dies war eine Orientierung hin zu den freiheitlichen Demokratien des Westens, hin zur freiheitlichen, demokratischen Verfassungstradition des Westens. Wir verdanken inzwischen 50 und mehr Jahre des Friedens und der Freiheit dieser Westorientierung der deutschen Politik, der Aussöhnung mit Frankreich und den ehemaligen Kriegsgegnern von gestern, der europäischen Einigung und – das sage ich am Tag nach dem Besuch von Präsident Bush in Mainz aus ganzer Überzeugung – dem Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ohne all das hätten wir nicht die längste Periode des Friedens und der Freiheit in Deutschland erlebt.
Deshalb ist jeder Deutsche, der bei Verstand ist, mit der Ratio und dem Herzen für Europa. Aber es muss doch all denen, die politische Verantwortung tragen, zu denken geben, dass auch wir in den letzten zehn Jahren in den monatlichen Umfragen, die die Europäische Union in allen Mitgliedstaaten über die Akzeptanz von Europa durchführt, im Unterschied zu früheren Zeiten, als wir in Deutschland bei einer Zustimmung von 70 und mehr Prozent lagen, bei den Werten der anderen Länder, bei 45 bzw. 47 Prozent, angekommen sind. Das muss uns doch zu denken geben.
Ich glaube, es gibt dafür einen einzigen Grund. Der Bürger in Europa erlebt die Europäische Union als ein fernes, technokratisches Gebilde. Es gibt so gut wie keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt ein Geflecht von Zuständigkeiten. Der Bürger hat keine Übersicht.
(...)
Es ist ein Fortschritt, dass wir einen europäischen Außenminister mit zusätzlichen Zuständigkeiten bekommen. Es ist ein Fortschritt, dass wir die drei Säulen Europas zusammengefügt haben. Es ist ein Fortschritt, dass wir in Europa mehr Mehrheitsentscheidungen treffen können. Es ist ein Fortschritt, dass wir in den Krisenherden der Welt nicht mehr mit drei Personen auftreten, nämlich mit demjenigen, der gerade für ein halbes Jahr den Vorsitz innehat, mit demjenigen, der ihn im letzten halben Jahr innehatte, und mit demjenigen, der ihn im nächsten halben Jahr innehaben wird. Wir bringen nun Kontinuität in dieses Amt. Das bisherige Vorgehen war nicht überzeugend.
(...)
Die Verbesserungen sind entscheidend, wenn auch keineswegs ideal. Aber ich betrachte Europa vor allem als eine Friedensgemeinschaft. Europa war das große Erfolgsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg: Von denjenigen, die übrig gebliebenen sind, von Westeuropa, Resteuropa, wurden die Römischen Verträge abgeschlossen, durch die die Europäische Gemeinschaft entstanden ist. Eine Erweiterung nach Süden hat sich ergeben, es hat eine Erweiterung nach Westen gegeben und die nach Norden. Die große Zeitenwende des Jahres 1989 hat die Erweiterung nach Osten möglich gemacht. (...)
(...)Ich kann nur unterstreichen, was der baden-württembergische Ministerpräsident gesagt hat: Aus der Geschichte wird in der Regel nicht gelernt, aber die Europäer haben daraus gelernt. Es gab zwei wichtige Umstände: Zum einen war es die Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika, der Sicherheit und der Freiheit Westeuropas und damit auch des westlichen Teil Deutschlands und Berlins nach 1945 verpflichtet zu bleiben, zum anderen war es die Vision einer europäischen Einigung, die Schuman und Monnet, die beiden großen französischen Staatsmänner, entwickelt und gemeinsam mit Konrad Adenauer in den europäischen Verträgen umgesetzt haben.
Herr Teufel, ich denke, Sie haben mit Ihrer Rede klar gemacht, dass es sich hier bei allem notwendigen parteipolitischen Streit doch um ein gemeinsames Projekt handelt. Es geht nämlich darum, dieses Europa so zu schaffen, dass dauerhaft Frieden auf diesem Kontinent herrscht.
(...)
Es ist völlig klar: Wir brauchen eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik. Dabei kann nicht am Rotationsmodell der Präsidentschaft festgehalten werden. Jenseits aller Parteipolitik erlebe ich als Außenminister im europäischen Konzert, dass unsere Partner die Bedeutung der Europäischen Union im Grunde genommen ernster nehmen, als es die Struktur der Institutionen in diesem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik heute zulässt. Sie wollen ein verlässliches europäisches Handeln, weil die Europäische Union in einem positiven Sinne mehr und mehr zum internationalen Machtfaktor wird. Daran haben auch die Gründungsväter und -mütter der Union geglaubt und dafür gearbeitet. Dies spiegelt sich ebenfalls in einem wesentlichen Teil des Verfassungsvertrages wider.
