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Gestrandet

Afrikaner an den Südgrenzen Europas: Unterwegs mit Flüchtlingen auf Malta. Reportage

Von Andreas Boueke *

Der süße Geruch von Wasserpfeifen liegt in der Luft. Ventilatoren surren. Ich bin der einzige Europäer im Raum. Die meisten der etwa vierzig afrikanischen Männer sitzen auf alten Sofas vor zwei Fernsehern. In dem einen läuft eine somalische Seifenoper, in dem anderen kommen Nachrichten aus Eritrea. Ein paar Männer spielen Billard. Die meisten stammen aus Somalia. Zwei Iraner spielen Schach.

In der Cafeteria des Flüchtlingsheims Marsa Open Center im Osten der Mittelmeerinsel Malta warte ich auf die Sozialarbeiterin Sandra Schembri. Wir sind zum Lunch verabredet. Als sie den Raum betritt, wird sie sofort von mehreren Männern umringt. Einige schimpfen, der Ventilator in ihrem Schlafsaal sei ausgefallen. Andere fragen, ob es demnächst einen Computerkurs geben wird. Sandra Schembri arbeitet in der Verwaltung des Flüchtlingsheims, souverän beantwortet sie die Fragen. Dann setzt sie sich zu mir an den Tisch. »Diese Leute sind sehr stark«, sagt sie. »Sie sind Überlebenskünstler. Auf ihrem Weg hierher haben sie andere sterben sehen. Sie selbst haben überlebt. Das ist natürlich hart. Ich glaube, die Hoffnung, der Traum von einer besseren Zukunft, hat sie am Leben gehalten.«

Sandra Schembri führt durch das renovierungsbedürftige Gebäude des Marsa Open Center. Zur Zeit werden viele Schlafsäle umgebaut. Doch noch sind in den meisten Räumen über zwanzig Flüchtlinge untergebracht. Auf der Dachterrasse ist ein halbes Dutzend Satellitenschüsseln an einem Geländer befestigt. Dort treffen wir einige Männer, die um einen Tisch stehen, an dem zwei Schach spielen. Ich frage, ob ich ein Foto machen darf. Keine Antwort. Plötzlich fordern mich zwei junge Männer auf, die Kamera in der Tasche stecken zu lassen. »Viele von uns werden in unserer Heimat verfolgt«, sagt einer. »Wir wollen nicht erkannt werden.«

Einer der beiden, Zacaria, erzählt: »Im Jahr 2007 bin ich aus Somalia geflohen. Dort war Krieg, und ich habe in einer gefährlichen Gegend gelebt. In Somalia hast du immer Angst. Deshalb fliehen die Leute, vor dem Krieg und der Angst. Wenn du auf den Markt gehst, weißt du nicht, ob du wieder zurückkommen oder sterben wirst. Viele meiner Freunde und Angehörigen sind tot. Wenn du abends ins Bett gehst, können in der Nacht Bomben explodieren oder es gibt Artilleriebeschuß. Am nächsten Morgen erfährst du dann, daß alle deine Nachbarn tot sind.«

Zacarias Freund Mohammed ist seit fünf Jahren auf Malta. »Als wir noch in Somalia waren, haben wir geglaubt, in Europa könnten wir ein gutes Leben führen. Wir dachten, wir würden sofort Arbeit finden, wir könnten etwas lernen, wir würden uns anstrengen und etwas erreichen. Alle denken so. Wir haben das im Fernsehen gesehen. Die Leute in Europa, in Deutschland und anderswo, haben große Häuser und viele Autos, die sie gleich neben ihrem Haus parken.«

Zacaria ist 24 Jahre alt. Um seinen Traum von Europa zu verwirklichen, hat er sein Leben aufs Spiel gesetzt. »Nach ein paar Tagen in der Wüste glaubt niemand mehr, daß er da lebendig wieder rauskommt. Du hast keine Ahnung, wohin du gehst. Norden, Osten, Süden? Du verlierst die Orientierung. In der Wüste haben wir viele Knochen gesehen.«

