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Um der Freiheit willen

Laudatio zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises an Noam Chomsky

Im Folgenden dokumentieren wir die Laudatio, die Michael Schiffmann zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg an Noam Chomsky am 23. Mai 2004 gehalten hat. Schiffmann hat verschiedene Chomsky-Bücher ins Deutsche übersetzt. Zuletzt ist von ihm im Freiburger Verlag Orange Press eine Biographie über Chomsky unter dem Titel "absolute Noam Chomsky" erschienen (genauere Angaben hierzu auf unserer Literaturseite).


Von Michael Schiffmann

Lieber Noam Chomsky, liebe Anwesende,

die Länge der Reden bei Festakten wie diesem entspricht leider oft der Bedeutung des Anlasses. Ich möchte Sie daher gleich eingangs mit einem Zitat des russischen Dichters und Dissidenten Andrzej Sinjawski beruhigen: »Ich werde ohne Umschweife sprechen, denn das Leben ist kurz.« Einige der Verleger der deutschen Werke von und über Chomsky sind dankenswerterweise mit ihren Büchern hier anwesend, und so besteht kein Mangel an Gelegenheit, sich umfassender zu informieren.

Wie Sie vielleicht wissen, war Chomsky, der heute für sein Lebenswerk als politischer Analytiker und Medienkritiker ausgezeichnet wird, vor dieser, seiner zweiten »Karriere« bereits als Sprachwissenschaftler zu Weltruhm gelangt. Mit seiner generativen Transformationsgrammatik hat er nicht nur die Linguistik revolutioniert, sondern auch der modernen Kognitionswissenschaft ganz neue Wege und Möglichkeiten aufgezeigt. Chomskys wissenschaftliches Werk geht der Frage nach, die der große englische Philosoph Bertrand Russell in seinem Spätwerk stellte: »Wie kommt es, daß die Menschen, deren Kontakte mit der Welt so kurz und persönlich und beschränkt sind, in der Lage sind, so viel zu wissen, wie sie es tatsächlich tun?«

Chomskys wissenschaftliche Beiträge können hier nicht einmal grob umrissen werden; hier muß die Bemerkung genügen, daß sie es sind, die ihm die Anerkennung des offiziellen Amerika eingetragen haben, und keineswegs das Lebenswerk, für das er heute geehrt wird. Mit seinen nunmehr über vierzig Jahren politischer Arbeit und Kritik verhält es sich genau umgekehrt; sie stellen den klassischen Fall des Propheten dar, der im eigenen Land nichts gilt.

So hat die führende Zeitung der USA und vielleicht der Welt, die New York Times, Chomsky als einen »auf beunruhigende Art gespaltenen« Intellektuellen bezeichnet. Er sei vermutlich der bedeutendste lebende Intellektuelle der Welt, hieß es da, und seine wissenschaftlichen und philosophischen, dem gewöhnlichen Publikum kaum begreiflich zu machenden Beiträge seien brillant. Um so verstörender sei es jedoch, daß »auf der anderen Seite eine ebenso reichhaltige Sammlung politischer Schriften« stehe, »die von jedem, der des Lesens mächtig ist, verstanden werden können, aber oftmals höchst ärgerliche Vereinfachungen bieten. Das ›Chomsky-Problem‹ besteht darin, zu erklären, wie diese beiden Seiten zueinander passen.«

Schlüsselerlebnis Vietnamkrieg

Der Schlüssel zu besagtem »Chomsky-Problem« ist indes gar nicht so schwer zu finden. »Right or wrong, my country« ist die Eintrittskarte zur offiziellen Kultur der USA und nicht weniger anderer Länder, aber gerade diese Devise weist Chomsky im Gegensatz zur New York Times und den großen Medien in den USA entschieden von sich. In einer seiner ersten politischen Schriften, dem Mitte der sechziger Jahre erschienenen Essay »Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen«, schrieb Chomsky: »Es ist die Verantwortung des Intellektuellen, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken.« Und manchmal ist die Wahrheit eben erschreckend »einfach«.