Wir brauchen eine Abkehr von der rotierenden Präsidentschaft. Die Union muss eine beständige Repräsentanz haben. Das mag für die Bürgerinnen und Bürger weniger wichtig klingen. Aber die Rolle, die die Europäische Union im gemeinsamen Interesse der Mitgliedstaaten und der Bürgerinnen und Bürger in der Welt spielt, hängt davon ab. Wir brauchen einen Außenminister, der die europäische Außen- und Sicherheitspolitik mit einem auswärtigen Dienst auf europäischer Ebene in Verbindung mit den Mitgliedstaaten tatsächlich repräsentiert. Diese Dinge sind für die Zukunftsfähigkeit von entscheidender Bedeutung. Gerade einen Tag nach dem Besuch von Präsident Bush wird klar, dass seine Aussage, Amerika habe Interesse an einem starken Europa, bedeutet, dass wir diese Verfassung brauchen, oder wir bleiben bei dem zweiten Schritt, der auf die Erweiterung folgen muss, stehen.
(...)
Angesichts dessen, was diese Verfassung für die europäischen Bürgerinnen und Bürger, die Integration der alten und neuen Mitgliedstaaten, die verbesserte institutionelle Arbeit auf europäischer Ebene und die verbesserte Integration der nationalen Parlamente – unabhängig davon, ob es sich um eine oder zwei Kammern handelt –, aber auch für die Europäische Union in ihrer zunehmenden außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung bedeutet, kann ich nur unterstreichen: Wir brauchen diesen Verfassungsvertrag. Deswegen hoffe ich, dass das Haus mit sehr großer Mehrheit möglichst schnell zu einer Ratifikation kommt. (...)
(...) Die Ratifizierung der Verfassung ist kein bürokratischer Akt. Es geht vielmehr darum, die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu erzielen. Diese wird nicht dadurch erreicht, dass wir eine Expertendebatte führen, sondern wir müssen die Debatte an die Bürgerinnen und Bürger herantragen. (...)
(...) Sie haben zu Recht die historische Dimension des Verfassungsvertrages angesprochen. Wir unterschätzen völlig, welche große Bedeutung der Verfassungsvertrag hat, welche Anerkennung die europäische Integration bei den Menschen jenseits von Europa genießt und wie sehr Europa mittlerweile zu einem Modellfall für Regionen der anderen Welt geworden ist. Das sollten wir nicht länger tun. Diese Unterschätzung kommt übrigens auch darin zum Ausdruck, dass wir – wie ich finde: völlig leichtfertig und unnötig – auf die Perspektive einer europäischen Stimme in der Weltpolitik, also eines Sitzes im Weltsicherheitsrat, verzichten. Eines Tages kommt es noch so weit, dass der amerikanische Präsident Bush nach seinem Besuch in Brüssel die Forderung nach einem europäischen Sitz erhebt und sie gegen den Willen der Bundesregierung durchsetzt.
(...)
(...) Dass die Europäerinnen und Europäer, insbesondere die Deutschen, so skeptisch und zurückhaltend sind und so schlecht informiert sind, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass wir gerade in Deutschland als Politikerinnen und Politiker oft gar nicht die Notwendigkeit sehen, die Bevölkerung in der Breite zu überzeugen und mitzunehmen. Europa ist häufig unpopulär und schwer zu erklären.
(...)
Ich beklage den mangelnden Mut, der zum Ausdruck kommt, wenn die Mehrheit dieses Hauses einen Volksentscheid über die europäische Verfassung ablehnt. Es waren doch die Grünen, die noch 2004 in ihrem Wahlprogramm ausdrücklich geschrieben haben:
In Deutschland soll der erste bundesweite Bürgerentscheid über die neue Verfassung durchgeführt werden.
Dieses Haus hat niemals einen entsprechenden Gesetzentwurf der Grünen gesehen. Wir legen Ihnen aber einen vor.
Von Ihnen wird zwar wolkig angekündigt, dass die Einführung eines Volksentscheides in größerem Rahmen auf den Tisch des Hauses kommen wird. Wir warten es ab. Interessant ist aber, dass bis dahin der europäische Verfassungsvertrag mit der Brechstange durch das Ratifizierungsverfahren gebracht werden soll. Ich finde das nicht sehr überzeugend. Wir werden Ihnen in naher Zukunft die Gelegenheit geben, in namentlicher Abstimmung über die Einführung eines Volksentscheids über den europäischen Verfassungsvertrag zu entscheiden.
