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"EU sollte Maßnahmen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum ergreifen"

Ein Kommentar zum "Grünbuch Europäische Weltraumpolitik"

Von Regina Hagen*

Gemäß dem ersten Satz der Einführung, soll das Grünbuch Europäische Weltraumpolitik,(1) das die Europäische Kommission im Januar 2003 vorstellte, "eine Debatte über die mittel- und langfristige Nutzung der Raumfahrt im Interesse Europas sowie über die Raumfahrtpolitik Europas" anstoßen. Die Ergebnisse der Diskussion sollen Ende 2003 in einen Aktionsplan (Weißbuch) münden.

Das Grünbuch beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit folgenden Punkten:
  • Europa braucht einen eigenständigen Zugang zum Weltraum,
  • Weltraumanwendungen sollen nutzerorientiert sein und von den Nutzern mitfinanziert werden,
  • der Output der ISS-Forschung soll möglichst wissenschaftlich nutzbar und kommerziell verwertbar sein,
  • Europa soll unter Fortführung und Verstärkung der internationalen Kooperation eine eigenständige industrielle Basis und Infrastruktur für die Raumfahrt erhalten bzw. diese ausbauen,
  • die Raumfahrt soll im Rahmen von GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) und ESVP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik) verstärkt für militärische Belange genutzt werden,
  • die institutionellen Zuständigkeiten für die Raumfahrt in der Europäischen Union sollen neu geregelt und die Europäische Weltraumagentur (ESA) zu der europäischen Weltraumagentur benannt werden.
Daraus ergeben sich Konsequenzen, die meines Erachtens nicht angemessen berücksichtigt wurden. Insbesondere muß in Frage gestellt werden, ob die zwölf im Grünbuch formulierten Fragen dem Anspruch gerecht wird, einen Diskussionsprozeß über die mittel- und langfristige Nutzung der Raumfahrt zu strukturieren. Dieser würde nämlich eine breite gesellschaftliche Debatte über Sinn, Kosten, Nutzen, Vorteile, Gefahren, wahrscheinliche Entwicklungen sowie über die wünschenswerte Ausrichtung einer europäischen Raumfahrtpolitik sowie über flankierende (politische) Maßnahmen bedingen - vergleichbar mit der öffentlich geführten Debatte über Gentechnik oder die Sicherung der künftigen Alterversorgungssysteme.

Die schiefe Ebene der militärischen Weltraumnutzung

Besonders augenscheinlich wird dies am Beispiel der militärischen Weltraumnutzung (Kapitel 2.3, Verstärkte Sicherheit für die Bürger, des Grünbuchs).

Raumfahrtnutzung für GASP und ESVP

Im Grünbuch werden folgende militärische Weltraumdienste als wesentliches Element für die Verteidigung genannt:
  • optische, Infrarot- und Radaraufklärung (Satellitenbeobachtung) und
  • Informations- und Kommandosysteme (Satelliten-Fernmeldesysteme).
Damit sind die wesentlichen Komponenten der sogenannten C4ISR-Systeme genannt (command, control, communication, computer, intelligence, surveillance and reconnaissance). Weltraumanwendungen und -daten sind in hohem Maße dual use-fähig, das heißt, sie können sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden. Ein augenscheinliches Beispiel dafür ist das in der Öffentlichkeit mit rein zivilen Nutzen begründete weltraumgestützte Navigationssystem Galileo, das von EU und ESA gemeinsam entwickelt wird. Auch das ursprünglich überwiegend für Umweltbelange ausgelegte GMES (Global Monitoring for Environment and Security) bietet weitreichende militärische Nutzungsmöglichkeiten. In anderem Zusammenhang wird auf die Dienste von Organisationen wie EUMETSAT (Meteorologie) verwiesen, deren Daten auch dem Militär zugute kommen.

Wird von diesen dual use-Möglichkeiten verstärkt militärischer Gebrauch gemacht und das militärisch nutzbare Arsenal obendrein durch dezidiert für Militärzwecke ausgelegte Systeme ergänzt (dazu zählt z.B. der deutsche Radar-Aufklärungssatellit SAR-Lupe), werden die Abhängigkeiten von Weltraumsystemen des Militärs erhöht. Folgerichtig kommt das Grünbuch zur Erkenntnis: "Außerdem ist es wichtig, dass die satellitengestützten Dienste sowohl in normalen als auch in Krisenzeiten gebührend geschützt sind." (S. 27)

Von der Weltraummilitarisierung zur Weltraumbewaffnung?

