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Niemand will die Flüchtlinge

Auch Deutschland verstärkt Grenzkontrollen / Italien schiebt Migranten ab *

Mehr als 20 000 Flüchtlinge kamen seit Januar nach Süditalien. Rom will sie in andere EU-Länder ausreisen lassen. Die Flüchtlingsfrage sei schließlich ein europäisches Problem. Doch die EU-Partner laufen Sturm.

Lampedusa: Die kleine Insel im Mittelmeer ist Ziel großer Hoffnungen. Und sie ist der Ort, an dem diese enttäuscht werden, trauriges Beispiel für das Versagen der Europäischen Union in Flüchtlingsfragen. Am Montag erreichten laut italienischen Behörden erneut zwei Boote mit 226 Menschen aus Nordafrika an Bord die Insel. Am selben Tag begann Italien mit der Abschiebung von Flüchtlingen nach Tunesien. 30 Migranten wurden per Flugzeug und in Begleitung zahlreicher Polizisten von Lampedusa ausgeflogen – geplant sind in Zukunft täglich zwei solcher Abschiebeflüge. Aus Protest gegen die Ausweisungen kletterten Flüchtlinge auf das Dach und die Tore des Auffanglagers. Der größte Teil der mehr als 20 000 Menschen, die bisher Italien erreichten, sind Tunesier und werden anders als geflohene Libyer als Wirtschaftsflüchtlinge eingestuft.

Zur Lösung der Probleme der Flüchtlinge hat die EU indes weiterhin nichts beizutragen. Die streitet sich stattdessen um Zuständigkeiten bei der Flüchtlingsbetreuung. Italien fordert vehement die Hilfe der anderen EU-Staaten. »Wir werden heute sehen, ob ein vereinigtes und solidarisches Europa existiert oder ob es sich einfach um einen geografischen Raum handelt«, erklärte Italiens Innenminister Roberto Maroni am Montag (11. Apr.) beim Treffen der EU-Innenminister in Luxemburg.

Doch seine Amtskollegen sehen sich nicht in der Pflicht. Die Minister einigten sich nicht auf eine gemeinsame Unterstützungsaktion, wie EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström sagte. Stattdessen wird auf die Zuständigkeit Italiens verwiesen und mit Verärgerung auf die Ankündigung reagiert, dass tausende tunesische Flüchtlinge aus »humanitären Gründen« befristete Visa erhalten sollen, mit denen sie im Prinzip in alle anderen Länder des Schengen-Raums, wie Deutschland, reisen könnten. »Wir können nicht akzeptieren, dass über Italien viele Wirtschaftsflüchtlinge nach Europa kommen«, erklärte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). »Wir werden uns anschauen, inwiefern wir dieses Visum, das die Italiener ausstellen, auch tatsächlich anerkennen«, sagte die österreichische Innenministerin Maria Fekter.

Nach Frankreich und Österreich kündigte am Montag auch die Bundesregierung schärfere Grenzkontrollen an. Im Moment gebe es noch keine Erkenntnisse über höhere Flüchtlingszahlen in Deutschland, so Friedrich. Die Regierung werde dennoch »situationsangepasst« die Kontrollen verstärken. Grundlegende Änderungen der Kontrollsysteme seien allerdings nicht geplant.

Die Grenzkontroll-Initiativen werden stellenweise mit großer Skepsis verfolgt. Das Dichtmachen der Grenzen sei »ein riesiger Rückschritt«, sagte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, der »Saarbrücker Zeitung«. Deutschland dürfe sich der Bewältigung des Flüchtlingsproblems nicht entziehen.