Ich sage dies für meine Fraktion nicht als Vertreter derjenigen, die ohnehin für die Einführung von mehr plebiszitären Elementen in unsere Verfassung eintreten, sondern als jemand, der als überzeugter Anhänger der repräsentativen Demokratie der Auffassung ist, dass auch in einer solchen Demokratie die Repräsentanten der Legitimation durch das Volk bedürfen.
(...)
Wir sollten uns nun nicht die Möglichkeit nehmen, diesen Fehler bei der europäischen Verfassung zu vermeiden. Deswegen haben wir Ihnen eine Grundgesetzänderung vorgeschlagen. Wir werden bald im Deutschen Bundestag in namentlicher Abstimmung darüber zu befinden haben. Ich freue mich darauf, dass die Grünen dann die Chance haben, ihre beachtliche Lücke zwischen Versprechen und Halten, zwischen Wort und Tat zu schließen. (...)
(...)Diese Verfassung ist, allen berechtigten Wünschen nach weiter gehenden Regelungen zum Trotz, ein Meilenstein. Ja, sie ist mehr als das. Ich meine, die europäische Verfassung ist die Geburtsurkunde der Vereinigten Staaten von Europa.
Ich weiß, dass das nicht jeder heute so sieht, dass das manche heute nicht so sehen wollen. Aber ich bin zuversichtlich, dass das im Rückblick einmal so eingeordnet werden wird.
Jeremy Rifkin schreibt dazu:
Vor mehr als 200 Jahren erschufen die amerikanischen Gründerväter einen neuen Traum für die Menschheit, der die Welt veränderte. Heute entwirft eine neue Generation von Europäern einen radikal neuen Traum – einen, der ihrer Überzeugung nach den Herausforderungen der zunehmend vernetzten und globalisierten Welt im 21. Jahrhundert besser gerecht wird. Vielleicht können wir von unseren Freunden in Europa etwas lernen.
Es liegt auch an uns, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. (...)
(...) Die Konzeption einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist Ausdruck eines selbstbewussten Europas, das bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.
Wir nehmen Partnerschaft ernst und setzen auf die Stärkung des transatlantischen Bündnisses. Ich freue mich, dass auch der amerikanische Präsident in dieser Woche in Brüssel zum Ausdruck gebracht hat, dass ein starkes Europa ein starker Partner der Vereinigten Staaten ist.
Die Verfassung wird Europa handlungsfähiger machen. Das ist notwendig, weil wir in der EU auch die Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung sehen. Mit der Refokussierung der Lissabon-Strategie auf Wachstum und Beschäftigung, mit einer ökonomischen Interpretation des Stabilitäts- und Wachstumspakts tragen wir dazu bei, Europas Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Nordamerika, Südostasien, China, Indien oder dem Mercosur zu stärken.
(...)
(...)Herr Kollege Hoyer, in Ihrer Argumentation – vom Anfang zum Ende hin – war ein gewisser Widerspruch; den will ich an dieser Stelle doch kurz erwähnen. Am Anfang haben Sie richtigerweise gesagt: Es ist ein Vertrag über eine Verfassung. Es ist auch nicht das Ende des Verfassunggebungsprozesses in Europa. Es ist ein Schritt auf dem Weg der europäischen Integration. Deswegen ist die Frage einer Volksabstimmung möglicherweise anders zu betrachten, als wenn wir eine Verfassung hätten, wie Sie gesagt haben, mit der Formulierung „We the people“. Das ist aber nicht so. Das wollen die Menschen in Europa jedenfalls zum derzeitigen Zeitpunkt auch nicht. Was die Menschen wollen, ist genau diese neue Form politischer Integration.
(...)
Der Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wird in den kommenden Jahren der wichtigste der europäischen Integration sein. Alles, was dazu gesagt worden ist, ist richtig. Es kann nicht besser gesagt werden, als es von Erwin Teufel heute Vormittag gesagt worden ist. Daran müssen wir weiter arbeiten. Damit verträgt sich nicht eine Politik der Bundesregierung, bei der sie vom deutschen Weg und von einer Renationalisierung der Außenpolitik spricht. Damit verträgt sich nicht eine Politik von Achsenbildung in Europa. Vielmehr muss eine Politik betrieben werden, die ganz Europa, große und kleine Mitgliedstaaten, zu einer gemeinsamen Position bringt. Das sollten wir lernen.
