Ausgrenzung nimmt zu
Rückblick 2010. Heute: Flüchtlingspolitik. Hierbleiben darf, wer fleißig und "nützlich" ist. Von Schulleistungen der Kinder sollen Familienschicksale abhängen
Von Ulla Jelpke *
Wer der Wirtschaft nicht nutzt, muß gehen – diese Maxime galt auch 2010 in der deutschen Flüchtlingspolitik. Im Fokus der Abschiebebehörden stehen vor allem zwei Gruppen. Dies sind zum einen 12000 Roma aus dem Kosovo, die während und nach dem von der Bundeswehr mitgeführten Krieg gegen Restjugoslawien 1999 nach Deutschland geflohen sind, und zum anderen mindestens 7500 vor allem kurdische Flüchtlinge aus Syrien. Ihnen droht aufgrund des deutsch-syrischen Rückführungsabkommens die Ausweisung und damit Verschleppung und Folter.
Bislang kommt die Maschinerie allerdings nur schleppend in Gang: Rund 450 Abschiebungen in den Kosovo und 20 bis 30 nach Syrien haben 2010 stattgefunden. Doch die Verbliebenen haben weiterhin nur eine Duldung ohne regulären Aufenthaltsstatus. Das bedeutet eingeschränkte soziale Rechte und Angst vor Deportationen als ständiger Begleiter. Besonders betroffen sind davon die hier aufgewachsenen Kinder, die keinerlei Bezug zum Herkunftsland der Eltern haben.
Zumindest die Roma haben viele Fürsprecher – von internationalen Menschenrechtsorganisationen bis zu breiten lokalen Bündnissen. Dennoch hält die Bundesregierung an ihrer rigiden Politik fest.
Die Roma aus dem Kosovo und die syrischen Kurden gehören zur Gruppe der über 80000 Menschen, die mehrheitlich seit über sechs Jahren nur geduldet in Deutschland leben. Alle Versuche, zu einer dauerhaften und wirksamen Bleiberechtsregelung zu kommen, sind bisher an den Innenministern der Länder gescheitert. Der im Dezember von ihnen beschlossene Kompromiß, in Deutschland aufgewachsenen und gut integrierten Jugendlichen ein Bleiberecht zu gewähren, folgt reinen Nützlichkeitserwägungen. Nur 15- bis 18jährige mit guten Schulleistungen sollen künftig eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Für ihre Eltern (und Geschwister) bedeutet das aber nur einen Aufschub. Sind die Jugendlichen volljährig und die Eltern immer noch von Sozialleistungen abhängig, müssen sie das Land verlassen. Für die meisten wird das einfach den Rückfall in die Duldung bedeuten – vielleicht für immer.
Für Geduldete gelten zahlreiche Restriktionen, darunter die Residenzpflicht. Ohne Erlaubnis dürfen sie das Bundesland, in dem ihnen ihr Wohnsitz zugewiesen wurde, nicht verlassen. Die Ausländerbehörden können die Bewegungsfreiheit sogar bis auf den Bereich ihrer Kommune einschränken. Asylbewerber dürfen sich von vornherein nur im Bezirk ihrer Ausländerbehörde bewegen. Durch neue Anwendungsregelungen in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen ist dieses Regime 2010 zwar gelockert worden, innerhalb des Bundeslandes dürfen sie sich nun frei bewegen. Eine im Koalitionsvertrag vereinbarte Lockerung auf Bundesebene orientiert sich ebenfalls an der wirtschaftlichen Nützlichkeit der Schutzsuchenden. Die Erweiterung ihres Aufenthaltsbereiches auch über die Landesgrenzen hinweg soll nur möglich sein, wenn dies der Arbeitsaufnahme dient.
Einen Rüffel mußte die Bundesregierung 2010 in bezug auf die Leistungen für Flüchtlinge einstecken. Auf Anfrage der Linksfraktion mußte sie einräumen, daß die 1993 auf umgerechnet 184 Euro festgelegten und seither unveränderten »Grundleistungen« nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nach dem aktuellen »Hartz IV«-Urteil des Bundesverfassungsgerichts grundgesetzwidrig sind. Ob aus diesem Eingeständnis eine Anhebung der Sozialleistungen resultieren wird, bleibt abzuwarten.
Auf europäischer Ebene arbeitet die Bundesregierung darauf hin, daß immer weniger Flüchtlinge überhaupt in die EU und nach Deutschland gelangen können. Vehement sträubt sie sich gegen eine Änderung des sogenannten Dublin-Systems, nach dem Asylbewerber immer in dem Land ihr Verfahren betreiben müssen, über das sie in die EU gelangt sind. Griechenland ist aufgrund seiner geographischen Lage mit einer besonders hohen Zahl Asylsuchender konfrontiert – und daher an einer Änderung dieser Regelungen interessiert. Doch von Deutschland wird bislang jede Forderung in diese Richtung abgeschmettert. Dabei sind die Zustände im griechischen Asylsystem katastrophal und der Umgang der Behörden mit Flüchtlingen grob rechtswidrig. Sie werden mit körperlicher Gewalt am Überschreiten der Grenze gehindert – unter den Augen der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX und unter tätiger Mithilfe der von ihr mobilisierten Grenzschützer aus ganz Europa. Die Rechtsgrundlagen zur Arbeit von FRONTEX und die in den Regularien enthaltenen Formulierungen zur Achtung der Menschenrechte interessieren hier offenbar kaum jemanden.
Die Bundesregierung treibt den Aufbau von FRONTEX und eines umfassenden europäischen Konzepts zur Abschottung der Europäischen Union voran und blockiert zugleich Verbesserungen beim Flüchtlingsschutz. Die EU-Kommission hatte 2009 eine ganze Reihe von Vorschlägen zur weiteren rechtlichen Harmonisierung und für minimale Verbesserungen des Asylrechts in der EU gemacht, die von der Bundesregierung mit einer Batterie von Einwänden ausgebremst wurden.
* Aus: junge Welt, 27. Dezember 2010
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