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Der Klimaflüchtling drängt auf die europäische Bühne

Migration durch Umweltänderungen bislang kein Thema in Brüssel

Von Kay Wagner, Brüssel *

Flucht vor Überschwemmungen, Trockenheit oder anderen Folgen des Klimawandels – nicht nur die Menschen in der sogenannten Dritten Welt sind davon betroffen. Nichtregierungsorganisationen fordern, die direkten und indirekten Konsequenzen auch in den EU-Institutionen zum Thema zu machen.

Von nichts weniger als der größten humanitären Herausforderung des Jahrhunderts spricht Sophia Wirsching, wenn es um das Thema Klimaflüchtlinge geht. »Schätzungen gehen davon aus, dass es im Jahr 2050 zwischen 200 Millionen und einer Milliarde Betroffene geben wird«, sagt die Expertin für Migration und Entwicklung bei der evangelischen Hilfsorganisation Brot für die Welt in Stuttgart. Hier wie bei anderen Organisationen wie Greenpeace, Germanwatch und Oxfam ist das Problem längst erkannt. »Unsere Partnerorganisationen in Asien, Afrika und anderswo machen uns darauf aufmerksam«, sagt Wirsching im Gespräch mit ND. Doch auf den großen internationalen Konferenzen, bei denen es um die Zukunft des Planeten geht, sind die Klimaflüchtlinge bislang noch nicht angekommen.

Auch nicht bei der EU. »Speziell zum Thema Klimaflüchtlinge passiert legislativ rein gar nichts«, sagt die Europaabgeordnete Cornelia Ernst (LINKE) auf Anfrage. »Das einzige Papier, das mir von Seiten der EU zum Thema Klimaflüchtlinge bekannt ist, ist ein elfseitiger Bericht der EU-Kommission an den EU-Rat vom März 2008«, betont Wirsching. Danach: Schweigen.

Schwer zu verstehen, weshalb das so ist. Denn über die Änderung des Klimas diskutiert man seit Jahren bei der EU. Die Bedrohungen, die zum Beispiel allein die Erderwärmung von durchschnittlich zwei Grad Celsius für viele Regionen der Welt bedeuten würden, sind als Szenarien zur Genüge ausgemalt. Vielleicht hätte es der Klimaflüchtling geschafft, auf der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen Ende 2010 die Bühne der internationalen Verträge zu betreten. Doch weil Kopenhagen ohne Ergebnisse zu Ende ging, muss er weiter warten. Hoffnung besteht für die Folgekonferenz im mexikanischen Cancun. »Das Thema steht bereits in den Vorbereitungstexten drin«, sagt Sophia Wirsching und wünscht sich, dass das bis zum Konferenzbeginn im Dezember auch so bleibt. Dann könnte es zur ersten völkerrechtlichen Definitionen kommen, was ein Klimaflüchtling überhaupt ist. Denn wer als Flüchtling international anerkannt wird, legt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 fest. Umwelt- und Klimaänderungen werden als Fluchtursache darin nicht genannt. »Juristisch ist es schwierig, Klimaflüchtlinge zu definieren«, gibt auch Cornelia Ernst zu.

Bei Brot für die Welt hat man jedoch relativ klare Vorstellungen. Vor allem in Bangladesch und auf den pazifischen Inseln sei das Phänomen schon heute brandaktuell. Überschwemmungen und Versalzung der Böden machen viele Küstenregionen für die dort ansässige Bevölkerung unbewohnbar. Das führe zu Wanderbewegungen – was auch schon die EU bemerkt hat. In Europa werde oft so getan, als wären diese Menschen dann eine Bedrohung, weil alle nach Europa kommen wollten oder kommen könnten, erklärt Sophia Wirsching. Das entspreche aber nicht der Realität. Die meisten Menschen, die aufgrund von Umwelt- oder Klimakatastrophen ihre Heimat verlieren, möchten gar nicht ganz anderswo hin. Der eigene Kulturkreis sei ihnen lieber als ein neues Leben in einem fernen Europa.

»Wir sehen es als Aufgabe Europas, der EU an, den bedrohten Völkern zu helfen«, sagt Wirsching. Die Klimaänderung sei teilweise verursacht durch die Industrienationen. Sie müssten folglich als Verursacher Solidarität zeigen mit jenen, die unverschuldet unter den Wirkungen der vergangenen Sünden zu leiden haben.

Als besten Weg sehen dabei viele Hilfsorganisationen die Vorsorge an. Maßnahmen müssten getroffen werden, damit die Folgen des Klimawandels die Bewohner bedrohter Gebiete so wenig wie möglich treffen. Das Bauen von Dämmen oder das Pflanzen von Mangrovenwäldern in Küstenregionen seien solche Präventivmaßnahmen. Dafür könnte die EU Gelder bereitstellen, was ihre Mitgliedsländer zum Teil schon tun. So auch die Bundesrepublik. Doch statt dem Thema die Bedeutung beizumessen, die es laut Brot für die Welt verdient, ist auch hier der Rotstift im Zuge der jüngsten Sparmaßnahmen kräftig angesetzt worden. Von 128,9 Millionen Euro wurde das Budget 2011 für zivile Krisenprävention beim Auswärtigen Amt auf 90,3 Millionen Euro gekürzt. Von 96 Millionen auf 76,8 Millionen Euro ging es beim Etat für humanitäre Hilfe herunter, von 20,7 auf 10,2 Millionen Euro bei den Bemühungen um die Menschenrechte. Ein Weg in die falsche Richtung, wie Sophia Wirsching findet.

Unterstützung aus europäischer Perspektive erhält sie dabei von der Politikerin Cornelia Ernst. »Wir bekräftigen als Linke im Europaparlament unsere Forderung nach einer neuen Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsstrategie der EU«, sagt sie. Die soziale Dimension des Klimawandels müsse anerkannt, der Status des Umweltflüchtlings eingeführt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Juli 2010


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