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Verbriefte Hegemonie

Ein Triumph der Beharrlichkeit deutscher Europapolitik. Ab dem 1. November gilt ein neues Abstimmungsverfahren innerhalb des Europäischen Rats. Es begünstigt überproportional die Bundesrepublik

Von Andreas Wehr *

Am 1. November 2014 nimmt die neue Europäische Kommission ihre Arbeit auf. Wichtiger für die Zukunft der Union könnte aber ein anderes Ereignis dieses Tages werden. Es tritt nämlich zugleich ein neues Abstimmungsverfahren für den Europäischen Rat in Kraft. Der Rat ist für die europäische Gesetzgebung das wichtigste Organ, bedeutender als das Europäische Parlament. Er besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedsstaats auf Ministerebene und tagt je nach Zuständigkeitsbereich in zehn verschiedenen Formationen, etwa als Rat für Auswärtige Angelegenheiten, als Rat für Wirtschaft und Finanzen usw.

Für das Zustandekommen einer qualifizierten Mehrheit für den Erlass von Richtlinien und Verordnungen gelten bestimme Kriterien. Artikel 16 Absatz 4 des EU-Vertrags legt fest: »Ab dem 1. November 2014 gilt als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedsstaaten zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union ausmachen.« Dadurch verschieben sich die Gewichte in der EU erheblich, denn durch die Einführung des Kriteriums der Bevölkerungsgröße verlieren nicht weniger als 23 der 28 Mitgliedsländer an Einfluss in der Union. Relativ gewinnen die großen Staaten Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien und Rumänien dazu. Der eigentliche Gewinner ist aber das mit Abstand bevölkerungsreichste Land der Union: die Bundesrepublik Deutschland. Der 1. November 2014 ist denn auch für Berlin ein Tag der Genugtuung, ja des Triumphes der Beharrlichkeit und der Durchsetzungsfähigkeit deutscher Europapolitik. Seit der Einverleibung der DDR am 3. Oktober 1990 hatte man darauf hingearbeitet. Das Ziel ist nun erreicht, die Bundesrepublik erhält ein deutlich größeres Stimmengewicht in der EU. Mit dem deutschen Staat ist auch das hinter ihm stehende deutsche Kapital gestärkt worden. Wann immer künftig vom »deutschen Europa« gesprochen werden wird – hier findet sich die Grundlage dafür.

Frankreich erst widerständig, dann gefügig

Bei dem Verfahren der Entscheidungsfindung im Rat geht es um den Kern der Macht in der Europäischen Union. Kein Wunder also, dass seine Ausgestaltung von Beginn an umkämpft war. Ursprünglich waren die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften in drei Gruppen eingeteilt gewesen: In einem System gewichteter Stimmen erhielt ein großes Land vier Stimmen, zwei Stimmen ein mittleres und eine Stimme ein kleines. Mit den Erweiterungsrunden der achtziger und neunziger Jahren wurde die Formel der Stimmverteilung dann auf zehn bzw. fünf bzw. zwei abgeändert.

Ab 1990 drängte Berlin darauf, von diesem System der gewichteten Stimmen abzugehen und statt dessen die Bevölkerungsgrößen, die demographischen Verhältnisse, zugrunde zu legen. Die anderen EU-Mitglieder reagierten zunächst ablehnend auf diese Forderung. Erst im Dezember 2000 gelangte sie zusammen mit dem Verlangen nach einer Verkleinerung der Kommission und der Reform der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments auf die Tagesordnung des Ratsgipfels von Nizza. Zu seinem Ärger konnte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) damals aber nicht durchsetzen. In keiner einzigen Frage wurde ein Durchbruch erzielt. Frankreich beharrte auf der bisherigen Regelung und setzte zudem durch, auch künftig die gleiche Stimmenzahl wie Deutschland zu haben. Der französische Staatspräsident Jacques Chirac soll während der entscheidenden Nachtsitzung erregt ausgerufen haben, Frankreich habe nicht dreimal Krieg gegen Deutschland in einem Jahrhundert geführt, um nun auf die Parität in der Europäischen Union zu verzichten.