Die Diakonie verlangt Veränderungen beim europäischen Flüchtlingsschutz. Dieser sollte so geändert werden, dass mehr Flüchtlinge Zugang nach Deutschland erhielten, sagte Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier am Montag in Berlin. Es sei »beschämend«, wenn Deutschland nur 100 Flüchtlinge aufnehmen wolle angesichts der existenziellen Bedrohung dieser Menschen in Ländern, in denen Bürgerkriege herrschen. Deutschland hatte in der vergangenen Woche die Unterbringung von 100 Flüchtlingen angekündigt, die sich derzeit auf Malta aufhalten. Auch andere EU-Länder haben Hilfe für Malta versprochen. Die Situation Maltas sei wegen seiner geringen Größe mit der Italiens nicht zu vergleichen, unterstrich Malmström.

Über mögliche Initiativen dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht flüchten müssen, wurde am Montag nichts bekannt.

* Aus: Neues Deutschland, 12. April 2011


Tauziehen auf Kosten von Flüchtlingen

Rom droht mit Visavergabe an Migranten, sollte sich EU bei Einwanderung nicht stärker engagieren

Von Wolf H. Wagner, Florenz **


Inmitten des Streits in der Europäischen Union über den Umgang mit Flüchtlingen aus Nordafrika haben erneut zwei überfüllte Boote aus der Region die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa erreicht. Nach Angaben der Behörden kamen am Montag 226 Flüchtlinge auf Lampedusa an. Damit harren auf der kleinen Insel mittlerweile wieder rund 1500 Einwanderer aus. Etwa 1000 von ihnen sind nach Schätzungen der Behörden Tunesier.

Am Wochenende hatte Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi der EU mangelnde Solidarität in der Frage der nordafrikanischen Flüchtlinge vorgeworfen. Auf einer Pressekonferenz am Sonnabend auf Lampedusa erklärte der Premier, das Problem sei nicht allein von Italien zu lösen. »Wir haben es hier mit einem historischen Prozess zu tun«, meinte Berlusconi. Die europäischen Staaten hätten in der Vergangenheit mit ihrer Politik zu den Zuständen in den afrikanischen Ländern beigetragen und nun die Verantwortung, auch für deren Folgen einzustehen. Wenn in den nordafrikanischen Staaten jetzt »der Wind der Demokratie wehe«, so Berlusconi, bringe dieser auch Flüchtlingsströme über das Meer.

Nach seinen Erkenntnissen wollten 80 Prozent der tunesischen Migranten gar nicht in Italien bleiben, sondern zu Verwandten und Freunden nach Frankreich weiterreisen, sagte Italiens Regierungschef. Er sehe also keinen Grund, warum Frankreich diese Menschen nicht aufnehmen sollte. Berlusconi deutete an, dass Italien die Flüchtlinge für etwa sechs Monate in Auffanglagern zurückhalten werde, danach könnten sie mit zeitweiligen Aufenthaltsgenehmigungen in alle Schengen-Länder (zwischen denen gibt es normalerweise keine Grenzkontrollen mehr) reisen. Für die jüngst angekommenen Flüchtlinge habe man mit Tunis eine Vereinbarung über die Repatriierung geschlossen. Seit Wochenbeginn würden täglich zwei Flugzeuge tunesische Migranten in die Heimat zurückbringen.

Sollten die EU-Staaten, vor allem Deutschland und Frankreich, ihre Verpflichtungen zur Solidarität nicht akzeptieren, so habe die EU keinen Sinn und man könne wieder zur Nationalstaatenpolitik zurückkehren, führte Silvio Berlusconi weiter aus. Er könne zwar durchaus verstehen, dass die Regierungen auf die innere Politik in ihren Staaten Rücksicht nehmen müssten. So habe Bundeskanzlerin Angela Merkel jetzt, zu Wahlzeiten, einen schweren Stand. Doch irgendwann müsse man auch zu den Realitäten in der Flüchtlingsfrage zurückkehren und sie akzeptieren.