Ein weiterer Punkt. Wenn dieses Europa gelingen soll, braucht es klare Wurzeln. Deswegen haben wir so darum gerungen und sind nicht so ganz glücklich damit, dass es nicht, noch nicht gelungen ist, die geistigen, geistlichen, kulturellen und zivilisatorischen Grundlagen, ohne die Europa nicht werden wird und nicht werden kann, was es werden muss, in diesem Verfassungsvertrag stärker zu beschreiben. (...)
(...)Zum Beispiel gibt es die Sorge, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu militärisch werden könnte. Lassen Sie mich darauf etwas genauer eingehen: Die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist ein Prozess, der nicht mit der europäischen Verfassung begonnen hat, sondern sich vom Vertrag von Maastricht über Amsterdam und Nizza bis zum heutigen Tage immer weiter entwickelt hat. Diesen Prozess halte ich für unverzichtbar. Nur ein gemeinsames und starkes Europa hat wirklichen Einfluss im Rahmen der internationalen Gemeinschaft.
Man kann in diesem Zusammenhang sicherlich fragen, ob die Einrichtung einer europäischen Verteidigungsagentur zwingend notwendig in der Verfassung stehen muss. Ich meine, nein; denn die Verteidigungsagentur ist ohnehin schon im Aufbau, und zwar auf der Grundlage der jetzigen Verträge. Aber dass wir eine solche Verteidigungsagentur brauchen, steht meiner Ansicht nach außer Frage. Jeder der 25 Mitgliedstaaten unterhält nach wie vor seine eigenen Streitkräfte und seine eigenen Rüstungskapazitäten. Arbeitsteilungen und das Zusammenlegen von Fähigkeiten sind selten. Vielfach sind diese Streitkräfte schon aufgrund unterschiedlicher technischer Standards nicht in der Lage zusammenzuarbeiten. Das bedeutet konkret: Die europäischen Staaten geben mehr Geld für Verteidigung aus als nötig. Mit der europäischen Verteidigungsagentur werden militärische Überkapazitäten abgebaut und – gesamteuropäisch betrachtet – Verteidigungsausgaben eingespart.
Außerdem ist die europäische Verfassung die erste Verfassung, die im Rahmen ihrer sicherheitspolitischen Bestimmungen gleichberechtigt von zivilen und militärischen Mitteln spricht. Wenn man sich Art. I-3 anschaut, stellt man fest, dass es endlich auch aus friedenspolitischer Perspektive eine positive andere Gewichtung der außenpolitischen Zielbestimmungen gibt. Dieser Bedeutungszuwachs der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sollte sich dementsprechend auch in der Verfassung niederschlagen.
(...)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mich freuen, wenn wir es schaffen könnten, die Schlussabstimmung über die Verfassung am Europatag, also am 9. Mai, durchzuführen. Dies wäre ein richtig starkes Signal für Deutschland und Europa: Am 8. Mai feiern wir 60 Jahre Kriegsende und am Tag darauf beschließen wir in einer Sondersitzung die Europäische Verfassung.
(...) Von verschiedenen Rednern wurde zu Recht immer wieder angesprochen, dass die europäische Öffentlichkeit nicht in dem notwendigen Maße hergestellt wurde. Europäische Identität und das Gefühl, sich in diesem Europa, das man nicht als technokratisches Monstrum betrachtet, zu Hause zu fühlen, werden erreicht, wenn kommuniziert und diskutiert wird und wenn die Bürgerinnen und Bürger spüren, dass man ihnen offen sagt, wie die Situation ist, und dass ihnen ein Mitspracherecht eingeräumt wird. Diese Position ist bisher leider nicht auf Zustimmung in diesem Hause gestoßen. Aber ich denke, all diejenigen, die sich der Stärkung der Demokratie verpflichtet fühlen und die diese Haltung zum Credo ihrer Politik gemacht haben, können aus guten Gründen unseren Vorschlag nicht ablehnen.
(...)
(...) Wir, die deutsche Sozialdemokratie, bringen .. einen unverwechselbaren Teil unserer Identität ein. Zur Erinnerung: Unsere junge Partei hat unter dem Namen ADAV schon im ersten Programm zur Reichstagswahl des Norddeutschen Bundes 1866 formuliert:
Unter deutscher Einheit versteht die Arbeiterpartei … einen Anfang eines solidarisch europäischen Staates.
Für die SPD verbindet sich mit Europa eine Grundüberzeugung über Generationen hinweg, beginnend mit Ferdinand Lassalle und August Bebel, über Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Wels bis zu Kurt Schumacher, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.
(...)