Zacaria macht den Eindruck eines sensiblen, offenen Menschen. Er erzählt mit sanfter Stimme. Dabei schaut er mir in die Augen. Mohammed ist anders. Seine Gesichtszüge sind hart. Er lacht selten und meidet Blickkontakt. »Wenn ich mich an diese Zeit erinnere, dann tut mir das weh. Einige meiner Freunde sind in der Sahara gestorben.« Mohammed will nicht weiter über seine Flucht sprechen. Umso ausführlicher schimpft er über die Verhältnisse auf Malta. Nach seiner Ankunft war auch er lange in einem Internierungslager. Nur wenige Hilfsorganisationen dürfen mit den Häftlingen dort sprechen. Deshalb glaube ich Mohammed nicht so recht, als er vorschlägt, ich solle mir selbst ein Bild von den überfüllten Zellen machen. Er behauptet, er könne mir Zugang zum berüchtigten Lager Hal Far verschaffen. Aber Malta ist ein Land der Europäischen Union. Da wird es auch mit Tricks nicht möglich sein, eben mal schnell in Zellen internierter Flüchtlinge zu schauen. Mohammed aber bleibt dabei: Er will mich nach Hal Far bringen. Er telefoniert.

Kurz darauf verlassen wir das Marsa Open Center. Vor dem Tor wartet ein Auto. Der Fahrer ist ein junger Somali mit maltesischer Arbeitserlaubnis. Von seinem Gehalt als Maurer kann er sich nicht nur das Auto leisten, sondern auch modische Kleidung und eine golden funkelnde Uhr am Handgelenk. Aber die wenigen Zähne, die er noch hat, sind in bemitleidenswertem Zustand.

Nach wenigen Kilometern haben wir die maltesische Hauptstadt Valetta hinter uns gelassen. Die Fahrt führt durch eine trostlose felsige Gegend. Mohammed erklärt: »Wir fahren zum Internierungslager Hal Far. Dort zeigen wir dir, wie unsere Leute leben. Es ist schlimm. Manche bleiben bis zu drei Jahre in Haft, ohne irgendeinen Grund. Das Lager wird von Soldaten bewacht.«

Plötzlich halten wir vor einer hohen Mauer, die mit Stacheldraht gesichert ist. Mohammed, Zacaria und ich steigen aus dem Auto und gehen zu einem Schlagbaum. Ein großes Schild warnt: Achtung Militärgebiet! Es ist der Eingang zu Hal Far. Mohammed sagt, wir müßten warten. In der vergangenen Woche seien neue Migranten aus Somalia inhaftiert worden. Er will, daß ich mit ihnen spreche.

In dem Pförtnerhäuschen sitzt ein Soldat. Er beobachtet uns, telefoniert und kommt dann freundlich lächelnd auf uns zu. Hinter ihm tauchen vier seiner Kameraden auf, mit Maschinengewehren und grimmigem Blick. Für diesen Moment hat sich Mohammed eine wenig überzeugende Geschichte zurechtgelegt: Vor kurzem sei sein Cousin nach Malta gekommen und inhaftiert worden. Er müsse dringend mit ihm sprechen. Offenbar glaubt er wirklich, daß er damit durchkommt. Der Soldat gibt sich hilfsbereit, wohl auch, weil ich mich mit einer Presseakkreditierung der maltesischen Informationsbehörde ausweisen kann. Er fragt: »Haben Sie schon mit jemandem gesprochen? Können Sie mir den Namen nennen?«

Mohammed antwortet: »Ja, mit Pater Phillip.«

Der Soldat kennt den Priester nicht: »Sie haben mit einem Pater Phillip gesprochen? Wer ist das?«

Der Soldat versucht, den Chef des Lagers zu erreichen, Cornel Gatt. »Wenn er etwas von Ihrem Besuch weiß, können Sie rein. Für uns ist das kein Problem. Aber wenn er nein sagt, dann ist es unmöglich.«

Das Telefon klingelt. Der Soldat geht hin und antwortet. Als er zurückkommt, verfliegt Mohammeds Optimismus. »Tut mir leid, meine Herren«, sagt der Soldat. »Versuchen Sie es auf dem Verwaltungsweg. Der Chef ist Cornel Gatt.«