Dass sich Paris dieser Meinung anschließt, ist fraglich. Das französische Innenministerium kündigte bereits verschärfte Grenzkontrollen an. Minister Claude Guéant erklärte, man werde »keinen tunesischen Flüchtlingsstrom aus Italien« dulden. Auch der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich wies seine Beamten an, an den Grenzen zu Österreich und auf den Flughäfen »der Lage angepasste« Kontrollen vorzunehmen. Aus Kreisen der Christlich-Sozialen Union verlautete, Berlusconi breche das »Schengen-Recht«. Sollten von den 25 000 Tunesiern, die sich zur Zeit in Italien aufhalten, zehn Prozent einen Asylantrag gestellt haben, so seien hier ordentliche Verfahren durchzuführen, fügte der Parlamentarische Innenstaatssekretär Ole Schröder hinzu.

Der italienische Innenminister Roberto Maroni war sich ohnehin klar darüber, dass er am Montag auf der EU-Innenministerkonferenz in Luxemburg harsche Kritik seiner deutschen und französischen Amtskollegen zu erwarten hatte. Dabei möchten auch Maroni und seine Parteikollegen von der Lega Nord die Flüchtlinge nicht bis in den Norden des Landes vordringen lassen. Die überwiegend von der Lega regierten Regionen Norditaliens zeigten sich keineswegs bereit, Flüchtlingslager für die Nordafrikaner einzurichten. Die Auseinandersetzungen führten bereits zu erheblichen Spannungen in der Koalition – für die Opposition ein weiteres Zeichen dafür, dass die Regierung Berlusconi nicht in der Lage ist, die Probleme zu lösen. Die Zurückhaltung, mit der Demokraten und die Partei »Italien der Werte« die Thematik von der Oppositionsbank aus behandeln, lässt allerdings ahnen, dass man wohl insgeheim froh darüber ist, nicht selbst mit der Migrationsfrage konfrontiert zu sein.

** Aus: Neues Deutschland, 12. April 2011


Kein Platz für Flüchtlinge

CSU-Innenminister will keine Asylbewerber aus Italien aufnehmen. EU-Kollegen beraten über Grenzsicherung und Vorratsdatenspeicherung von Flugreisenden

Von Ulla Jelpke ***


Von einem »humanitären Einsatz«, wie ihn angeblich die Bundeswehr in Libyen leisten soll, ist die deutsche Flüchtlingspolitik weit entfernt. Für Flüchtlinge aus Nordafrika heißt es: Grenzen dicht. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) teilte am Montag mit, die Kontrollen an den deutschen Grenzen würden »situationsangepaßt« verstärkt. Damit soll verhindert werden, daß Flüchtlinge aus Tunesien oder Libyen, die zunächst in Italien stranden, in den Norden der EU gelangen. Wie die Union mit den Flüchtlingen umgeht, war gestern Thema eines Treffens der EU-Innenminister in Luxemburg.

Die italienische Regierung sieht sich mit der Aufnahme von derzeit mehr als 20000 Flüchtlingen, die vor allem auf der vorgelagerten Insel Lampedusa ankommen, ebenso überfordert wie der kleine Mittelmeerstaat Malta, wo sich 1000 Flüchtlinge aufhalten. Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi zog vor dem Treffen am Montag Kritik von etlichen EU-Staaten auf sich, nachdem er angekündigt hatte, »seinen« Flüchtlingen befristete Aufenthaltstitel auszustellen, mit denen sie in die Nachbarstaaten reisen können. Österreichs Innenministerin Maria Fekter warnte, eine solche Maßnahme entfalte »einen enormen Staubsaugereffekt auf alle Migranten, die nach Italien gelangen«, und sei »unsolidarisch«. Ihr italienischer Kollege Roberto Maroni hingegen versteht unter Solidarität, daß ihn die EU-Staaten bei der Bewältigung der Flüchtlingsbewegungen unterstützen. BRD-Innenminister Friedrich hingegen meinte, Italien sei selbst verantwortlich und solle die Flüchtlinge schnellstmöglich nach Tunesien zurückschicken. Gemeinsam mit Frankreich fordert die BRD, am sogenannten Dublin-II-System festzuhalten. Demnach müssen Asylbewerber in dem Land ihr Verfahren abwarten, das sie als erstes betreten haben – für die südlichen Mittelmeeranrainer ein klarer Nachteil.

