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"Krise hat die Lage der Flüchtlinge verschärft"

Die Europäische Union schottet sich ab. Anerkennungsquote in Griechenland im Promillebereich. Gespräch mit Manfred Nowak *


Manfred Nowak war von 2004 bis 2010 Sonderberichterstatter über Folter der UN-Menschenrechtskommission und des UN-Menschenrechtsrates. Heute arbeitet er als Professor für Internationales Recht und Menschenrechte an der Universität Wien.


Im Zusammenhang mit der EU-Flüchtlingspolitik haben Sie in Ihrem Buch das Wort »Krieg« verwendet, an den diese Sie erinnert. Können Sie das näher erläutern?

Ich habe vor allem an die Festung Europa gedacht. Die Staaten der EU schotten sich zunehmend ab, nicht nur gegen Migranten, sondern auch gegen Flüchtlinge, die aus ganz unterschiedlichen Gründen Zuflucht in Europa suchen. Es gibt natürlich bewaffnete Konflikte, aber es gibt auch Verfolgung und Armut als Ursachen. Zunehmend kommen auch Klimaflüchtlinge nach Europa. Hier zu meinen, man könne die Grenzen wirklich dicht machen, ist eine Illusion. Ich glaube nicht, daß es die Zukunft eines friedlichen und demokratischen Europas sein sollte, sich mit militärischen Mitteln gegen Zuwanderung zu schützen.

Ich habe in Griechenland selber mitbekommen, was dies für Menschen bedeutet, die sich von sehr weit her durchgeschlagen haben. Die Schlepperorganisationen haben ihnen versprochen, daß sie, wenn sie die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland überwunden haben, in Europa vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge positiv aufgenommen, in ein Flüchtlingslager gebracht und dort versorgt werden würden. In Wirklichkeit landen sie dann aber in sehr schlechten Polizeianhaltelagern oder speziellen Migrationslagern und haben auch so gut wie keine Chance, in Griechenland Asyl zu bekommen, wo die Anerkennungsquote im Promillebereich liegt.

Ich plädiere sehr dafür, daß sich die Flüchtlinge selbst aussuchen können, wo sie während des Asylverfahrens innerhalb der Europäischen Union Aufenthalt nehmen wollen, weil dies für viele Leute von der Sprache abhängt. Wenn sie nur Englisch können, gehen sie lieber nach England, wenn sie Französisch können nach Frankreich, wenn sie Deutsch können nach Deutschland. Oder wenn sie dort Verwandte oder Bekannte haben, ist es für sie in dieser ersten, schweren Zeit des Ankommens in Europa sehr viel einfacher, Unterstützung zu bekommen. Sonst ist man natürlich vollkommen isoliert und dadurch benachteiligt.

Sie schreiben, daß die Wirtschafts- und Finanzkrise kein Argument für diese Situation sein kann. Aber hat die gegenwärtige Krise in Griechenland die Lage verschärft?

Natürlich. Ich bin im Oktober 2010 in Griechenland gewesen, als die globale Finanzkrise bereits ihre Auswirkungen auf das Land hatte, und bereits damals hat praktisch kein Asylsystem mehr existiert. Das hat sich sicherlich durch die derzeitige existentielle Krise Griechenlands verschärft, sofern das überhaupt möglich war. Was sich jedoch in jedem Fall verschärft hat, und das war auch bei den Wahlen am 6. Mai zu sehen, ist die griechische Politik. Die Menschen haben, auch wenn sie aus dem Polizeigewahrsam oder aus den Lagern freigelassen werden, keinerlei Unterstützung. Sie müssen auf der Straße leben und sind dort natürlich sehr verwundbar für rechtsradikale Angriffe.

US-Präsident Barack Obama hatte vor seiner Wahl unter anderem die Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo versprochen. Wie schätzen Sie seine erste Amtszeit ein?

Obama spricht nicht mehr vom Krieg gegen der Terror und hat eine andere Art und Weise des Kampfes gegen den Terrorismus entwickelt. Die Folterungen, die Verhörmethoden, die Geheimgefängnisse, – all das gehört, soweit wir wissen, der Vergangenheit an. Umgekehrt hat Obama viele der Erwartungen nicht erfüllt. Guantanamo ist nach wie vor nicht geschlossen, obwohl er versprochen hatte, das innerhalb eines Jahres zu tun. Wobei man ihm das nicht primär oder alleine anlasten sollte, weil ihm hier der Kongreß wirklich einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, und auch die Gouverneure haben sich quergelegt. Die europäischen Staaten haben es ihm ebenfalls nicht leicht gemacht, Personen, die in Guantanamo inhaftiert waren und von den USA freigegeben wurden, aufzunehmen. Was ich ihm aber sehr wohl vorwerfe, ist, daß er eigentlich nichts unternommen hat, um Verbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen unter der Bush-Regierung zu untersuchen.

Interview: André Scheer

* Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Mai 2012


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