Chomsky, seit früher Jugend Anhänger libertärer und anarchistischer Ideale, war schon als Schüler und junger Student einige Jahre lang in der auf jüdisch-arabische Verständigung gerichteten linkszionistischen Bewegung tätig, aber es war der amerikanische Vietnamkrieg, in dessen Verlauf mehrere Millionen Menschen in Indochina und 58 000 junge Amerikaner starben, der ihn in den Strudel des politischen Aktivismus riß. Die Realität dieses Krieges, in dem ein kleines Bauernland auf der anderen Hälfte der Erdkugel unter den Schlägen der mächtigsten Militärmaschine, die die Welt je gesehen hatte, buchstäblich zugrunde ging, stellte Chomsky seiner eigenen Auskunft zufolge vor die Wahl, ob er mit seinen politischen Vorstellungen ernst machen oder sie als angenehmes Beiwerk zur Gewissensberuhigung behandeln wollte. Rückblickend hat er dann sogar gesagt, der Beginn seines offenen Widerstandes gegen diesen Krieg sei »viel zu spät« gekommen, nämlich »nachdem die USA Südvietnam angegriffen hatten, in einer Aggression, die wir ethnische Säuberung nennen, wenn andere Vergleichbares tun«.

Wie die US-Armee vorging, um die gegen ein korruptes Terrorregime kämpfenden Guerillas zu zerschlagen, die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurden und sich daher in dieser wie der sprichwörtliche »Fisch im Wasser« bewegten, kommt anschaulich im Bericht eines US-Piloten zum Ausdruck, den Chomsky in seinen Vorlesungen zu Ehren Bertrand Russells »Über Erkenntnis und Freiheit« zitiert: »Da unten hat man ganz schön solide Vietconggebiete, wo man von jedem annehmen kann, daß er ein Feind ist. Wissen Sie, die Schwadron, die vor uns in Vietnam stationiert war, bestand aus ganz schön wilden Burschen. Ein Hubschrauber flog voraus, und wenn die Leute losrannten, beharkte sie das zweite Flugzeug.« Wie sich die Bilder gleichen können, auch über einen Zeitraum von vierzig Jahren hinweg und über eine Entfernung, die so groß ist wie die zwischen Vietnam und dem Irak. Die zwischen diesen Bildern liegenden Ereignisse haben Chomsky leider keinen Anlaß geboten, seine politischen Aktivitäten wieder ad acta zu legen oder auch nur in ihnen nachzulassen.

Eingreifendes Denken

So hat er Anfang der sechziger Jahre eine Entscheidung getroffen, die den Verzicht auf vieles erforderte, was ihm wichtig war: auf einen Teil seines Familienlebens, auf Lehr- und Forschungsinteressen und auf das aktive Verfolgen vieler wissenschaftlicher Gebiete im weiteren Umkreis der Linguistik. »Ich war mir sehr wohl darüber im klaren, was das bedeutete«, hat er darüber später gesagt. »Es ging nicht darum, gelegentlich einen Fuß ins Wasser zu setzen, dabei naß zu werden und sich davon zu machen. Man wird immer tiefer und tiefer hineingezogen. Und ich wußte, ich würde dabei Privilegien und Autoritäten angreifen«, mit all den Konsequenzen, die dies haben würde. Aber es nicht zu tun, »wäre hoffnungslos unmoralisch gewesen«.

Für Chomsky begann damit ein Leben, das er folgendermaßen beschreibt: »Das waren ziemlich hektische Zeiten. Ich hielt oft verschiedene politische Reden pro Tag an unterschiedlichen Orten, wurde verhaftet, ging zu Treffen über gewaltfreien Widerstand und andere Themen, unterrichtete meine Klassen, spielte mit meinen Kindern und so weiter. Rückblickend kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie all das möglich war.« Es ist demjenigen, das er auch heute noch führt, gar nicht so unähnlich, außer daß er – denken wir an Charles de Gaulles Ausspruch über Sartre: »Voltaire verhaftet man nicht!« – heute seltener festgenommen wird und inzwischen nicht mehr mit seinen Kindern, sondern mit seinen Enkelkindern spielt.

In seinen Vorträgen, Essays und Büchern aus dieser Zeit hat Chomsky sich unermüdlich bemüht, die institutionellen Grundlagen grausamer Vorgehensweisen wie derjenigen der USA in Indochina freizulegen. Und genau diese Analysen sind es, die von Zeitungen wie der New York Times und anderen Medien, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa bis heute als so »höchst ärgerliche Vereinfachung« abgetan werden. Ironischerweise belegt Chomsky dort etwas, was heute, in den Zeiten der neoliberalen Globalisierung und der allseits propagierten Notwendigkeit der möglichst ungehemmten Herrschaft der Großkonzerne längst als alter Hut und nicht mehr zu beweisende Wahrheit gilt: Die Staaten des Westens werden keineswegs, wie es ihr ideologischer Anspruch ist, demokratisch von ihrer Bevölkerung regiert, sondern stehen im Dienst gewaltiger Konzentrationen wirtschaftlicher Macht, die imstande sind, die staatliche Politik in ihrem eigenen Interesse auszuarbeiten und zu lenken.