Das Scheitern des deutschen Versuchs, sich von Frankreich, aber auch von Großbritannien und Italien, die ebenfalls auf Erhalt der Parität bestanden, abzusetzen, ließ Berlin einen anderen Ansatz suchen. Man entwickelte die Idee, künftig über Änderungen der europäischen Verträge und damit auch über die Abstimmungsverfahren nicht mehr in Konferenzen der Staats- und Regierungschefs zu entscheiden, sondern diese Neuregelungen einem Konvent zu überantworten. Die Konventsidee verfing, da für sie von deutschen Medien und Lobbyorganisationen, wie der Bertelsmann-Stiftung, europaweit erfolgreich geworben wurde. Dem im Dezember 2001 zusammengerufenen »Europäischen Konvent« wurde die Aufgabe erteilt, eine Europäische Verfassung auszuarbeiten. Die Absicht dahinter war, die in Nizza nicht erreichte Änderung des Entscheidungsverfahrens, die Reform der Kommission und die Neuzusammensetzung des Parlaments, Fragen, die man als »Left-overs« von Nizza bezeichnete, im Rahmen des Verfassungsprozesses durchzusetzen. Im Konvent waren neben Repräsentanten der nationalen Parlamente Abgeordnete des Europäischen Parlaments sowie Mitglieder der Kommission vertreten. Die Beratungen dort wurden als für die Öffentlichkeit transparent und von der sogenannten Zivilgesellschaft beeinflussbar dargestellt. Doch sie waren alles andere als das, denn alle Entscheidungen wurden von einem geheim tagenden Präsidium getroffen und anschließend dem Konvent lediglich verkündet.[1]

Der eingeschlagene Weg war erfolgreich. Der im Juli 2003 vorgelegte »Entwurf einer Verfassung für Europa« ging für das Zustandekommen einer gestaltenden Mehrheit im Rat erstmals von den Bevölkerungsgrößen der Mitgliedsländer aus. Der auf dem Konventsentwurf beruhende Artikel 25 des »Vertrags über eine Verfassung für Europa« von 2003 wird nun wortgleich mehr als elf Jahre später durchgesetzt: »Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedsländern, sofern sie zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union ausmachen.«

Der Durchbruch war möglich geworden, weil sich die Pariser Position im Konvent grundlegend von der noch in Nizza eingenommenen unterschied. Anders als 2000 war Frankreich nun bereit, dem deutschen Drängen nachzugeben. Über die Gründe für diese Wende ist viel spekuliert worden. Ein Motiv war sicherlich das spezifisch französische Interesse an einer Stärkung des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs durch die Schaffung des Amtes eines Ratspräsidenten. Da man in Berlin daran wenig Gefallen fand, bot es sich an, diese Frage zusammen mit jener der Entscheidungsfindung im Rat zum Gegenstand eines Kompromisses zu machen. 2003 war aber auch die Zeit des deutsch-französischen Schulterschlusses in außenpolitischen Fragen. Beide Länder hatten sich den USA widersetzt, an ihrer Seite in den Krieg gegen den Irak zu ziehen. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hatte sie daraufhin zum »alten« und die folgsamen osteuropäischen Länder kurzerhand zum »neuen Europa« erklärt. Paris trieb daher die Sorge um, sich in der EU nach dem für 2004 vorgesehenen Beitritt der Staaten dieses »neuen Europas« in einer Minderheitenposition wiederzufinden. In dieser Situation pries Chirac das demographische Prinzip sogar als große Errungenschaft: »Mit der neuen Verfassung steige das gemeinsame Stimmengewicht von Frankreich und Deutschland im Europäischen Rat von rund 18 auf 30 Prozent«, zitierte die FAZ am 27. April 2005 den französischen Staatspräsidenten. Inzwischen hat sich das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland wieder abgekühlt. In der Euro-Krise zeigt sich, dass die französische Wirtschaft mit der des immer mächtiger werdenden Nachbarn nicht länger mithalten kann. Paris wäre daher heute wohl kaum mehr bereit, Berlin in der Frage der Verteilung der Macht in der EU noch einmal entgegenzukommen.

Blanker Euphemismus

Um das eigentliche Motiv der Reform, das imperialistische Streben nach Überlegenheit der großen Staaten, vor den Augen der Kritiker zu verhüllen, verfiel man auf einen semantischen Trick. Das Prinzip der demographischen Mehrheit wurde kurzerhand zur »Mehrheit der Bürger« verklärt. Vorgeblich übertrumpfen demnach nicht mehr die Regierungen der großen die der kleinen am Brüsseler Konferenztisch, sondern es stehen sich vermeintlich gleichberechtigt alle Bürgerinnen und Bürger gegenüber, und nur ganz zufällig profitieren davon die großen Mitgliedsstaaten. Welch ein Euphemismus! Es war der Präsident des Europäischen Konvents, Valéry Giscard d'Estaing, der als erster von dieser »Mehrheit der Bürger« sprach. Ihm zufolge müsse der »Kompromiss zwischen zwei Gleichheitsforderungen gefunden werden, die von Natur aus entgegengesetzt sind: die Gleichheit der Staaten und die Gleichheit der Bürger. Wie ein Europa nicht geschaffen werden kann, in dem die Rechte der einzelnen Staaten nicht anerkannt werden, so kann man sich auch kein Europa vorstellen, in dem das Dogma der Gleichheit zwischen den Staaten zu einer Situation der Ungleichheit zwischen den Bürgern führt.«[2] Und wer will schon »eine Ungleichheit zwischen den Bürgern«? Vor allem in der deutschen Öffentlichkeit kam dies gut an, konnte man sich doch damit des Vorwurfs erwehren, hier denke das mit Abstand größte Mitgliedsland der Union nur an die egoistische Stärkung seiner eigenen Macht. Was man in der EU aber unbedingt durchgesetzt sehen wollte, gilt hingegen noch lange nicht für das eigene Land. Im deutschen Bundesrat wird weiterhin nach einem System der Gewichtung abgestimmt. Und die Spreizung zwischen sechs Stimmen für die größten und drei Stimmen für die kleinsten Bundesländer ist hier sogar sehr gering. Nordrhein-Westfalen als größtes Bundesland hat mit 17,55 Millionen Einwohnern lediglich sechs Stimmen und Bremen mit nur 0,65 Millionen Einwohnern immerhin noch drei.