Von hier ist der Schritt nicht mehr weit zur Aussage, daß (militärische) Weltraumsysteme im Konfliktfall attraktive Ziele für gegnerische Angriffe werden könnten. Mit dieser Aussage begründeten die USA im sogenannten 2. Rumsfeld-Report die Notwendigkeit, ihre Systeme im Weltraum notfalls mit Waffengewalt zu schützen und demgemäß auch Waffen in den Weltraum zu verbringen. Das Grünbuch stellt in diesem Zusammenhang fest:
"Die USA als erste dieser Weltraummächte nutzen Raumfahrtsysteme als Instrument zur Sicherung einer strategischen, politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Führungsposition, bei der 'Weltraumdominanz' und 'Informationsdominanz' eine Rolle spielen."

Die EU und die deutsche Bundesregierung sollten sich der Gefahr bewußt sein, daß mit der stärkeren Militarisierung des Weltraums unversehens ein bislang noch bestehendes Tabu durchbrochen und der Weltraum zur Stationierung von Waffen genutzt wird. Eine stärkere Militarisierung des Weltraums ist daher unbedingt abzulehnen.

Politisch flankierende Maßnahmen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum

Weltraumpolitik nur zur Festlegung der eigenen Weltraumprioritäten und -aktivitäten zu nutzen greift damit zu kurz. Politisch flankierende Maßnahmen zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum (Prevention of an Arms Race in Space, PAROS) dürfen nicht auf verbale Deklarationen bei internationalen Abrüstungsverhandlungen (z.B. zum nuklearen Nichtverbreitungsvertrag oder bei der Genfer Abrüstungskonferenz) beschränkt sein, sondern müssen ihren Niederschlag im geplanten Weißbuch finden. Deutschland und Europa sollten sich bindend verpflichten, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Verhandlungen über ein generelles Verbot von Weltraumwaffen in Gang und zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen.

Zivilen Charakter der ESA bewahren

Die Konvention der ESA von 1975 beschränkt die Aktivitäten der Agentur in Artikel II auf "ausschließlich friedliche Zwecke" (for exclusively peaceful purposes). Entsprechend ist die ESA ausgerichtet. Die Einbindung der ESA in militärische Anwendungen und Operationen würde nicht nur dem Statut widersprechen, sondern hätte auch für die - überwiegend an wissenschaftlichen Erkenntnissen interessierten - Angestellten der ESA Konsequenzen. Militärische Projekte unterliegen der Geheimhaltung, es wäre also eine Klassifizierung von Projekten und Mitarbeitern erforderlich, bis hin zur räumlichen und organisatorischen Trennung. Dies wäre ein deutlicher und bedenklicher Strategiewechsel der ESA-Aufgaben mit Folgen für das berufliche Selbstverständnis der ESA-Angestellten wie der öffentlichen Wahrnehmung der Weltraumfahrt in Europa.

Plädoyer für Kriterien zur Weltraumnutzung in Europa

Die Befürwortung oder Ablehnung von Militär ist eine individuelle Entscheidung jedes einzelnen Menschen aufgrund moralischer oder ethischer Überlegungen. Für den individuellen Staat oder die EU gehören verteidigungspolitische und militärische Überlegungen unter Berücksichtigung des generellen staatsphilosphischen Fundaments hingegen überwiegend in die politische Sphäre.

Grundsätzliche Erwägungen über die Vertretbarkeit jedes einzelnen Weltraumvorhabens und seiner Konsequenzen dürfen aber nicht auf die militärische Nutzung der Raumfahrt beschränkt bleiben. Immer wieder erneuter Diskussionsbedarf besteht beispielsweise im Bereich der bemannten Raumfahrt (muß die ISS aus politischen Gründen weiter erhalten bleiben, obwohl ihr wissenschaftlicher und praktischer Nutzen bei anhaltender Kostenexplosion zunehmend in Frage steht? kann bemannte Raumfahrt zum Mars verantwortet werden und wofür ist sie gut?, usw.) oder beim Einsatz von Kernenergie im Weltraum (dürfen zur Beschleunigung des Reisewegs Kernreaktoren zum Raketenantrieb zum Einsatz kommen? rechtfertigen tiefe Weltraummissionen den Einsatz von Plutoniumgeneratoren?).