Kapitalismus und Krieg

Wenn Chomsky, wie er es oft getan hat, die Staatskritik freiheitlicher und libertärer Geister wie Jean-Jacques Rousseau, Wilhelm von Humboldt und anderer zitiert, ist für die heutige Zeit also zugleich diese hinter den Staaten stehende, noch stärker konzentrierte Macht des Kapitals gemeint. Es ist in diesem Sinn zu verstehen, wenn Chomsky seinem noch während der Indochinakriege der USA erschienenen Buch »For Reasons of State« das Zitat des Anarchisten Michail Bakunin voranstellt: »Es gibt keinen Schrecken, keine Grausamkeit, kein Sakrileg und keinen Meineid, keinen Betrug, keine Niedertracht, keinen zynischen Raub, keine freche Plünderung und keinen schäbigen Verrat, der noch nicht von den Vertretern der Staaten begangen wurde oder täglich begangen wird, unter keinem anderen Vorwand als jenen dehnbaren Worten, die so bequem sind und doch so schrecklich: ›aus Staatsraison‹.«

Eine solche Kritik staatlicher, heute im Dienste des Kapitals stehender Machtpolitik, darunter vor allem der Politik seines eigenen Staates, den USA, könnte propagandistisch und plakativ erscheinen, hätte Chomsky sie nicht in Tausenden von Vorträgen und Essays und mehreren Dutzend politischer Bücher mit akribischer Dokumentation belegt. Dabei hat er so unterschiedliche Themen und Konflikte behandelt wie die Mittelamerikapolitik der USA, den Israel/Palästinakonflikt, den indonesischen Völkermord in Osttimor, die mörderische Politik der Türkei in ihren kurdischen Gebieten, den völkerrechtswidrigen NATO-Angriff auf Jugoslawien und die Kriegspolitik der Bush-II-Regierung vor und nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Den moralischen Imperativ, der ihn dabei antreibt, hat er 1985 in seinem Buch »Vom politischen Gebrauch der Waffen« klar dargelegt: Wer mit einem moralischen Anspruch politisch aktiv wird, sollte sich dabei auf das konzentrieren, was er oder sie tatsächlich verändern kann. Und das ist sowohl in den USA als auch in den anderen westlichen industriellen Demokratien überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, die Politik des eigenen Staates. »Wenn wir den Dingen ehrlich nachgehen, ... zeigt sich, daß unsere Rolle bei der Verewigung von Elend und Unterdrückung, sogar von barbarischer Folter und von Massenmord, nicht nur ein bedeutendes Ausmaß erreicht hat, sondern auch eine vorhersagbare und systematische Folge geopolitischer Konzepte und institutioneller Strukturen ist. Man kann nicht in jedem Fall das genaue Ausmaß unserer Verantwortlichkeit angeben; aber gleich, ob wir unseren Anteil mit 90, 40 oder zwei Prozent beziffern, es gibt diesen Faktor, der uns vor allem deshalb betroffen machen sollte, weil wir ihn unmittelbar beeinflussen können.«

