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Vorwand "Terrorismus"

Vorabdruck. Der Aufbau des autoritären Sicherheitsstaates im 21. Jahrhundert. Warnsignale eines "freundlichen Faschismus"

Von Eberhard Schultz *

In der kommenden Woche erscheint im Laika-Verlag die von Susann Witt-Stahl und Michael Sommer herausgegebene Beitragssammlung »›Antifa heißt Luftangriff!‹ Regression einer revolutionären Bewegung« mit Texten verschiedener Autoren zum staatlichen »Antifaschismus« und zur Kritik an Positionen der Antifa. jW veröffentlicht den Beitrag des Berliner Rechtsanwalts Eberhard Schultz. Die meisten Fußnoten wurden gestrichen, Kürzungen im Text sind mit runden Klammern gekennzeichnet. (jW)

Die größte Bedrohung der Demokratie im Sinne einer Entwicklung zum Faschismus (»Faschisierung«) in Deutschland geht gegenwärtig nicht von äußeren oder inneren »Feinden der Demokratie« oder (Neo-)Nazis aus, sondern von dem umfassenden Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates, mit dem vorgegeben wird, die Demokratie gegen »terroristische« und andere Gefahren schützen zu wollen. Das heißt nicht, daß Neonazis nicht eine große Gefahr darstellen und schärfstens bekämpft werden müssen, nicht zuletzt weil sie es sind, die für die Wiedereinführung der Todesstrafe oder den umfassenden Ausbau der Repressionsapparate eintreten, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vorantreiben sowie den Machthabern und gegenwärtig herrschenden politischen Parteien zum Teil als Alibi für die eigenen Positionen dienen.

Neben repressiven Strukturen wird mit Hilfe moderner EDV- und Internetinstrumentarien ein völlig neues umfassendes Überwachungs-, Kontroll- und Steuerungssystem des gesamten sozialen Verhaltens der Gesellschaft entwickelt. Beides zusammen kann dazu führen, daß eine neue Form des Faschismus entsteht, in der trotz Beibehalten partieller demokratischer Formen – Wahlen, Parlamente, politische Parteien, Gewerkschaften und Verbände sowie eines formalen Rechtsstaats, scheinbarer Medien-»Vielfalt« u.a. – jede wirkliche Demokratie und Partizipa­tion zumindest vorläufig abgeschafft sind. (…)

Demontage des Rechtsstaates

Seit Ende der 1970er Jahre findet (…) in der BRD der systematische Zersetzungsprozeß verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt, vielfach unter Berufung auf die Abwehr von terroristischen und anderen Gefahren für die innere Sicherheit.

Einen zusammenfassenden Überblick über wichtige juristische Elemente dieser Entwicklung beim Auf- und Ausbau eines autoritären Sicherheitsstaates, die damals unter dem Vorwand der »Terrorismusbekämpfung« begann, bringt Heinz Düx in der Zeitschrift für Rechtspolitik (einer Beilage der (…) renommierten Neuen Juristischen Wochenschrift) bereits im Jahre 2003: »Seit fast 25 Jahren findet in Deutschland ein systematischer Zersetzungsprozeß verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt [...]. Beschleunigte Strafverfahren, um nicht zu sagen, Schnellverfahren am Fließband, weniger strenge Voraussetzungen für den Erlaß eines Haftbefehls, Vorbeugehaft, Kronzeugenregelung, Kontaktsperregesetz, die Zulässigkeit des Einsatzes verdeckter Ermittler und deren Verwertung im Strafprozeß ohne Zeugenaussagen, beobachtende Fahndung, Rasterfahndung, Schleierfahndung, Anzeigepflicht der Banken über Kontenvorgänge, kleine und große Lauschangriffe und Telefonüberwachungen, Überwachung von Auslandsgesprächen, Dateien von Personen, die aufgrund ihrer ›Persönlichkeit‹ in Zukunft Straftaten begehen könnten, Ausweisung von Ausländern auf Verdacht hin, Isolationshaft. Hier handelt es sich nur um herausragende Instrumente, die es schon vor dem 11.9.2001 gab. Über diese Maßnahmen gibt es keinerlei Erfolgskontrolle vor dem Hintergrund ihrer behaupteten Effektivität. Bekannt ist, daß Deutschland mit 1,4 Millionen überwachten Telefongesprächen per anno [das heißt: 2001, d. Verf.] an der Spitze aller ›demokratischen Staaten‹ steht.«[1]