Dieser wichtige Tag, an dem wir Mut zu Europa beweisen, wird durch Kleinmut bei der Ratifizierung leider etwas getrübt. SPD, Grüne, FDP und CSU haben sich im vergangenen Jahr dafür ausgesprochen, ein Referendum zu ermöglichen. Diese Parteien stellen 409 von 601 Abgeordneten. Das entspricht exakt zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages. Trotz einer solch großen Mehrheit war es nicht möglich, die CDU von ihrer Ablehnung abzubringen, sie in unsere Mitte zu nehmen und davon zu überzeugen, dass der Weg einer Volksabstimmung in Deutschland richtig ist; das bedaure ich sehr.
An die Kolleginnen und Kollegen von der FDP gewandt möchte ich deutlich machen: Hätten Sie im Jahre 2002 dem Vorschlag von Rot-Grün, Volksentscheide in das Grundgesetz aufzunehmen, zugestimmt, statt ihn mit 16 zu 18 Stimmen abzulehnen, hätten wir es in der heutigen Debatte leichter.
Wenn es um Entscheidungen in grundlegenden europäischen Angelegenheiten geht, sind in 24 von 25 EU-Staaten Elemente direkter Demokratie vorgesehen – bei uns nicht. Warum das so ist, kann ich Ihnen zwar politisch erklären; ich will es aber persönlich nicht rechtfertigen. 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen über die EU-Verfassung abstimmen; damit haben sie Recht. Alle Vorbehalte, die die Referendumsgegner gegenüber der EU-Verfassung haben, sind überholt. Diejenigen, die aus strategischen bzw. taktischen Gründen gezögert haben, sind leider auch von der Realität widerlegt worden.
Trotz der parlamentarischen Ratifizierung, die in Deutschland durch Bundestag und Bundesrat stattfindet, wird die problematische Volksabstimmung in Großbritannien leider nicht, wie erhofft, unterbleiben, werden wir ein mögliches Referendum leider nicht, wie geplant, eher durchführen können, als es in Frankreich geschehen wird, vermeiden wir leider auch nicht das Risiko eines zu geringen Interesses oder gar, wenn das Referendum in Form eines Plebiszits durchgeführt wird, einer Ablehnung durch die Bevölkerung; das sollte deutlich gesagt werden.
Das Ergebnis des Votums in Spanien ist eine großartige Zustimmung. Die Beteiligung an der Abstimmung erreichte fast das Niveau der letzten Europawahl. An dieser Stelle danke ich Gerhard Schröder persönlich und im Namen meiner Fraktion dafür, wie er sich dort engagiert hat. (...)
(...)
Eine Ratifizierung der EU-Verfassung, die mit breiter öffentlicher, kritischer und informativer Diskussion – auch auf supranationaler Ebene – , mit Veranstaltungen, auch mit Papierbergen, Festivitäten, Sachaufklärung und Medienrummel begleitet worden wäre, hätte die europäische Idee besser in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert und die auch in schwierigen Zeiten notwendige Zustimmung zum erreichten Stand der europäischen Integration verbessert.
Das gewählte Verfahren geht an den zukunftsweisenden Intentionen des Grundgesetzes vorbei. Buchstabe und Geist unserer Verfassung besagen, die Bürgerinnen und Bürger durch Wahlen und Abstimmungen an Entscheidungen zu beteiligen, bis schließlich vom deutschen Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschlossen wird. Das war bei Gründung der Bundesrepublik bekanntlich noch nicht möglich. Direkte Demokratie – auch das ist ein Ergebnis der friedlichen Revolution in der DDR – hätte bei Vollendung der deutschen Einheit sehr wohl praktiziert werden können, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP.
Dann wäre ein Volksentscheid über die europäische Verfassung heute pure Selbstverständlichkeit. (...)
(...) Woran liegt es denn nun, dass wir zwar eine Verfassung haben, die nach der Einschätzung aller Experten einen großen Fortschritt, auch für die Bürgerinnen und Bürger, bedeutet, dass dieser Verfassung aber viele Menschen mit Skepsis begegnen? Ich glaube, in den letzten Jahren ist ein Bewusstseinswandel eingetreten. 40 Jahre lang gingen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass das, was im europäischen Interesse wichtig ist, auch im nationalen, deutschen Interesse liegt. Heute glauben immer mehr Menschen – auch in vielen Fällen, wo es gar nicht so ist –, dass es einen Gegensatz zwischen dem europäischen Interesse auf der einen Seite und dem deutschen, nationalen Interesse auf der anderen Seite gibt.
Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe. Ich meine, es ist auch die Schuld – nicht allein – einer Bundesregierung, die ständig von nationalen Interessen spricht und die europäischen Institutionen in vielen Fällen mit diesem Argument angreift, in der Praxis aber relativ wenig von den Interessen, die sie definiert hat, durchsetzt.
Noch nie hat eine Bundesregierung derart gegenüber Brüssel getönt und in der Praxis dann so wenig erreicht.
Herr Bundesaußenminister, das hat einen Grund; er liegt nicht in Brüssel. Ich bin überzeugt, dass das Funktionieren der Europäischen Union nach wie vor im vitalen deutschen Interesse liegt, weil kein anderes Land so stark wie Deutschland auf funktionierende Strukturen angewiesen ist und weil kein anderes Land durch eine funktionierende Europäische Union einen derart großen Gestaltungsspielraum erhält. Es gibt aber ein anderes Problem, nämlich die Frage, wie wir mit der europäischen Politik innenpolitisch umgehen. Wir können natürlich nicht wissen, welche Interessen wir in Brüssel durchsetzen wollen, wenn wir uns nicht rechtzeitig Gedanken darüber machen, worin unsere Interessen bestehen und welche wir in Brüssel durchsetzen möchten. Genau das ist der Punkt, über den wir im Zusammenhang mit der Ratifizierung diskutieren müssen.
(...)
(...) Vertrauen beruht immer auf Gegenseitigkeit. SPD, CDU/CSU und Grüne trauen nicht den Bürgern unseres Landes und die Bürger trauen immer weniger den etablierten Parteien. Sie, meine Damen und Herren, haben noch nicht verstanden, dass Sie Vertrauen nicht einklagen können. Sie müssen den Bürgern auch Vertrauen schenken. Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich einem Volksentscheid zur EU-Verfassung und wollten doch einmal mehr Demokratie wagen. Die PDS fordert, wie auch die FDP, einen Volksentscheid zum EU-Verfassungsentwurf. Damit sind wir hier im Parlament zwar eine Minderheit, aber in Europa gehören wir damit zur Mehrheit.
Warum dürfen Spanier, Franzosen, Briten und Europäer aus insgesamt zehn Ländern über die EU-Verfassung entscheiden, aber nicht die Bundesdeutschen? Das können Sie keinem Menschen erklären. Auch Sie, Herr Schäfer, haben das hier in Ihrer persönlichen Erklärung bedauert.
Wir als PDS können erklären, warum wir gegen diese Verfassung sind. Dafür gibt es zwei gute Gründe: Erstens. Die Verfassung setzt auf militärische Stärke, auf Aufrüstung und weltweite militärische Konfliktlösungen.
Zweitens. Die Verfassung setzt auf freien Markt – nicht auf soziale Marktwirtschaft –, freien Geldverkehr und freie Konkurrenz.
Wir wissen, dass Wettrüsten und militärische Konfliktlösungen in Europa nie funktioniert haben. Unsere Erfahrungen zeigen im Gegenteil, dass Europa unter dieser Logik in den letzten 100 Jahren nur gelitten hat. Wir wollen dieser Logik nicht länger folgen. Diese Logik ist weder für Europa noch für einen anderen Kontinent oder ein anderes Land gut.
Es ist auch ein gefährlicher Irrglaube, dass wir Europa militärisch aufrüsten müssen, um unsere Unabhängigkeit gegenüber den USA zu sichern oder herzustellen. Ein solches Unterfangen wäre nicht nur ökonomischer Wahnsinn, es würde auch ein lebensgefährliches Wettrüsten einleiten.
Aber einige Lobbyisten scheinen bereit zu sein, jedes Risiko einzugehen, damit die Rendite stimmt. Wir haben es erst kürzlich hier im Bundestag mit dem Eurofighter erlebt: Wir geben wissentlich für ein schlechtes Flugzeug Unsummen aus, weil wir nicht aus geschlossenen Verträgen mit unseren europäischen Partnern aussteigen können. Schon jetzt tricksen die europäischen Rüstungsunternehmen die nationalen Parlamente aus und freuen sich auf die in der Verfassung festgeschriebene Europäische Verteidigungsagentur, die bisher Rüstungsagentur hieß, was aus meiner Sicht weitaus ehrlicher war. Die Kontrolle dieser Rüstungsagentur wird – ich darf den Artikel zitieren – wie folgt beschrieben:
(8) Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßig gehört. Es wird über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten.
Das hört sich wirklich nicht nach einer knallharten Kontrolle an. Damit wird Korruption und Selbstbedienung Tür und Tor geöffnet.