Bei unterschiedlichen Anlässen wurde daher der Versuch unternommen, Kriterien zur Weltraumnutzung aufzustellen. Ein entsprechender Kriterienkatalog wurde von Jürgen Scheffran im Jahr 1997 vorgestellt und für die internationale wissenschaftliche Tagung Space Use and Ethics an der TU Darmstadt im März 1999 konkretisiert (2):
  • Die Gefahr einer folgenschweren Katastrophe muß ausgeschlossen sein.
  • Militärische Nutzung, Waffenverbreitung und gewaltsame Konflikte sollen vermieden werden.
  • Negative Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt sind zu minimieren.
  • Die wissenschaftlich-technische Qualität, Funktionalität und Zuverlässigkeit der eingesetzten Technologie muß gewährleistet sein.
  • Das Projekt sollte zur Lösung von Problemen und zur nachhaltigen und zeitgerechten Bedürfnisbefriedigung beitragen.
  • Es ist die Alternative mit dem besten Nutzen-Kosten-Verhältnis zu wählen.
  • Die soziale Verträglichkeit und die Förderung von Kooperation ist sicherzustellen.
  • Das Projekt muß in einer öffentlichen Debatte gerechtfertigt werden, unter Einschluß der davon Betroffenen.
Leider hatte sich die ESA damals der Diskussion um Kriterien für verantwortbare Weltraumnutzung und Technologiefolgenabschätzungen von Weltraummissionen entzogen. Statt dessen lud die ESA zusammen mit UNESCO unter Ausschluß der kritischen Öffentlichkeit zur Arbeitsgruppe The Ethics of Space Policy ein.(3) Unter ausdrücklichem Ausschluß der kontroversen Themen militärische Weltraumnutzung (weil die nicht im Entscheidungsbereich der ESA sondern der Nationalstaaten liege) und der Nutzung von Kernenergie im Weltraum (weil diese Technologie der ESA nicht zur Verfügung stehe) kam die Arbeitsgruppe zu vagen und verklausulierten Schlußfolgerungen wie die, daß Weltraumschrott zu vermeiden, die elektronische Überwachung unter Einschluß von Weltraumtechnologie unvermeidbar geworden, der Zugang zu Datenmaterial aus dem Weltraum allen Ländern zugänglich sein und insgesamt "die Definition der Basis einer Raumkultur geboten" sei.

Das ist zu wenig. Die EU und die ESA sollten sich unbedingt auf konkrete, veröffentlichte und überprüfbare Kriterien für ihre Weltraumvorhaben festlegen.

Schlußfolgerungen

Der Diskussionsprozeß um das Grünbuch hat das Ziel, auch Bürger am Diskurs zu beteiligen, vollständig verfehlt. Die Veröffentlichung des Grünbuches wurde nur wenigen Insidern bekannt; die Anhörungen verliefen in geschlossenen Kreisen; eine breite Debatte des Themas war offensichtlich nicht erwünscht.

Außerdem ist der Fokus des Grünbuchs zu eng gefaßt. Für die Erstellung des Weißbuchs sollten unbedingt weitergehende Aspekte beleuchtet werden, von denen in diesem Papier stellvertretend zwei (militärische Nutzung und ethische Kriterien) beleuchtet wurden. Es ist zu fordern, daß ein Modus zur Beteiligung einer breiteren Öffentlichkeit an der Diskussion gefunden wird.

Fußnoten
  1. Kommission der europäischen Gemeinschaften, Grünbuch Europäische Raumfahrtpolitik, 21.1.2003;
  2. Die Ergebnisse der Tagung wurden in einem Buch dokumentiert: : Bender, Hagen, Kalinowski, Scheffran, Space Use and Ethics, agenda, 2001.
  3. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe sind dokumentiert in: Alain Pompidou, The Ethics of Space Policy, herausgegeben von ESA und UNESO/COMEST Juni 2000.
Ich danke Jürgen Scheffran für die Hilfe bei der Erstellung dieser Kommentare.

* Regina Hagen ist Koordinatorin des International Network of Engineers and Scientists Against Proliferation (INESAP) und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit militärischen und ethischen Aspekten der Weltraumnutzung. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel zum Thema.
inesap@hrzpub.tu-darmstadt.de. Tel. 06151/16 44 68.



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