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Europäische Verfassung rüstet auf

Eine breite Diskussion über die EU-Verfassung ist dringend nötig

Von Elke Zwinge-Makamizile und Ulrich Thöne*

Die GEW BERLIN hat auf ihrer letzten LDV einen Antrag angenommen und darin auf zwei wesentliche Punkte im Zusammenhang mit der Europäischen Verfassung hingewiesen: In Artikel 40 Abs. 3 ist vorgesehen: "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Weiterhin werden in dem Verfassungsentwurf die präventiven Strategien zu einer zivilen Konfliktlösung vernachlässigt.

Diese Verpflichtung zur Aufrüstung ist eine noch nie da gewesene Formulierung innerhalb der internationalen Rechtswerke seit dem Zweiten Weltkrieg. Denn bislang war die Sicherung des Weltfriedens die bestimmende Grundlage in der Weiterentwicklung des internationalen Rechts.

Nach den unfassbaren Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts und mit dem Wissen um die abgrundtiefe Schuld der Täter (gemeint sind die Ausführenden als auch die Drahtzieher und ökonomischen Nutznießer des Grauens) erfolgte die Gründung der UNO. Ihre Charta wie auch die wenig später verabschiedete Erklärung der Menschenrechte drückten den Geist eines humanistischen, antifaschistischen Rechtsverständnisses aus mit dem Wunsch, nie wieder Krieg und Faschismus zuzulassen.

Ein solch rechtlicher und ethischer Meilenstein wurde vielleicht sogar noch übertroffen mit der Verabschiedung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Zusammen mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte entstand dieser Pakt aus dem erfolgreichen Kampf der Befreiungsbewegungen in den afrikanischen Ländern und dem Sieg über die Jahrhunderte dauernde Kolonisierung. Ihren Ausdruck fand das Bewusstsein von der unrechtmäßigen Kolonisierung und Besatzung der Entwicklungsländer in Artikel 1 des genannten "Sozialpaktes": "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. ...Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen ..."

1990 wurden dann in der Pariser Charta die OSZE-Staaten dazu verpflichtet, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates zu enthalten. Auch unser Grundgesetz stellt in Artikel 26 die Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges unter Strafe.

Auf eine adäquate Weiterentwicklung einer Weltfriedensordnung wurde verzichtet. Es gab weder eine ernstzunehmende Initiative und schon gar keinen Beschluss der UNO, eine Intervention dann für zwingend zu erklären, wenn ein Land eklatant gegen die Menschenrechte verstößt. Stattdessen sind wir heute in erschreckender Weise an dem Punkt angekommen, feststellen zu müssen, dass uns kein Menschenrecht, kein Völkerrecht, keine nationale Gesetzgebung vor den Angriffskriegen seitens der NATO im Falle Jugoslawiens und Afghanistans sowie seitens der USA und Großbritanniens gegen den Irak hat bewahren können. Nicht der Widerstand des übergroßen Teils der europäischen Bevölkerung und sogar der Bevölkerung der USA haben den Irak-Krieg verhindern können.

Dennoch werden Organisationen der Friedensbewegung, Teile der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen ihren Widerstand gegen Krieg und Besatzung weiter formulieren. Die Menschen in aller Welt klagen die Rechtswidrigkeit von Angriffskriegen an, vermitteln eine Vorstellung von menschlichem Leid und wissen um die ungeheure Verschleuderung von Reichtum und Steuergeldern für Kriege und Aufrüstung in einer Welt der atomaren Waffen. Diese weltweite Bewegung ist der entscheidende Ausgangspunkt für eine friedliche Zukunft.

Wie verortet sich der Europäische Verfassungsentwurf in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung?

Verloren gegangen sind in ihm die Anbindung an die UN-Charta mit ihrer Ächtung von Angriffskriegen, verloren gegangen ist die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, verloren gegangen ist ebenfalls das Verbot der Herstellung und Verbreitung von Atomwaffen. Stattdessen hereingenommen wurde die Verpflichtung zur Aufrüstung, die Schaffung einer Rüstungsagentur im Dienste von Rüstungsunternehmen sowie der Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb.

Es ist erstaunlich, mit welcher Dreistigkeit die Propagierung der neoliberalen Wirtschaftsordnung erfolgt. Die Hereinnahme der Grundrechte-Charta in den Verfassungsentwurf fungiert als ein bescheidenes Feigenblatt. Keine ernsthafte, rechtlich verbindliche Formulierung in der Verfassung wendet sich gegen Krieg und Armut. Im Gegenteil: Das freie Spiel der Kräfte des Marktes wird festgeschrieben. Die Entscheidungsgewalt wird der kleinen Lobby-Gruppe des Ministerrates übertragen, statt sie ins Europa-Parlament zu geben.

In allen führenden kapitalistischen Ländern stellen wir eine zunehmende Kluft zwischen den Entscheidungen der Politiker und den Interessen einer breiten Bevölkerungsmehrheit fest. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer mehr.

Wir sollen nun durch einen Verfassungsauftrag dazu angehalten werden, bei der Kürzung der Arbeitslosenhilfe mitzumachen, das Rentenniveau zu senken, Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit zu streichen, den Ausbau von Schulen zu behindern und in den Universitäten zu kürzen, damit genügend Mittel zur Verfügung stehen, um Kampfhubschrauber, Eurofighter, Militärairbusse, Korvetten und Fregatten kaufen zu können. Wir können uns mit einer solchen Vorstellung nicht abfinden.

Das vorläufige Scheitern des Verfassungsentwurfs schafft leider deren Intention nicht aus der Welt. Sie wird weiter verfolgt insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Allein mit den sicherheitspolitischen Richtlinien der Bundesregierung bleibt die deutsche Politik ganz im Fahrwasser einer Militarisierung Europas und den Möglichkeiten präventiver Intervention.

Die neoliberalen Mechanismen, einmal rechtlich abgesichert, materialisieren sich ganz geschmeidig in Sozialabbau, Aufrüstung und Abbau von Bürgerrechten. Auch die unselige Heraufbeschwörung der Gefahr des Terrorismus in der Verfassung kann leicht dazu missbraucht werden, dass mit unprüfbaren oder sogar falschen Behauptungen der Abbau von Bürgerrechten legitimiert wird. Wir haben in den letzten fünf Jahren zu oft Lügen gehört, die zur Rechtfertigung aggressiver Maßnahmen genutzt wurden.

Wir brauchen eine breite Diskussion um die Europäische Verfassung. Die Bevölkerung muss gehört, die Verfassung muss aus der Diskussion mit ihr entstehen: Damit eine Verfassung entwickelt wird, die im Geiste eines friedlichen, von Armut freien, kulturell reichen und umweltbewussten Europas geschrieben wird.

Auf der Seite des Friedensratschlages www.friedensratschlag.de sind Informationen und Dokumente zum Thema Europäische Verfassung zu finden.

* Elke Zwinge-Makamizile, Berlin, "Achse des Friedens", Bundesausschuss Friedensratschlag; Ulrich Thöne, GEW-Landesvorsitzender Berlin;
beide Autoren arbeiten in der AG Frieden des Landesverbands Berlin der GEW-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Der Beitrag erschien in der blz-die Zeitschrift der GEW BERLIN, Nr. 3-4/2004



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