Es geht aber nicht nur um den äußeren Frieden, sondern auch um den inneren. Der Verfassungsentwurf setzt auf „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Wir erleben doch gerade, was das praktisch heißen soll. Dienstleistungsunternehmen sollen in Zukunft nur noch den Anforderungen ihres Herkunftslandes unterliegen. Auflagen und Kontrollen des Tätigkeitslandes würden gänzlich untersagt. Örtliche Tarifverträge, Qualifikationsanforderungen und Standards beim Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz könnten auf einfache und billige Weise unterlaufen werden. Das Resultat wären ein weiterer Sozialabbau und weiteres Wachstum der Armut innerhalb Europas. Derzeit können wir täglich in den Medien verfolgen, wie sich diese Entwicklung im Fleischereigewerbe vollzieht.
(...)
Eine Verfassung, die in den beiden entscheidenden Punkten Rüstung und soziale Marktwirtschaft hinter den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zurückbleibt, kann keine Grundlage eines zukunftsgerichteten Europas sein. Wir sagen Nein zu diesem Verfassungsvertrag, weil wir Ja zu Europa sagen und daran festhalten, dass ein besseres Europa möglich ist.
[* Anm.: Gesine Lötzsch gehört der PDS an; da die PDS - sie ist nur mit zwei Abgeordneten im Bundetsag vertreten - keinen Fraktionsstatus hat, werden die PDS-Abgeordneten regelmäßig im Protokoll als "fraktionslos" geführt.]
(...)Wir haben es zurzeit mit einer Entparlamentarisierung der Demokratie zu tun. Professor Hans Hugo Klein, der ehemalige Bundesverfassungsrichter, spricht gar von der Entmachtung der Parlamente. Der Staatsrechtler Carl Schmitt hat eine düstere Prognose zur Zukunft des Parlamentarismus gegeben: „Die Diskussion entfällt, die Öffentlichkeit entfällt, der repräsentative Charakter des Parlaments und der Abgeordneten entfällt.“
Das ist keine Demokratie, wie wir sie uns vorstellen. In dieser Aussage liegt wahrscheinlich auch der tiefere Kern der Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern, zwischen der Politik und dem Volk. Wir müssen wieder zurück. Wir müssen Politik und Entscheidungsvorgänge transparent machen und das Volk einbeziehen. Wir beziehen unsere Kraft nur vom Volk. Wir müssen in der Demokratie diese gestaltenden Grundlagen wieder verwirklichen.
Ich möchte Ihnen zwei aktuelle Beispiele nennen, die zeigen, dass der Bundestag in der europäischen Rechtsetzung außen vor ist. Wir diskutieren, aber wir entscheiden nicht mehr. Damit legitimieren wir die Rechtsetzung in Brüssel nicht mehr. Die Frage ist: Wer kann legitimieren? Das Europäische Parlament kann nur ergänzend eine Legitimation geben. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Maastricht-Urteil sehr deutlich dargelegt: Demokratische Legitimation europäischer Politik erfolgt zuvörderst über die nationalen Parlamente – wir sind schließlich am nahesten am Bürger –, unsere Wahl und die Kontrolle des Ministerrates sowie ergänzend durch das Europäische Parlament. Dies wird auch in Zukunft so sein. Das Bundesverfassungsgericht stellt ebenfalls fest:
Dem Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht verbleiben.
Es bleibt offen, ob der Verfassungsvertrag diesen Vorgaben gerecht wird.
(...)
Erstens. Wir fordern die Verwirklichung eines Parlamentsvorbehalts, das heißt einer Bindewirkung der Zustimmung der nationalen Parlamente zu zentralen Gesetzgebungsakten der EU. Bevor beispielsweise Wirtschaftsminister Clement als deutscher Minister im europäischen Ministerrat in Brüssel die für unsere Handwerker und Dienstleistungsberufe so wichtige Dienstleistungsrichtlinie mit beschließt, soll und muss er sich zukünftig der deutschen Öffentlichkeit und dem deutschen Parlament stellen und sagen, wofür oder wogegen er ist, und sich hier das entsprechende Votum abholen. Damit hätten wir Öffentlichkeit und Transparenz hergestellt sowie die Entscheidungen ein Stück weit zum Bürger zurückgeholt. Das ist das Wesentliche, was wir unter Demokratie verstehen.