Auch wenn die USA Deutschland den Rang bei der Telefonüberwachung inzwischen abgelaufen haben dürften, wie im Zusammenhang mit dem NSA-Skandal bekanntgeworden ist – dieses Instrument bleibt neben anderen von zentraler Bedeutung. Weniger bekannt ist das sogenannte Feindstrafrecht, das ausdrücklich mit der fundamentalen demokratischen Verheißung der »Gleichheit vor dem Gesetz« bei mutmaßlichen (!) Terroristinnen und Terroristen bricht und somit ein offenes Einfallstor für faschistische Theoreme und Praktiken darstellt.

In der Folge der Anschläge vom 11. September 2001 wurde dieser Zersetzungsprozeß im Rahmen des unter Führung der USA ausgerufenen »weltweiten Krieges gegen den internationalem Terrorismus« forciert und erreichte eine neue Qualität. Die von der rot-grünen Regierung ausgehandelten Gesetzesvorhaben auf Basis von Otto Schilys »Antiterrorpaketen« (die Ende 2001 verabschiedet wurden und zum 1. Januar 2002 in Kraft traten – also längst in den Schubladen bereitlagen) wurden von den Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen aus guten Gründen als »Katastrophe« abgelehnt. 17 der wichtigsten Bürgerrechtsorganisationen sprachen von einer »Demontage des Rechtsstaats«. Selbst der Bund Deutscher Kriminalbeamter stellte fest: »Mit den von Bundesinnenminister Otto Schily vorgeschlagenen Maßnahmen wären die Anschläge vom 11. September niemals verhindert worden.«[2]

Am rigidesten und auch zeitlich nicht befristet war das Antiterrorismusgesetz im Ausländerbereich. Im Grunde tendierten – so Heinz Düx schon 2003 in dem oben zitierten Aufsatz – nunmehr die Rechte von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland gefährlich gegen null. Das gesamte Ausländergesetz und die Durchführungsverordnungen wurden verschärft, die Möglichkeiten der Vereinsgründung für Ausländer beschränkt, das Ausweisungsrecht ausgedehnt, das Asylverfahrensrecht verschärft, das Ausländerzentralregistergesetz und die Ausländerdatenverordnung weiter ausgebaut. So dürfen Dateien an ausländische Stellen weitergegeben werden, und die Sicherheitsorgane dürfen den gesamten Datenbestand über Ausländer jederzeit und ohne Grund in einem automatisierten Verfahren abrufen.

Parallel wirkendes Notstandsregime

Nach Düx werden damit zwei Klassen von Menschen gebildet. Dies läßt sich leicht anhand typischer Maßnahmen veranschaulichen, die sich speziell gegen Ausländer richten bzw. bei ihnen besonders konsequent durchgesetzt werden. Hierzu zählen u.a.: Verbote mißliebiger Veranstaltungen bzw. Auftrittsverbot für Vertreter irakischer Gewerkschaften und des Widerstands gegen die US-Besatzung; Verbote von Symbolen und Bildern der Hisbollah auf Demonstrationen; Ausweisung und Abschiebung von sogenannten islamistischen Haßpredigern; umfassende geheimdienstliche Überwachung von verdächtigen Muslimen im Alltag; die umfassende geheimdienstliche Überwachung und Ausforschung von Moscheen und Moscheevereinen; Vereinsverbote muslimischer Vereine als Vollzugsmaßnahmen eines »präventiven Verfassungsschutzes« im »Kampf der Kulturen«.