Die Bundeskabinett wähnte sich schon kurz vor dem Ziel, da wurde der Verfassungsvertrag bei Volksabstimmungen im Sommer 2005 abgelehnt, erst in Frankreich und kurz darauf in den Niederlanden. Nach einer kurzen Schockstarre und einer von den Regierungen ausgerufenen »Nachdenkpause«, mit der so getan werden sollte, als könne jeder über die Finalität der europäischen Integration noch einmal grundsätzlich neu reflektieren, erblickte bald darauf der Entwurf eines »Reformvertrags« das Licht der Welt. Bei seiner Lektüre war unschwer zu erkennen, dass er zu mehr als 95 Prozent identisch mit dem verworfenen Verfassungsvertrag war. Auch die Artikel zu den neuen Abstimmungsverfahren fanden sich wortgleich in ihm wieder – darauf hatte die deutsche Bundesregierung schon geachtet. Tatsächlich wurde in der damals in Berlin regierenden Koalition von CDU/CSU und SPD keinen Augenblick daran gedacht, den mit dem Verfassungsvertrag einmal errungenen Erfolg wieder aus der Hand zu geben. Und da fügte es sich gut, dass die BRD zu jener Zeit turnusgemäß den Vorsitz im Europäischen Rat innehatte. So konnte das Projekt vorangetrieben werden. Im Dezember 2007 wurde der nun Lissabonner Vertrag genannte Reformpakt von den Staats- und Regierungschefs der damals 27 Mitgliedsländer unterzeichnet, am 1. Dezember 2009 trat er in Kraft.

Zu Gunsten der großen vier

Was ändert sich nun nach dem 1. November 2014 konkret? Nach dem bisher geltenden System der gewichteten Stimmen waren die EU-Mitglieder in Gruppen eingeteilt, angefangen bei 29 Stimmen für die vier größten bis zu drei für das kleinste Mitgliedsland. So gab es bislang insgesamt 352 zu vergebende Stimmen. Für eine qualifizierte Mehrheit waren 260 von 352 Stimmen erforderlich, was 73,9 Prozent entsprach. Mit dem jetzt erforderlichen Kriterium einer unionsweit zu erreichenden Bevölkerungszahl von 65 Prozent verschieben sich die Machtverhältnisse unter den Staaten erheblich. Deutschland kann künftig seine Bevölkerungsstärke von knapp 82 Millionen Einwohnern voll zur Geltung bringen und setzt sich damit gegenüber Frankreich, Großbritannien und Italien ab, deren jeweilige Einwohnerzahl etwa zwischen 60 und 65 Millionen liegt. Die Vereinbarung von Nizza, nach der diese vier Länder mit jeweils 29 Stimmen und Anteilen von je 8,2 Prozent an den gewichteten Stimmen noch auf gleicher Höhe standen, gehört der Vergangenheit an. Der deutsche Anteil hat sich mit 16,1 Prozent nahezu verdoppelt. Für Frankreich steigt er lediglich auf 12,9 Prozent, für Großbritannien auf 12,4 und für Italien auf 12 Prozent. Noch deutlicher ist gegenüber der BRD die Zurückstufung Polens und Spaniens. Nach dem Vertrag von Nizza verfügten beide jeweils noch über 27 Stimmen und lagen daher mit einem Anteil von 7,7 Prozent an den gewichteten Stimmern dicht hinter den großen vier. Mit dem Lissabonner Vertrag steigt der Anteil Spaniens jetzt zwar auf 9,1 Prozent und der Polens geht nur leicht um 0,1 Prozent zurück. Doch die nach Nizza noch knappen Abstände gegenüber Deutschland und den übrigen großen drei haben sich erheblich vergrößert.