Zweitens. Wir wollen die Zustimmung des Bundestages mit Zweidrittelmehrheit bei neuen Zuständigkeitsübertragungen und beim Übergang vom Prinzip der Einstimmigkeit zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Ich brauche das nicht näher zu verdeutlichen; denn Herr Ministerpräsident Teufel hat das bereits ausgeführt. Die Mitgliedstaaten müssen Herren der Verträge bleiben. Wenn es im Rahmen des neuen, autonomen Verfahrens zu Vertragsänderungen kommt, dann darf das nicht am Parlament und am Willen des Volkes vorbei geschehen. Dies käme einer Entmachtung der Parlamente gleich. Deshalb fordern wir eine Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit, wie sie im Übrigen bisher verfassungsmäßig notwendig ist.
Drittens. Die Subsidiaritätsklage muss als Minderheitenrecht umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat diese Möglichkeit schon heute. Wir machen keinen qualitativen Sprung, wenn wir sie der Mehrheitsfraktion einräumen.
Viertens. Ich möchte hervorheben, dass zukünftig Beitrittsverhandlungen – beispielsweise mit der Türkei oder der Ukraine – nur mit Zustimmung des Parlaments erfolgen dürfen. Warum soll der Bundestag, die Vertretung des Volkes, zukünftig bei solchen Entscheidungen nicht beteiligt werden, ausgeschlossen werden?
Wenn wir diese vier qualitativen Punkte umsetzen, dann wird die Ratifizierung kein Problem sein. (...)
(...)Nun zu Ihnen, Frau Dr. Lötzsch. Ich kann es fast schon nicht mehr hören, dass Sie von der Europäischen Union immer als einer Militärunion und Ähnlichem sprechen. Neben der PDS gibt es viele andere Gruppierungen, die so denken; insofern sollte man dieses Thema ganz offen ansprechen: Die Europäische Union ist – das ist heute von vielen Rednern gesagt worden – ein Modell für andere Regionen in der Welt, was die Organisation eines friedlichen Prozesses des Zusammenwachsens angeht. Nach der Spaltung durch den Irakkonflikt hat man in der Europäischen Union eine Sicherheitsstrategie entwickelt. Was hat das mit Militärunion zu tun? Auch die PDS sollte die Verfassung einmal von A bis Z durchlesen und nicht ganz bestimmte Punkte herausgreifen, die dann auch noch falsch interpretiert werden.
Die Europäische Union hat es darüber hinaus geschafft – auch das ist an die Öffentlichkeit gerichtet –, dafür zu sorgen, dass es im früheren Jugoslawien bzw. in Mazedonien zu keinem Bürgerkrieg gekommen ist, sondern dass sich dort eine friedliche Initiative entwickelt hat. Warum kommt es immer wieder zu dem Geschrei, die Europäische Union wende Waffengewalt an, um kriegerisch oder möglicherweise sogar imperialistisch aktiv zu werden? Wir sollten ehrlich darüber diskutieren, ob manche Passage richtig ist; aber man sollte in der deutschen Bevölkerung vor allem keine neuen Ängste schüren. Ich bitte auch die Kolleginnen und Kollegen, letztendlich aktiv dafür einzutreten, dass diese Verdrehung nicht im Raum stehen bleibt. (...)
(…)Die Situation, vor der wir stehen, ist offenbar die, dass bereits etwa 60 bis 70 Prozent dessen, was wir im Deutschen Bundestag beraten, durch Vorgaben der Europäischen Union veranlasst ist. Wenn es richtig ist, dass die Bundesregierung immer weniger in Berlin mit dem Bundestag entscheiden muss, sondern ohne Bundestag mit einzelnen Ministern in Brüssel im Ministerrat entscheiden kann, dann ist es dringend notwendig, dass wir die Debatten, die die Bundesregierung in Brüssel führt, zum Gegenstand unserer öffentlichen Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag machen. Herr Gloser, Sie haben gesagt, das sei ein Thema, das nicht hierher gehöre. Es gehört hierher, dass wir die Kontrollfunktion, die wir als Parlament haben, ernst nehmen und der Bundesregierung bei dem, was sie in Brüssel tut, auf die Finger schauen. Wir müssen in Deutschland Öffentlichkeit darüber herstellen. (...)
Die Debatte wurde schließlich vom Sitzungsleiter, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms, wie folgt beendet:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4900, 15/4939, 15/4716, 15/4925, 15/4936 und 15/4937 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen sollen – abweichend von der Tagesordnung – nicht an den Haushaltsausschuss, weder mitberatend noch nach § 96 der Geschäftsordnung, überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/4206 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Den EU-Verfassungsprozess zum Erfolg führen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2970 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Quelle: Vorab-Veröffentlichung des Plenarprotokolls der 160. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 24. Februar 2005;
Internet:
www.bundestag.de.
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