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Veggie-Tiger

Andreas Wehrs Buch über neuste Europa-Ideologen

Von Arnold Schölzel *

Die EU ist in vielen Mitgliedsländern unbeliebt. Heerscharen von Journalisten, Politikern, Professoren und Scharlatanen werden aufgeboten, um das ramponierte Ansehen wiederherzustellen. Ihr beliebtestes Instrument: Wer die EU kritisiert, ist mindestens Nationalist, wahrscheinlich aber Neonazi. Andreas Wehr weiß also, auf was er sich einläßt, wenn er sein neues Buch unter dem Titel »Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen« veröffentlicht und es mit dem Satz einleitet: »Der EU kommt die Legitimation abhanden.«

Das werden die Herrschaften, mit denen sich Wehr auseinandersetzt, zum Glück nicht ändern, aber sie bemühen sich. Es handelt sich um ein Gruselkabinett, in dem das Lied vom »Untergang des Abendlandes« in allerhand Variationen gesungen wird. Eine besonders groteske Melodie stimmt z.B. Jeremy Rifkin an, US-Guru mit großer Anhängerschaft diesseits und jenseits des Atlantiks in höchsten Amtsstuben. Sein »europäischer Traum« basiert auf medizinisch nicht heilbaren Phantasien wie der vom mittelalterlichen »Raumverständnis« in befestigten Städten, das nach Rifkin den zeitweiligen europäischen Vorsprung in der Mobilfunktechnik erklärt. Wehr sieht darin mild »platteste völkeranthropologische Vorurteile im Stile des 19. Jahrhunderts«.

Etwas zeitgemäßer erscheint Jürgen Habermas. Wie bei Rifkin muß bei ihm wegen der »Globalisierung« die EU her, um den Sozialstaat zu retten. Wehr zeigt, daß Habermas bestenfalls einen Schrumpfbegriff von der internationalen Wirtschaftsgeschichte und ihren Globalisierungen hat. Habermas redet einer »transnationalen Politik des Einholens und des Einhegens globaler Netzwerke« das Wort, gemeint ist, wie Wehr analysiert: Bildung einer Weltmacht und – als Zuckerl für die Untertanen – ein »Nachwachsen« von Sozialstaatlichkeit. Das klingt auch nach 1900, da aber Habermas, so Wehr, sozialkritisch argumentiere, trage er dazu bei, »vor allem Sozialdemokraten und Gewerkschafter an das neoliberale Projekt der EU zu binden«. Er liefere ihnen »reichlich Stoff für einen europäischen Traum vom demokratischen und sozialen Europa«. Der sei »heute weiter denn je von einer Realisierungsmöglichkeit entfernt«, die akademischen Gedankenspiele von Habermas zählten aber zu den einflußreichsten auf dem Markt der Ideologien.

Die anderen von Wehr behandelten Autoren stehen da hinter Rifkin und Habermas zurück, können aber auch nicht so schön plaudern. So reduzieren sich die Postulate des Soziologen Ulrich Beck für einen europäischen »Gesellschaftsvertrag« – »Fairneß«, »Ausgleich«, »Versöhnung« und »Verhinderung von Ausbeutung« – auf öde Appelle. Wehr kommentiert das Eingeständnis von intellektueller Hilflosigkeit und moralischer Heuchelei mit dem Satz: »Der Tiger wird gebeten, kein Fleisch mehr zu essen.«

Was hinter den Worthülsen steckt, analysiert der Autor an Hand des gemeinsamen Papiers des Grünen Daniel Cohn-Bendit und des belgischen Europapolitikers Guy Verhofstadt vom Oktober 2012 »Für Europa! Ein Manifest« sowie des Buches von Europaparlamentschef Martin Schulz (SPD) »Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance«. Es geht auch diesen drei nur um das eine: Die Weltgeltung Europas. Cohn-Bendit und Verhofstadt, die als Exanarchist und Dutzendliberaler eine gemeinsame Ausgangsideologie haben, teufeln dabei am meisten gegen die Nationalstaaten als Gefährder des schönen Projekts vom neuen Imperium.

Wehr konfrontiert im Schlußkapitel die Träume, die in Wahrheit imperialistische Großmachtvisionen sind, mit der Realität: EU als Friedensprojekt? Ihre Mitgliedsländer stehen permanent im Krieg, setzen auf Militarisierung. Gegründet wurden EU und NATO, um den Sieg der Roten Armee von 1945 rückgängig zu machen – sie war und ist ein Kriegsprojekt. Das Wohlstandsversprechen wurde nicht erst durch die Krise, sondern durch die Austeritätspolitik, mit der die Krise verursacht wurde, gebrochen. Die Europa-Ideologen wissen das und basteln an einer neuen Legitimation für die EU: Die Schwellenländer mit China an der Spitze sind die neue Gefahr. Das soll, so Wehr, die EU-Bürger hinter dem »Projekt einer Selbstbehauptung Europas« versammeln, d.h. in sozialen Konflikten ruhigstellen. Der Autor verweist darauf, daß dies auch in linken Kreisen immer wieder verfängt. Der soziale Kampf auf nationalstaatlicher Ebene wird für aussichtslos erklärt und damit entwaffnet. Das ist der Zweck der Übung. Andreas Wehr hat ein sehr wichtiges Buch für das Durchschauen dieser ideologischen Konstruktionen geschrieben und damit für die Debatten über die Strategie sozialer Kämpfe.

Andreas Wehr: Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen. PapyRossa Verlag, Köln 2013, 155 Seiten, 12,90 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 18. November 2013


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