Dabei darf nicht vergessen werden, daß alle derartigen Maßnahmen des Abbaus demokratischer Rechte, die zunächst gegenüber diskriminierten Minderheiten eingeführt und an ihnen ohne allzu großen Widerstand »ausprobiert« werden, später auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden können. Etwa die Verkürzung des Instanzenzuges, der zunächst im Asylrecht eingeführt worden war, oder die restriktive Handhabung der Prozeßkostenhilfe, einer wesentlichen Voraussetzung dafür, daß auch finanziell Minderbemittelte ihre Rechte vor den Gerichten überhaupt durchsetzen können. Im Hinblick auf seine präventive Orien­tierung steht der neue Antiterrorismus in der Kontinuität seiner Vorläufer. Neu am globalen Antiterrorismus der »Nach-9/11-Ära« ist hingegen eine Reihe von Merkmalen, deren wichtigste thesenartig so zusammengefaßt werden können: Einzelne Personen und Gruppen werden ausdrücklich außerhalb der Rechtsordnung gestellt. Vor allem mutmaßlichen »Terroristen« und »bösen Moslems« werden nicht nur einzelne Rechte beschnitten, sondern die gesamte Person soll aus dem Rechtssystem verbannt werden. Guantànamo, Abu Ghraib und andere Orte signalisieren die Wiederkehr der mittelalterlichen Vogelfreiheit. Militär, Geheimdienste, Staatsschutz, polizeiliche Spitzenkräfte rückten auf neuer Stufe zusammen – und das weltweit. Nach dem 11. September 2001 entsteht unter US-amerikanischer Führung ein antiterroristisches Zentrum, das sich auf ein Netzwerk transnationaler Militär-Polizei-Geheimdienst-Kooperation stützt. Diese von Kritikern und Kritikerinnen bereits vor mehr als fünf Jahren verbreitete Erkenntnis ist seit den Enthüllungen im Rahmen der sogenannten NSA-Affäre nicht mehr ernsthaft zu leugnen. In Deutschland haben zwei der großen Skandale der letzten Jahre Ausmaß und Gefährlichkeit dieses »Krieges gegen den Terrorismus« nach innen und außen verdeutlicht. Zum einen ist dies das Bekanntwerden der NSU-Mordserie und die Mitverantwortung von Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden, die mit Hilfe des rassistischen Feinbildes »der Türke«, »der Kurde« bzw. ab 2001 des »bösen Moslems« systematisch die Opfer zu Tätern gestempelt haben. Zum anderen ist es der Skandal um den US-amerikanischen Geheimdienst NSA und seine Partnergeheimdienste in Deutschland, der gezeigt hat, daß mit der millionenfachen Ausspähung von E-Mail-Verkehr und Internet sowie der Registrierung persönlicher Daten die seit der französischen Revolution gegen staatliche Überwachung erkämpfte Privatsphäre wieder zur Disposition und die ganze Bevölkerung unter Generalverdacht gestellt wird – von dem Versuch der Politik begleitet, dies als notwendiges Übel im Kampf gegen den Terrorismus zu rechtfertigen und zu bagatellisieren.

Auf die aktuelle Entwicklung in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise und ihrer Auswirkungen auf die parlamentarische Demokratie soll hier nur am Rande hingewiesen werden, zumal die kritisch-analytische Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen ist. Mit (den Worten des Sozialwissenschaftlers; jW) Alexander Demirovic läßt sich eine Verstärkung der Tendenz feststellen, »Parlamente und Bevölkerung aus den Willensbildungsprozessen weitgehend auszuschließen«. Dies führe zu Konsequenzen, die er so zusammenfaßt: »Das Krisenmanagement steht eng unter der Kontrolle von Vertretern der Vermögensbesitzer, die ihre Maßnahmen in einer Serie von notstandsstaatlichen Operationen verfolgen. Der formelle, demokratisch-parlamentarische Staat wird also nicht verdrängt oder ersetzt […], sondern eher ergänzt durch eine Art parallel wirkendes Notstandsregime.«[3] Die Wiederbelebung juristisch-administrativer Instrumentarien des Antiterrorismus und rassistischer – jetzt insbesondere antimuslimischer – Feindbilder allein wären nicht in der Lage, den neuen autoritären Präventions- und Sicherheitsstaat auf- und auszubauen.