Die Zahlen zeigen, dass vor allem die kleinen und mittleren Mitgliedsländer erhebliche Einbußen hinnehmen müssen. So geht der Stimmenanteil Sloweniens fast um zwei Drittel zurück. Noch härter trifft es Estland, Zypern, Malta und Luxemburg, ihre Anteile reduzieren sich um 73, 82, 89 bzw. 91 Prozent. Aber auch die Stimmgewichte mittelgroßer Staaten verringern sich deutlich, etwa die von Österreich (minus 45 Prozent), Belgien (minus 35 Prozent), der Tschechischen Republik und Portugal (jeweils minus 38 Prozent).

Es wird oft darauf verwiesen, dass zwar die großen Staaten – und hier vor allem Deutschland – die Gewinner bei diesem neuen Verfahren sind, aber auch kleine Länder wie Malta, Luxemburg, Zypern, Lettland, Litauen, Slowenien und Estland davon profitieren würden. Begründet wird dies damit, dass ja alle Staaten bei der zweiten Bedingung für das Zustandekommen einer qualifizierten Mehrheit, beim Mitgliedsstaatenkriterium, dem Erfordernis »einer Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern«, gleichberechtigt über eine Stimme verfügen. Somit würden auch die kleinen eine gewisse Verhandlungsmacht behalten. Dagegen spricht aber, dass diese Länder sich schon bisher den europäischen Initiativen der großen Staaten, vor allem Deutschlands, in der Realität kaum entgegenstellen konnten, weil sie sich ökonomisch, politisch aber auch sicherheitspolitisch ihnen gegenüber in einer abhängigen Position befinden.

Hierarchisch strukturierte Union

Da in den Ratssitzungen häufig über den Erlass von Richtlinien und Verordnungen entschieden wird, wird das neue Verfahren für die tägliche Praxis der Union große Bedeutung haben. Aber auch wenn nicht abgestimmt wird, ist es von Relevanz, denn die Berechnung potentiell erreichbarer Mehrheiten steht bei allen Beratungen stets im Hintergrund. Mit der Ausweitung der Zahl der Abstimmungen mit qualifizierten Mehrheiten seit dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags ist das Verfahren noch wichtiger geworden. Mit Lissabon wurden 44 Entscheidungen der qualifizierten Mehrheit zugeführt, von denen bei 24 ehemals Einstimmigkeit vorgesehen war, etwa bei Maßnahmen im Bereich der Sicherheit und des Rechts, der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Zudem wurden mit dem Vertrag von 2007 in zwanzig weiteren Bereichen neue Rechtsgrundlagen geschaffen, etwa bei der Energieversorgung, beim Schutz des geistigen Eigentums, in der Raumfahrt und der humanitären Hilfe, wo ebenfalls mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt wird.

Es stellt sich die Frage, wie dieser deutsche Durchmarsch überhaupt möglich war. Weshalb hat es von den übrigen Mitgliedsstaaten so gut wie keine Gegenwehr gegen ihre eigene Entmachtung gegeben? Auf die Gründe für den Positionswechsel Frankreichs wurde bereits eingegangen. Zur Gleichgültigkeit in den übrigen großen Mitgliedsländern dürfte wohl beigetragen haben, dass sich ja auch die jeweils eigene Position verbessert hat, wenn auch bei weitem nicht in dem Maße wie die Deutschlands. Widerstand gab es lediglich in Polen, das, wie dargestellt, seine in Nizza errungene starke Stellung einbüßte. Warschau schlug deshalb alternativ zum beabsichtigten Prozedere das Quadratwurzelverfahren vor, was die unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen der Mitgliedsländer sehr viel gerechter wiedergegeben hätte. Doch diese Initiative wurde ignoriert. Die in Polen anschließend ausgegebene Parole »Nizza oder Tod« wurde von den Medien der übrigen Mitgliedsstaaten lediglich als nationalkonservative Schrulle abgetan. Auch die europäische Linke nahm die gravierenden Änderungen kommentarlos hin. Die Mitgliedsparteien der Europäischen Linken lehnten den Lissabonner Vertrag zwar aus vielerlei Gründen ab, um die mit ihm zugleich entschiedenen Machtfragen haben sie sich aber nie gekümmert.

Das neue Abstimmungsverfahren ist ein weiterer Schritt der EU weg von einer Gemeinschaft souveräner und gleichberechtigter Staaten hin zu einer hierarchisch strukturierten Union mit dem Hegemon Deutschland an der Spitze. Es ist Ausdruck eines sich, hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, erneut verschärfenden Konkurrenzkampfs imperialistischer Staaten auf dem Kontinent. So ist es gut möglich, dass der 1. November 2014 doch noch als ein wichtiger Tag in die europäische Geschichte eingehen wird.

Anmerkungen
  1. Vgl. zur Arbeitsweise des Konvents: Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen, PapyRossa Verlag Köln 2004, S. 22–38.
  2. Valéry Giscard d'Estaing, Guiliano Amato, Jean-Luc Dehaene: Die Papiere des Europäischen Konvents, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. November 2003.

* Aus: junge Welt, Samstag, 1. November 2014


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