Um auf das »Chomsky-Problem« der New York Times zurückzukommen: Noam Chomsky hat in der Tat vielfach sinngemäß und manchmal auch wörtlich geäußert, seine politische Theorie, sofern überhaupt davon die Rede sein könne, passe auf die Rückseite einer Briefmarke. Wie ein Großteil der Bevölkerung geht auch Chomsky, sozusagen als Nullhypothese, davon aus, daß Machteliten in der Regel im eigenen Interesse handeln, daß die größten Machtkonzentrationen der heutigen Welt in den transnationalen Konzernen zu finden sind und daß diese nicht hehren Zielen wie Demokratie und Menschenrechten verpflichtet sind, sondern der Maximierung ihres Gewinns. Dazu bedarf es seiner Ansicht nach in der Tat keiner esoterischen oder postmodernen Theoriekonstrukte, sondern nur eines vorurteilsfreien Blicks auf die Realität, der jedermann zugänglich ist. Den Kult des Expertentums, der bei Intellektuellen, sei es im Medienbereich oder in den Sozialwissenschaften, aus nur zu durchsichtigen Gründen so beliebt ist, hat Chomsky immer kategorisch abgelehnt. Die Wissenschaft taugt für ihn nur zur Erforschung relativ simpler Probleme und stößt bei komplexen Themen wie etwa der menschlichen Gesellschaft und ihrer möglichen Zukunft rasch an ihre Grenzen. Gerade als Wissenschaftler vertritt Chomsky daher die Auffassung, die eigentlich für jeden überzeugten Demokraten eine Selbstverständlichkeit sein sollte, daß Intellektuelle oder Spezialisten zu den grundlegenden Fragen von sozialem und politischem Interesse keineswegs einen privilegierten Zugang haben: »Jeder, der an solchen Fragen interessiert ist, kann etwas über sie herausfinden und sie verstehen, zumindest so weit, wie es nötig ist, um sich innerhalb von Strukturen, wo man Entscheidungen treffen kann, die für einen selbst wichtig sind, vernünftig zu verhalten.«

Medienkritik

Und selbstverständlich hat die zitierte New-York-Times-Bemerkung über Chomskys angebliche Vereinfachungen, die im übrigen auch in den derzeitigen europäischen Pressekommentaren zu seinem Werk ein starkes Echo findet, noch einen weiteren Hintergrund nämlich Chomskys Kritik an eben diesen Medien. Die Tätigkeit der Medien in den westlichen Demokratien wirft für ihn eine Frage auf, die derjenigen, die ihn in der Linguistik beschäftigt, genau entgegengesetzt ist: »Wie kommt es, daß wir, obwohl uns doch eine so überwältigende Fülle von Fakten zur Verfügung steht, so wenig über unsere politische und soziale Welt wissen?« Auch hier sind Chomskys Aussagen, die er in etlichen, teilweise mit dem Wirtschaftsprofessor Edward Herman zusammen verfaßten Büchern untermauert hat, gerade für die Vertreter der Medien ärgerlich einfach. In einem Vortrag 1992 in Zürich hat er Mark Twain, der übrigens ein früher und radikaler Gegner der amerikanischen imperialen Bestrebungen war, mit den Worten paraphrasiert: »The genius of the American political system is that the people has the right of free speech and the good sense not to use it.« – Der Trick am amerikanischen politischen System ist, daß die Bevölkerung Meinungsfreiheit genießt, aber wohlerzogen genug ist, keinen Gebrauch davon zu machen. Wie kommt das? Edward Herman hat zu dieser Frage kürzlich ein prägnantes Zitat von Joseph Pulitzer dem Stifter des berühmten Preises für Journalismus angeführt, der im Jahr 1904 schrieb: »Eine zynische, gekaufte und demagogische Presse wird über kurz oder lang eine Bevölkerung erzeugen, die ebenso niederträchtig ist wie sie selbst.«

Das ist sicher eine besonders krasse Formulierung, aber heute, genau hundert Jahre später, ist noch viel klarer als damals, daß die großen Medien eben nicht einfach neutrale Institutionen sind, sondern auch große Kapitalgesellschaften, die über den Anzeigen- und Werbungsmarkt ihrerseits von anderen Großkonzernen abhängig sind. Mit anderen Worten, sie sind selbst Bestandteil der die Gesellschaft beherrschenden Machtelite, und es wäre überraschend, wenn der Output, den sie erzeugen, in gravierender Weise gegen die Interessen dieser Machtelite verstieße, statt vorsorglich diesen Interessen entsprechend gefiltert zu werden. Damit liegt zugleich auf der Hand, warum die Diskussion dieser These solchen Widerwillen und den regelmäßigen, im Prinzip richtigen, aber inhaltsleeren Hinweis auslöst, die Dinge seien doch »wesentlich komplexer«.

Chomskys Kritik an den Verhältnissen in den USA und den westlichen industriellen Demokratien richtet sich also gegen die demokratiefeindliche Konzentration gesellschaftlicher Macht, sei es in einem autoritären Staat, sei es in Großkonzernen. In jenem Sonderfall großer Kapitalgesellschaften, dem er immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, nämlich den Medien, zielt seine Kritik auf das ab, was er als »intellektuelle Selbstverteidigung« bezeichnet hat, nämlich den Versuch, zu verhindern, daß konzerngelenkte Medien das Bewußtsein der Bevölkerung nach ihrem Bilde formen, wie Pulitzer es vor hundert Jahren befürchtet hat.

