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Deutsche strafen Deutsche nicht

Keine Anklage gegen SS-Angehörige für Massaker in Italien 1944

Von Katja Herzberg *

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat die Ermittlungen zum NS-Verbrechen in dem italienischen Bergdorf Sant'Anna di Stazzema eingestellt. Zum wiederholten Male bleiben SS-Soldaten ungestraft.

Zehn Jahre ermittelte die Staatsanwaltschaft Stuttgart zusammen mit dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg, um das NS-Massaker an 560 Männern, Frauen und Kindern in Sant'Anna di Stazzema in der Toskana vor 68 Jahren aufzuklären. Berge von Aktenmaterial wurden untersucht, letzte noch lebende Zeugen und mutmaßliche Täter der 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« befragt. Doch eine Anklage wird nicht erhoben. Den Beschuldigten könne keine »noch nicht verjährte strafbare Beteiligung« – das heißt Mord oder Beihilfe zum Mord – nachgewiesen werden. Dies gab die Staatsanwaltschaft Stuttgart gestern bekannt. Es sei nicht belegt, dass es sich bei dem Massaker am 12. August 1944 um eine »von vorneherein geplante und befohlene Vergeltungsaktion gegen die Zivilbevölkerung« handelte. Zudem sei es nicht möglich jedem Beschuldigten die konkrete Beteiligung an den Erschießungen nachzuweisen. Die bloße Zugehörigkeit zu der eingesetzten Einheit genüge nicht.

Die Behörde hatte gegen acht noch lebende von einst 17 SS-Soldaten der Einheit ermittelt. Sie wurden bereits im Juni 2005 vom Militärgericht La Spezia in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt und gehören damit zu insgesamt 15 in Italien zu lebenslanger Haft verurteilten SS- und Wehrmachtsangehörigen aus knapp 450 Verfahren.

Die italienischen Behörden sind anders als die deutschen der Ansicht, dass es bei dem Einsatz in Stazzema nicht nur um die Bekämpfung von Partisanen ging, sondern um eine Säuberungsaktion im »Krieg gegen die Zivilbevölkerung«.

Diese Bewertung teilt auch der Historiker Carlo Gentile. »Die 16. SS-Panzergrenadierdivision ist fast die einzige Einheit, die mit solch einer Härte und Konsequenz gegen die Zivilbevölkerung vorging«, sagte Gentile gegenüber »nd«. Ein beträchtlicher Teil ihres Führungspersonals sei bereits 1941 in Weißrussland und auch 1943 bei der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto beteiligt gewesen. Die Division sei für etliche weitere Massaker in Italien verantwortlich, u.a. für jenes mit den meisten Toten (770) überhaupt in Marzabotto bei Bologna.

Die Anwältin Gabriele Heinecke kritisierte gegenüber »nd« die Einstellungsverfügung. »Die Staatsanwaltschaft hat die Rolle des Gerichts eingenommen.« Für ihren Mandanten Enrico Pieri, einer der wenigen Überlebenden des Massakers, wird sie Beschwerde einleiten, um zu versuchen, die individuelle Schuld zumindest eines Angeklagten – des Kompaniechefs Gerhard Sommer – nachzuweisen. Erleichtert sei Heinecke nur, weil die Staatsanwaltschaft nun nicht mehr auf den Akten „sitzt".

Die Stuttgarter Einstellungsverfügung ist nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag im Februar die zweite Niederlage für Hinterbliebene von NS-Verbrechen. Der IGH entschied, dass Deutschland keine Entschädigungszahlungen für NS-Verbrechen leisten müsse. Das Gericht forderte Deutschland jedoch dazu auf, mit Italien zu einer Einigung über die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte zu kommen. Dazu setzten die Regierungen beider Länder eine Historikerkommission ein, die nach »nd«-Recherchen in diesem Monat ihre Vorschläge präsentieren wird. In dem Bericht könnte etwa die Einrichtung eines Gedenkortes vorgeschlagen werden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 02. Oktober 2012

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