Kontrollfunktion des Internets

Bei dem Instrumentarium der totalen Überwachung, Kontrolle und Steuerung im Sicherheitsstaat des 21. Jahrhunderts handelt es sich im Unterschied zu dem klassischen »antiterroristischen Instrumentarium« um ein nicht offen repressives, das tendenziell und gezielt die ganze Bevölkerung betrifft und nicht nur deren »terroristischen Auswüchse«, auch wenn diese Maßnahmen oft ausdrücklich mit »terroristischen Gefahren« begründet werden.

Sie beginnen etwa bei den neu eingeführten Sicherheitsdurchsuchungen auf den Flughäfen, deren Ineffektivität bezogen auf wirkliche »terroristische« Anschläge schon dem sogenannten gesunden Menschenverstand einleuchtet. Es folgt eine in Teilbereichen fast flächendeckende Videoüberwachung, wie sie zunächst in vielen englischen Städten praktiziert wurde. Solche Maßnahmen dienen eher der sozialen Kontrolle der gesamten Bevölkerung als der Abwehr von »terroristischen Gefahren«, auch wenn vereinzelte, besonders medienwirksame Verbrechen damit aufgeklärt werden konnten. Damit sind wir einer ganz anderen Dimension des präventiven Sicherheitsstaates auf der Spur. Die neuen Formen der sozialen Kontrolle sind in den letzten Jahrzehnten nicht nur zur vorherrschenden Form der Kontrolle in den westlichen Industriegesellschaften ausgebaut worden, sondern scheinen in vielen Bereichen von den Betroffenen akzeptiert und zum Teil sogar selbst eingefordert zu werden. Sie sind in der kritischen Wissenschaft umfangreich untersucht und dargestellt worden.

Seit Ende der 1970er Jahre, als (der französische Philosoph Michel; jW) Foucault seine Analyse des damals in Westeuropa herrschenden Antiterrorismus entwickelte, haben Überwachung und Kontrolle aufgrund der wissenschaftlich-technischen Revolution in der Prävention und den strafrechtlichen Sanktionen wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen mit Hilfe der EDV eine ganz neue Qualität erhalten. Von der flächendeckenden Videoüberwachung, dem Einsatz der DNA-Analyse, Telekommunikationsüberwachung zur Onlinedurchsuchung und dem Einschleusen von sogenannten Trojanern bis hin zur weltumspannenden umfassenden Überwachung, auch der privaten Kommunikation, durch US-Geheimdienst-Programme wie PRISM stehen Mittel bereit, die Orwells »1984« als antiquiertes Sandkastenspiel erscheinen lassen.

Dies zwingt dazu, auch eine ganz neue Entwicklungsstufe im modernen westlich-abendländischen Staat zu behandeln, die mit der Verheißung einer individuellen Freiheitssphäre, die ohne und gegen den Staat zu garantieren ist, vollständig bricht und dabei zum Teil immer noch die Illusion des Internets als dem Reich der unbegrenzten Freiheit verbreitet. Hierbei handelt es sich gleichsam um die »andere Seite« der Gouvernementalität [4]: um das freiwillige Akzeptieren einer Reihe von Überwachungs- und Anpassungsstrategien nicht nur aufgrund von Angst, sondern von modernen Lebensweisen, Freizeitbeschäftigungen und mediengerechter »Unterhaltung« sowie marktkonformer Kommunikation und Konsumtion (sogenannte Network Economy durch Fokussierung auf das allgemeingültige Medium »Gefühl«). Ermöglicht wird dies EDV-technisch etwa mit Hilfe des »algorithmisch personalisierten Internets«, das die eigene Meinung verstärkt und damit scheinbar die Selbstbestimmung und Kreativität in einem freundlichen sozialen Umfeld zu schaffen hilft, in dem aber unangenehme und kontroverse Themen nicht mehr zugänglich sind. (…)

