Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Selektive Anwendung

Wolfgang Kaleck stellte in Berlin sein Buch zum Völkerstrafrecht vor

Von Arnold Schölzel *

Zehn Jahre nach seiner Gründung fällte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Amsterdam am Mittwoch sein erstes Urteil und befand den 51jährigen Angeklagten Thomas Lubanga für schuldig. Er soll zwischen 2002 und 2003 als Milizenführer im Osten der Demokratischen Republik Kongo Kindersoldaten zwangsrekrutiert und Kriegsverbrechen begangen haben. Am Donnerstag kündigte Chefankläger Luis Moreno-Ocampo an, er wolle für Lubanga eine Haftstrafe »nahe an der Höchststrafe« von 30 Jahren beantragen.

Für Mittwoch abend hatten der Verlag Klaus Wagenbach und das »European Center for Constitutional and Human Rights – Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte« (ECCHR) in Berlin zur Vorstellung eines Buches von Rechtsanwalt und ECCHR-Leiter Wolfgang Kaleck eingeladen, das sich u. a. mit dem IStGH kritisch auseinandersetzt: »Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht.« Der Band enthält eine Skizze der historischen Entwicklung des Völkerstrafrechts seit den Nürnberger und Tokioter Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg. Eingangs schreibt der Autor, es gehe »um eine der größten Schwächen des Völkerstrafrechts: daß es politisch selektiv und überwiegend gegen schwache, gefallene und besiegte Potentaten und Generäle angewandt wird«. Und weiter: »Die Rede ist davon, daß vor dem seit 1. Juli 2002 tätigen IStGH in Den Haag bislang nur afrikanische Tatverdächtige erscheinen mußten, obwohl in den letzten zehn Jahren an vielen Orten der Welt Menschenrechtsverletzungen begangen wurden.« Mit Ermittlungen gegen die Regierung Ghaddafi sei der UN-Sicherheitsrat 2011 fix gewesen, im Fall des Gaza-Krieges von 2009 gebe es keine. Es schien Zufall und zugleich keiner zu sein, daß der Abend (mit mehr als 70 Interessierten) am Tag des ersten Haager Urteilsspruchs stattfand.

Kaleck stellte in seinen einleitenden Ausführungen das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit des Völkerstrafrechts, von Normsetzung und Rechtspraxis in den Mittelpunkt. Es sei »horizontal« und »vertikal selektiv«: Gegen bestimmte Regierungen werde nicht ermittelt wie auch zumeist nicht gegen höhere Ränge, die z. B. das »weltweite Foltersystem der CIA« geplant und organisiert hatten. Beispiel: Der Fall des deutschen Staatsbürgers Khaled el Masri, der 2004 nach Afghanistan entführt und gefoltert worden war. Die deutsche Justiz ermittelte lediglich gegen 13 CIA-Angehörige, aber nicht gegen deren Chefs, und bemühte sich auch nicht, die Verdächtigen in die Bundesrepublik zu holen. Die hiesigen Behörden kommen, so Kaleck, den selbstauferlegten Pflichten nicht nach. Das Problem aus seiner Sicht: Völkerrechtsstandards werden solange beachtet, wie sie eigenen Interessen dienen. Der Autor prophezeite, daß sich das andere, insbesondere die Schwellenländer, »nicht mehr lange bieten lassen«. Aus ihrer Sicht werde dieser selektive Umgang bereits 200 Jahre lang praktiziert. Kaleck betonte, er setze sich bewußt von Theoretikern wie Carl Schmitt oder Henry Kissinger ab, die als »Realisten« die jeweilige politische Macht über dem Recht sähen, aber auch von »zynischen Linken«, die der Devise folgten: »Rechtliche Mittel einzusetzen hat keinen Zweck«. Eine Strafanzeige – er führte eine von ihm in Argentinien gegen Mercedes-Benz wegen dessen Verflechtung in die Militärdiktatur angestrengte an – könne Beginn einer strafrechtlichen Aufarbeitung und einer gesellschaftlichen Debatte werden.

Sein Gesprächspartner am Podiums­tisch, der Rechtswissenschaftler Florian Jeßberger, stellte solch relativen Erfolg heraus. Kalecks Buch sei klüger als der Titel suggeriere, denn es prangere nicht nur an, sondern halte auch fest: Mit dem Völkerstrafrecht ist ein Referenzrahmen gesetzt, auf den sich Kläger beziehen können. Allerdings sei, räumte Jeßberger ein, auch ein »strategisches Scheitern« möglich.

Kaleck drückte das in seiner Replik drastischer aus: »Das Völkerstrafrecht sei ›noch‹ nicht delegitimiert.« Allerdings sei die Behandlung des Falls der mehr als 100 Toten in Kundus bei der Bombardierung auf deutschen Befehl im September 2009 »ein Hammer« – keine Ermittlungen, keine Zeugenanhörungen etc., »noch viel schlimmer als von außen wahrnehmbar«. Kalecks Resümee: Sei die Situation auch in zehn Jahren noch so, »dann stelle ich meine Tätigkeit ein«. So klärte der Abend manches, ermunternd war er nicht.

Wolfgang Kaleck: Mit zweierlei Maß. Der Westen und das Völkerstrafrecht. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012, 144 Seiten, 15,90 Euro

* Aus: junge Welt, 16. März 2012


Zurück zur ICC-Seite (Internationaler Strafgerichtshof)

Zur Völkerrechts-Seite

Zurück zur Homepage