»Wir können nicht akzeptieren, daß über Italien Wirtschaftsflüchtlinge nach Europa kommen«, erläuterte Friedrich die Grenzen der deutschen Humanität. Sollte Italien tatsächlich die Flüchtlinge mit Aufenthaltstiteln ausstatten, würden verstärkte Kontrollen an den deutschen Grenzen eingeführt. Auch Innenstaatssekretär Ole Schröder (CDU) erklärte, wenn Flüchtlinge in andere EU-Länder weiterreisen könnten, widerspreche dies dem Geist von Europa. Die Bundesregierung wolle den Flüchtlingen den Weg aus dem Elend der italienischen Aufnahmelager verwehren, kritisierte die Linksfraktion in einer Presseerklärung. Die Minister einigten sich vorläufig darauf, Italien mehr EU-Grenzschützer und mehr Gelder zur Flüchtlingsabwehr bereitzustellen.

Die EU-Innenminister wollten gestern zudem die Inbetriebnahme des Visa-Informationssystems ab Oktober beschließen. In einem ersten Schritt sollen die in Nordafrika vertretenen Botschaften und Konsulate sämtliche Visa-Daten in einen zentralen Datenpool geben, um zu verhindern, daß Antragsteller, denen ein EU-Land schon ein Visum verweigert hat, woanders mit einem zweiten Antrag erfolgreich sind. Außerdem steht ein Plan der Kommission zur Speicherung von Passagierdaten auf der Tagesordnung. Er sieht vor, persönliche Daten aller Reisenden, die per Flugzeug in die EU ein- oder aus ihr herausfliegen, an Sicherheitsbehörden der betroffenen Mitgliedsstaaten zu leiten, wo sie fünf Jahre lang gespeichert werden können. Bei Flügen in die USA ist dieser Datenaustausch bereits Standard. Absichten der britischen Regierung, die Regelung auch auf innereuropäische Flüge auszuweiten, haben derzeit keine Mehrheit.

*** Aus: junge Welt, 12. April 2011


Empörend

Von Uwe Sattler ****

Es ist derzeit viel von Solidarität die Rede in EU-Europa. Rom fordert sie von den Partnern ein, um den »menschlichen Tsunami« (Berlusconi) bewältigen zu können. Brüssel verlangt solidarisches Handeln gegenüber »den unter Druck stehenden Nachbarländern« (EU-Kommissarin Malmström). Selbst Bundesinnenminister Friedrich betonte vor dem Treffen mit seinen Amtskollegen, selbstverständlich werde Europa Italien unterstützen – »wenn nötig«. Diesen Fall haben die Innenminister nicht gesehen. Über die Flüchtlinge, die sich an die italienische Küste retten, haben sie nicht gesprochen.

Seit dem EU-Beschluss zu einer gemeinsamen Einwanderungspolitik 1999 war dies ohnehin selten der Fall. Umso häufiger ging es dagegen um den Ausbau von Frontex. Der Etat der EU-Grenzschutzagentur stieg von 6,3 Millionen Euro 2005 auf über 87 Millionen im vergangenen Jahr, um die Abwehr von Migranten noch effizienter erledigen zu können. Dass die Menschenrechte auf Asyl, das Verlassen jedes Landes und menschenwürdige Behandlung verletzt werden, stört die EU – trotz regelmäßiger Betonung dieser »europäischen Werte« – nicht. Wohl aber, dass Italiens Premier nun seinen »Partnern« mit der Visavergabe an die Flüchtlinge droht. Ein klarer Bruch von EU-Recht, heißt es empört in Berlin, Wien und Paris. Bei Geld und Aufwand in der Flüchtlingsfrage und der Sorge um eine ausländerskeptische Wählerklientel ist man in einigen EU-Staaten dann doch sehr empfindlich.

**** Aus: Neues Deutschland, 12. April 2011 (Kommentar)


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