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Der Euro ist schuld

Sensationelles Eingeständnis der EU-Kommission: Die Währungsunion hat zur sozialen Verelendung in den Krisenländern geführt

Von Rainer Rupp *

Überraschend hat die Europäi­sche Kommission in Brüssel eingestanden, daß der Euro zu »zunehmender Arbeitslosigkeit und sozialer Härte« geführt hat. In einer Pressemitteilung zum EU-Jahresbericht 2013 über »Entwicklungen in Beschäftigung und Gesellschaft« bestätigt sie erstmals das, was jW-Leser längst wissen: Die einheitliche Währung macht es allen EU-Mitgliedsstaaten unmöglich, durch einen externen Anpassungsmechanismus – nämlich per Abwertung der Landeswährung – ihre unterschiedliche Produktivitätsentwicklung auszugleichen.

Als einzige Chance zu reagieren bleibt nur noch die sozial weitaus schmerzhaftere, gezielt die Lohnabhängigen treffende, interne Abwertung: massive Kürzung von Löhnen, Gehältern und Sozialleistungen. Und davon profitiert wiederum die herrschende Klasse – sowohl im eigenen Land als auch international.

Die Tatsache, daß dieser Mechanismus nun in einem Bericht der EU-Kommission benannt wurde, ist eine Sensation. Bislang hatten die EU-Eliten in Brüssel und in den nationalen Hauptstädten samt ihren Hofschranzen in den Redaktionsstuben der »Qualitätsmedien« bisher jeglichen Zusammenhang zwischen den katastrophalen sozialen Entwicklungen in den Krisenländern und der Währungsunion standhaft geleugnet. Vielmehr wurde der Euro von den Herrschenden zur über alle Zweifel erhabenen »heiligen Kuh« erklärt, von der angeblich unser Wohlstand und Frieden abhängt und an der Kritik verboten ist.

Bemerkenswert, aber nicht erstaunlich ist die Tatsache, daß der Mainstream das Eingeständnis der EU-Kommission mit keinem Wort erwähnt haben. Wer bisher gewagt hatte, den Euro in Frage zu stellen und gar die Rückkehr zu nationalen Währungen und somit zur nationalen Souveränität über die Geld-, Fiskal- und Sozialpolitik zu fordern, der wurde von ihnen in Bausch und Bogen als »Populist« verurteilt. Selbst Linke wurden in die Nähe rechter Nationalisten gerückt, nur weil letztere ebenfalls die Währungsunion verurteilen, wenn auch aus anderen Gründen und mit anderen Zielen.

Die Europäische Kommission formuliert in ihrer Presseerklärung jedoch sehr klar. Darin heißt es, daß der EU-Jahresbericht 2013 »verdeutlicht, wie die Saat für die heute bestehenden Ungleichheiten bereits in den frühen Jahren des Euro gelegt wurde, als unausgewogenes Wirtschaftswachstum in einigen Mitgliedsstaaten auf der Grundlage wachsender Verschuldung, die durch niedrige Zinsen und starke Kapitalzuflüsse noch weiter getrieben wurde, oft mit einer enttäuschenden Entwicklung der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit einherging.«

Und im nächsten Absatz: »Ohne die Möglichkeit einer Währungsabwertung müssen die Länder des Euro-Raums auf die interne Abwertung (Lohn- und Preismäßigung) zurückgreifen, um wieder Kostenwettbewerbsfähigkeit zu schaffen. Diese Strategie hat jedoch ihre Grenzen und Nachteile – nicht zuletzt in Form höherer Arbeitslosigkeit und sozialer Härten –, und ihre Wirksamkeit hängt von vielen Faktoren ab, wie der Offenheit der Wirtschaft, der Stärke der Auslandsnachfrage und der Existenz von Maßnahmen und Investitionen zur Förderung der kostenunabhängigen Wettbewerbsfähigkeit.«

Auch der letzte Satz läßt aufhorchen, wird doch hier der Effekt der bitteren EU-Medizin infrage gestellt, die den lohnabhängigen Massen in den Krisenländern aufgezwungen wurde. Waren die unglaublichen, den Menschen abgepreßten Opfer gar umsonst? Ganz sicher gilt das für die einfachen Leute, denn eine Besserung ist für sie nicht in Sicht: Aber diejenigen, für die die neoliberale EU maßgeschneidert wurde, sind heute trotz Krise oder auch wegen der Krise reicher denn je.

Inzwischen scheint es aber auch den »Eliten« zu dämmern, daß man die sozialen Fakten nicht länger ignorieren kann, sind sie doch zu einer »Bedrohung für die Kernziele der EU« geworden (Pressemitteilung der Kommission). Tatsächlich wird die EU von den meisten Bewohnern Europas längst nicht mehr als Garant von Wohlstand und Frieden gesehen. Das Gegenteil ist der Fall: Immer mehr Europäer nehmen die EU als Zwangsvollstrecker wahr, als Verursacher der Massenarbeitslosigkeit und als Umverteiler, der die Lohnabhängigen zugunsten bankrotter Bankster und korrupter Politiker schröpft. Der in den letzten Jahren in Gang gesetzte soziale Gärungsprozeß, der in den Krisenländern immer öfter und auf immer breiterer Basis in offene und gewalttätige Revolten ausbricht, wird für die Oberen unberechenbarer.

* Aus: junge welt, Samstag, 25. Januar 2014


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