Repressive Toleranz

(Der Bielefelder Juraprofessor; jW) Andreas Fisahn hat die sozio-ökonomischen Zusammenhänge dieses historischen Prozesses aus soziologischer Sicht beschrieben. Parallel zur Entwicklung des kapitalistischen Systems in der nachfordistischen industriellen Gesellschaft sieht er eine Veränderung auch der Kontrollmechanismen: »Die homogene, normalisierte Masse der fordistischen Produktionen wird individualisiert oder besser aktualisiert und in dieser Individualität der neuen Form der Produktion, die die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit beständig durchbricht, untergeordnet. […] Die Stechuhr, die nur Anwesenheit, also äußere Normalität erfassen kann, wird ersetzt durch die computergestützte Erfassung der individuellen Arbeitszeit, der Überprüfung der Bildschirmarbeiter in ihrem individuellen und unterschiedlichen Arbeitsverhalten. […] Der flexible Mensch funktioniert in scheinbarer Individualität und Autonomie als Homo oeconomicus, der gerade in seiner scheinbaren Autonomie und Differenz der ideale Produzent ist. Aber eben nur solange sich diese Differenz innerhalb der Spielregeln der kapitalistischen Reproduktion bewegt, das kreative Handeln keine Grenzen sprengt […], sondern sich der Logik des Systems anpaßt. […] Die Überwachung wird unter diesen Umständen erheblich komplizierter. Sie muß mehr erfassen als die Normalität, die äußere Konformität, sie muß gleichsam vorgreifen, Abweichungen von den Spielregeln in einer Flut konformer Abweichung erfassen. Die Repression steht als Drohung im Hintergrund und wird nur gelegentlich manifest.«[5]

An anderer Stelle faßt er diese Befürchtung in der Formel einer »neuen Form eines autoritären Etatismus« zusammen: Im Deutschland als Frontstaat einer Festung Europa des 21. Jahrhunderts müßte nicht mehr wie im Faschismus des 20. Jahrhunderts eine »offen terroristische Diktatur« errichtet, die Parlamente entmachtet, Gewerkschaften zerschlagen, die Justiz auf »Führerbefehle« eingeschworen, große Massen politischer Gefangener gefoltert und umgebracht und eine zum »feindlichen Untermenschen« erklärte Minderheit im Wege eines Genozids systematisch liquidiert werden. Es könnte reichen, die große Masse der Bevölkerung zu überwachen, zu kontrollieren und algorithmisch zu steuern, aktive Kritiker im Sinne von Marcuses [6] »repressiver Toleranz« gewähren zu lassen und auf postmoderne Protestformen wie Shitstorms und andere Internetaktivitäten festzunageln, etwaige Widerspenstige als »psychisch krank« auszusondern und den noch nicht ganz Angepaßten nur mit dem Damoklesschwert der offenen Repression zu drohen. Diese Form postmoderner Barbarei könnte zumindest in den reichen westlichen Ländern Zukunft haben, solange es gelingt, die ökonomischen und sozialen Widersprüche mit Hilfe der Ausbeutung der armen Länder und der aus diesen importierten Arbeitssklaven einigermaßen unter Kontrolle zu behalten. Sie muß daher von den kritischen Teilen der demokratischen, antifaschistischen und linken Bewegung genauer analysiert und wirksam bekämpft werden.

Breites Demokratiebündnis

An dieser Stelle möchte ich zwei wichtige Ergänzungen bzw. Einschränkungen machen, auch um nicht mißverstanden zu werden. Erstens ist es keineswegs auszuschließen, daß die hier aufgezeigte gegenwärtig vorherrschende Tendenz zum »Friendly Fascism« aufgrund anderer Faktoren – etwa dem Scheitern der weiteren Ausbeutung des globalen Südens und der Abschottung der »Festung Europa« mit der Vorherrschaft Deutschlands oder dem Erstarken einer wirklich revolutionären sozialistischen Bewegung zu einer bestimmenden Kraft der Bevölkerung bei der erfolgreichen Bekämpfung von Krise und Krieg – in den Hintergrund gedrängt wird. Dann greifen die Herrschenden wieder zu (neuen) Formen einer offen terroristischen Diktatur und bedienen sich dabei auch bestimmter (neo-)nazistischer bzw. rechtspopulistischer Massenorganisationen. Aber es wäre ein fataler Fehler, die gegenwärtig vorherrschende Gefahr des Ausbaus eines autoritären Sicherheitsstaates nicht zu erkennen und wirksam zu bekämpfen. (...)