Infragestellung von Herrschaft

Ich möchte nun am Ende meinerseits die Frage nach dem »Chomsky-Problem« aufwerfen, die Frage nach der Verbindung zwischen dem Wissenschaftler Chomsky und dem verantwortungsbewußten Intellektuellen und sozialen Aktivisten Chomsky. Wir können sie im Konzept der menschlichen Natur sehen, das Chomsky mit dem deutschen Sprachwissenschaftler der Romantik Wilhelm von Humboldt teilt. Nach Ansicht beider ist Sprache »ein Prozeß der freien Kreation«, der dem Menschen den »unendlichen Gebrauch endlicher Mittel« erlaubt. Die menschliche Natur generell charakterisiert von Humboldt mit den Worten: »Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßlichste Bedingung.« Es wäre verführerisch, hier mit den konkreten und immer noch aktuellen Ideen von Humboldts zur Ausgestaltung dieser Freiheit fortzufahren, aber nicht er ist es, der heute hier geehrt wird, und daher gebe ich noch einmal Noam Chomsky das Wort, bevor er nachher selbst sprechen wird: »Es ist meines Erachtens vollkommen richtig, in jedem Aspekt des Lebens die jeweiligen autoritären, hierarchischen und herrschaftsbestimmten Strukturen ausfindig zu machen und klar zu umreißen, und dann zu fragen, ob sie notwendig sind; wenn es keine spezielle Rechtfertigung für sie gibt, sind sie illegitim und sollten beseitigt werden, um den Spielraum der menschlichen Freiheit zu erweitern. ... Natürlich werden damit mächtige Institutionen, die Zwang und Kontrolle ausüben, in Frage gestellt: der Staat, die keiner Rechenschaftspflicht unterliegenden privaten Tyranneien, die den größten Teil der einheimischen und internationalen Wirtschaft kontrollieren und andere, ähnliche Institutionen.«

Ich glaube, in den zwanzig Minuten, die ich jetzt gesprochen habe, ist bereits deutlich geworden, daß Chomskys Werk nicht nur enorm umfangreich, sondern auch qualitativ sehr vielfältig ist. Dies ist in so hohem Maß der Fall, daß dem Vernehmen nach zeitweise das Gerücht in Umlauf war, es müsse mindestens zwei Chomskys geben, z.B. einen, der politisch arbeitet und einen, der Linguistik treibt. Da ich Chomsky inzwischen schon mehrmals getroffen und mit ihm über eine Reihe verschiedener Dinge gesprochen und korrespondiert habe, kann ich Ihnen jedoch versichern, daß Sie den richtigen Mann vor sich haben und kein Double, und daß er all die Dinge, die ihm heute abend angelastet werden, tatsächlich getan hat, und noch einige mehr.

Als jemand, der Noam Chomskys Tätigkeit seit langem verfolgt hat, hoffe ich, daß ihm dafür noch viele weitere Jahre bleiben, und ich hoffe, daß die heutige Feier uns nicht zum Prominentenkult mißrät, sondern daß seine Botschaft und sein Beispiel bei uns allen ankommen: Es ist möglich, für jeden von uns, am Abbau ungerechter Machtstrukturen und an der Erweiterung der Freiheit zu arbeiten, indem wir die Wahrheit sagen, Lügen aufdecken und die Losung aus den bewegten Tagen der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg in die Tat umsetzen: »Wenn euch die Nachrichten nicht gefallen, dann tut etwas und sorgt dafür, daß es andere gibt!«

* Die Laudatio von Michael Schiffmann wurde in der Tageszeitung "junge Welt" vom 24. Mai 2004 veröffentlicht. Unsere Wiedergabe folgt dem Text in der jungen Welt.

Zur Preisverleihung siehe auch:
Noam Chomsky: Den Kampf weiterführen
Rede zur Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg (28. Mai 2004)
Carl-von-Ossietzky-Preis 2004 an Noam Chomsky verliehen
Oldenburg zeichnet politischen Publizisten und bedeutenden Sprachwissenschaftler aus (23. Mai 2004)


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