Eigentum und Geopolitik
Die Europäische Union will ein Antimonopolverfahren gegen Gasprom einleiten. Worum geht es in diesem Streit?
Von Reinhard Lauterbach *
Paragraph 903 des Bürgerlichen Gesetzbuches definiert das Eigentum als Recht dessen, der es innehat: »Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder die Rechte Dritter entgegenstehen, mit dieser nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen«. Man mag darin eine Tautologie erkennen: Eigentum ist, womit ich in der beschriebenen Weise umgehen kann.
Nur ein überschaubares Häuflein unbelehrbarer Marxisten behauptet, dass mit dem Eigentum ein gesellschaftliches Erpressungsverhältnis zwischen denen, die haben, und denen, die nicht haben, konstituiert werde. Jedenfalls ist bisher nichts davon bekanntgeworden, dass die EU diese zentrale Bestimmung im Zivilrecht ihres Gründungsmitglieds BRD hätte anfechten wollen. Auch dass der Preis für dasselbe Produkt in Abhängigkeit vom Ort, wo sie auf den Markt kommt, variieren kann – etwa Wohnraum in München oder Vorpommern – , hat bisher unter dem Aspekt der Rechtsordnung niemanden in Brüssel gestört. Das Antimonopolverfahren, das die EU nun gegen den russischen Gasprom-Konzern einleiten will, bietet wenig andere Anhaltspunkte. Der Vorwurf lautet, Gasprom schließe als Eigentümer nicht nur der russischen Gasvorräte, sondern auch des zu deren Verteilung dienenden Leitungsnetzes »andere von jeder Einwirkung aus«. Der Konzern splitte seinen Absatzmarkt in nationale Sphären auf und verlange je nach Empfängerland unterschiedliche Preise.
Nun ist nicht zu bestreiten, dass es auf den ersten Blick nicht zu erklären ist, warum der Kubikmeter russisches Gas in Polen – wohin die Transportkosten aus geographischen Gründen niedriger sind – teurer sein soll als in Deutschland. Brüssel sieht darin, ganz im Schlepptau der politischen Rhetorik in Osteuropa, geopolitische Intrigen Moskaus; Russland wolle sein ehemaliges Vorfeld in Osteuropa mit der Hand am Gashahn zu politischem Wohlverhalten zwingen und nebenbei ein Sondergeschäftchen mit seinen ehemaligen Bündnispartnern machen.
Das enthält – wie jede gute Lüge – ein Körnchen Wahrheit. Die Gaspreise in Europa bestimmen sich nämlich in den einzelnen nationalen Märkten nicht nur nach den in Russland anfallenden Gestehungs- und Transportkosten sowie externen Faktoren wie dem Weltmarktpreis für Öl, sondern auch nach der spezifischen Konkurrenzsituation. Hat ein Land Möglichkeiten, sein Gas aus mehreren Quellen zu kaufen, sind der Preisgestaltung durch einen einzelnen Anbieter Grenzen gesetzt. Allerdings fällt es schwer, Gasprom dafür verantwortlich zu machen, dass zum Beispiel Polen seit 15 Jahren an einem Flüssiggasterminal baut und sich die Fertigstellung der Anlage in Świnoujście an der Ostsee von Jahr zu Jahr verzögert.
Natürlich kann man dafür das Wirken russischer Lobbyisten verantwortlich machen, und im Einzelfall mag das sogar zutreffen – aber die Sache ist doch etwas komplizierter. Der Betrieb eines Leitungssystems für Erdgas gehört zu den Bereichen, die die bürgerliche Volkswirtschaftslehre als »natürliche Monopole« bezeichnet. Das sind – grob gesagt – alle netzgestützten Branchen, von der Eisenbahn bis zu Strom- und Telefonleitungen, in denen sich historisch die Vorherrschaft eines einzelnen Anbieters durchgesetzt hat. In Europa wurden diese Netze in der Regel als allgemeine Produktionsvoraussetzungen staatlich betrieben.
Naturgegeben ist dabei an diesen Monopolen gar nichts. Es ist vielmehr so, dass sich wegen der hohen Anfangsinvestitionen und der fehlenden Möglichkeit, kurzfristig auf Marktschwankungen zu reagieren, der Aufbau miteinander konkurrierender Infrastrukturen für private Investoren nicht lohnt. Die Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten ist dazu kein Gegenargument: Privatisiert wurde zu letztlich willkürlichen Preisen eine existierende und aus öffentlichen Mitteln aufgebaute Infrastruktur, oder es wurden – Beispiel Mobilfunklizenzen – staatliche Hoheitsrechte zu Geld gemacht, die vorher mangels technischer Möglichkeiten ihrer Nutzung niemanden interessierten. Selbst wenn man annimmt, dass ein privater Investor ein paralleles Schienen- oder Leitungsnetz zu dem eines anderen Anbieters aufbaute, würde sich in dem Idealfall, dass sich der Markt gleichmäßig auf beide Anbieter aufteilt, die Auslastung des Netzes jedes einzelnen Investors zwangsläufig halbieren. Denn die Aufnahmefähigkeit des Marktes für das jeweilige Produkt wächst ja nicht dadurch, dass man zwei oder drei Leitungssysteme hat. Das ist der wesentliche Grund, warum all die Erdgas-Querverbindungen, von denen Brüssel seit Jahren redet, bisher in der Praxis nicht entstanden sind: es gibt keine Aussicht auf lohnende Geschäfte.
Zurück zum Streit zwischen der EU und Gasprom. Gasprom ist der Rechtsnachfolger eines Geschäftsbereichs des sowjetischen Ministeriums für Erdöl- und Gaswirtschaft (gasowaja promyschlennost), dem zu realsozialistischen Zeiten neben der Produktion auch die Verteilung des Rohstoffes übertragen war. Russland erbte damit ein »natürliches Monopol« im ehemals sozialistischen Teil Europas und macht damit das, was jeder Eigentümer macht: Geschäfte. Dass Gas (und Öl) für Russland wegen seiner Abhängigkeit vom Ressourcenexport Stoffe sind, an denen auch der Staatshaushalt hängt, ändert daran nichts. Sie sind, sobald sie Russland verlassen, Waren wie Autos oder Weintrauben. Zur Freiheit des Eigentümers gehört nun auch die Freiheit zu entscheiden, mit wem er aus Gründen, die er niemandem zu erläutern braucht, keine Geschäftsbeziehungen unterhalten will: etwa mit der Ukraine, die sich einen Namen als nur bedingt zahlungsfähiger und -williger Kunde gemacht hat.
Das aber darf in Brüsseler Lesart nur einer. Die EU griff tief in die Metaphernkiste, als sie ihr Projekt, eine Russland umgehende Gaspipeline zu bauen, nach Giuseppe Verdis Sklavenbefreiungsoper »Nabucco« nannte. Das Projekt starb eines wirtschaftlichen Todes, weil am östlichen Ende nicht genug Gas aus nichtrussischen Quellen zur Verfügung stand, um die Leitung zu füllen. Der Versuch Gasproms, sich durch den Bau von »South Stream« von dem unzuverlässigen Transitland Ukraine zu emanzipieren, wurde von Brüssel hintertrieben. Der Streit läuft damit jenseits aller marktwirtschaftlichen Rhetorik aus Brüssel darauf hinaus, dass es der EU nicht passt, einen wesentlichen Ausgangsstoff für ihre Volkswirtschaften unter Kontrolle eines Landes zu wissen, mit dem man sich aus politischen Gründen nicht mehr arrangieren will.
* Aus: junge Welt, Montag, 27. April 2015
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