Diese hier skizzierte Entwicklung ist zweitens keineswegs zwangsläufig, und wir müssen uns ihr nicht ohnmächtig ausgeliefert fühlen. Im Gegenteil: Die wachsenden Widersprüche im Weltmaßstab, Massenproteste, Widerstand und Aufbegehren in vielen Gegenden des Südens, aber auch das wachsende kritische Bewußtsein in der Bevölkerung der Metropolen angesichts der ansteigenden Armut, der Ablehnung von Krieg und Gewalt und der Wunsch nach wirklicher Selbstbestimmung bei uns geben auch Anlaß zur Hoffnung auf einen neuen »Zyklus der Demokratisierung«. (…)

Es stellt sich aber die Frage, warum es gegen die hier skizzierte Entwicklung des Überwachungs- und Sicherheitsstaates zwar viel Protest, eine Reihe von Initiativen und sozialen und demokratischen Forderungen, aber keine breite radikal-demokratische, antifaschistische Fundamentalopposition gibt. Ist doch offensichtlich, daß nur ein breites Bündnis mit demokratischen Bewegungen, Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, fortschrittlichen Gruppierungen innerhalb der Verbände und Parteien sowie Einzelpersonen gegen den autoritären Sicherheitsstaat und für das Menschenrecht auf Privatsphäre und informationelle Selbstbestimmung, für die individuellen Freiheitsrechte und die sozialen Menschenrechte diese bedrohliche Entwicklung aufhalten und verhindern kann. Die antifaschistische Bewegung sollte da in dem Bewußtsein mitmachen, daß die Aktivitäten gegen den Überwachungsstaat usw. nicht nur eine Herausforderung für demokratische Kräfte sind, sondern daß der Auf- und Ausbau des autoritären Sicherheitsstaats auch faschistische Elemente in sich trägt – ja, der Prototyp des modernen faschistischen Staates des 21. Jahrhunderts werden kann! –, wenn er nicht gestoppt wird. In so einem Staat wäre eine Antifa, die sich auf ein NPD-Verbot und den Kampf gegen den überkommenen Rassismus von Neonazis beschränkt, bestenfalls eine »nützliche Idiotin«, falls sie nicht schon von vornherein der radikalen Ausmerzung aller »linksradikalen Gruppen« zum Opfer fällt. Es sollte also alles dafür getan werden, den (…) »Zyklus der Demokratisierung« gemeinsam voranzutreiben.

Anmerkungen
  1. Heinz Düx: Globale Sicherheitsgesetze und weltweite Erosion von Grundrechten, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 2003, S 189 f.
  2. Zitiert nach: Der Spiegel vom 5.11.2001, S. 18
  3. Alexander Demirovic: Hin zur Selbstregierung, in: Rosalux. Journal der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Heft 1/2013, S. 25
  4. Foucault schreibt: »Unter Gouvernementalität verstehe ich (in erster Linie; jW) die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.« (Anmerkung von jW)
  5. Andreas Fisahn: Auf dem Weg in den Sicherheitsstaat?, in: Sozialismus, Heft 7–8/2007, S. 13 ff.
  6. Gemeint ist der deutsche, in die USA emigrierte Philosoph und Mitbegründer der Kritischen Theorie Herbert Marcuse. (Anmerkung von jW) Eberhard Schultz ist Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie Gründer und Vorsitzender der Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation.
Susann Witt-Stahl/Michael Sommer (Hg.): »Antifa heißt Luftangriff«. Regression einer revolutionären Bewegung, Laikatheorie Band 44, 216 Seiten, 21 Euro.

* Aus: junge Welt, Freitag 20. Juni 2014


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