Flucht übers Mittelmeer

Unser Auto ist längst weg. Wir setzen uns in den Schatten eines Baumes, um ein paar Schluck Wasser zu trinken. Ich frage Zacaria nach seiner Fahrt übers Mittelmeer. »Wir wollten gar nicht nach Malta, aber unser Boot ist kaputtgegangen, und wir haben die Orientierung verloren. Die Frauen und Kinder haben viel geweint. Sie haben geschrien: ›Wir werden sterben.‹ Ich dachte auch, daß wir sterben würden. Aber dann sind Boote der maltesischen Marine gekommen und haben uns gerettet. Wir kamen gleich in Haft. Wir wußten nicht, daß wir in Malta eingesperrt werden. Wir glaubten, daß Europa sicher ist, daß wir hier ein besseres Leben führen würden. Als wir eingesperrt wurden, dachte ich, daß es auf der ganzen Welt keinen sicheren Ort gibt. Alle waren enttäuscht und haben gesagt: ›Heute ist alles vorbei.‹«

Wir gehen wieder über die staubige Straße. Mohammed hat noch nicht aufgegeben. »Ich will, daß du siehst, wie die Migranten hier auf Malta wirklich leben«, sagt er. »Wie schwierig ihr Leben ist.« Er will, daß ich in Deutschland über die Not der Afrikaner auf Malta berichte.

Nach wenigen Minuten erreichen wir eines der vom Staat betriebenen offenen Lager. Doch auch da kommen Journalisten nicht ohne aufwendiges Genehmigungsverfahren rein. Wir gehen an einem Maschendrahtzaun entlang, der zuätzlich mit Stacheldraht gesichert ist. Mohammed kennt eine Öffnung im Zaun, direkt neben der Straße. Das Open Center Hal Far ist kein Gefängnis, sondern ein offenes Lager für Afrikaner, die aus der Haft entlassen wurden. Alle können ein und aus gehen, aber niemand das Lager unangemeldet betreten. Doch Mohammed meint, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen. Dann zwängt er sich durch das Loch im Zaun.

Afrikanische Männer sitzen im Schatten zweier Bäume. Sie freuen sich über den Besuch. Mohammed stellt mich als Journalisten aus Deutschland vor. Sofort fangen sie an, über die Zustände im Lager zu klagen. Einer zeigt mir sein Mittagessen. Spaghetti mit Tomatensoße. Sieht eigentlich ganz lecker aus. Die Männer sagen, das gebe es jeden Tag, morgens, mittags und abends. Immer Spaghetti.

Mohammed und Zacaria sind gläubige Muslime. Es ist längst Zeit für ihr Gebet. Die anderen Männer führen mich durch das Lager. Sie zeigen mir die großen Container, in denen jeweils zwanzig Männer schlafen. Manchmal müssen sich zwei ein Bett teilen. Nachts wird es in den blechernen Kisten oft so heiß, daß einige Männer ihre Matratzen nach draußen bringen und sich auf den asphaltierten Platz legen, über den der Wind den Staub bläst. Manche sitzen hier seit über fünf Jahren fest.

Demonstration in Valletta

Eines Abends schlägt Mohammed vor, an einer Demonstration teilzunehmen. Mehrere hundert afrikanische Flüchtlinge haben sich vor dem Haupttor von Vallettas Altstadt zusammengefunden. Mohammed freut sich, daß so viele gekommen sind: »Sie wollen der Regierung sagen, was hier passiert. Wir wollen klar machen, daß wir keine Tiere sind. Wir sind Menschen wie die Malteser. Alle Menschen stammen von Adam und Eva ab. Alle sind Brüder. Wir wollen keine Probleme machen. Aber hier passiert viel Schlimmes.«

Auslöser der Demonstration war der Tod des Flüchtlings Mamadou Kamara aus Mali. Er lebte illegal auf Malta, wurde schwer krank und mußte behandelt werden. Im Krankenhaus hat ihn die Polizei verhaftet und wollte ihn in ein Internierungslager bringen. Der junge Mann versuchte zu fliehen. Die Polizisten haben ihn wieder gefaßt und zum Internierungslager Safi gefahren. Als Mamadou Kamara dort ankam, war er tot.

Einer der Malteser, die für die Rechte der Flüchtlinge kämpfen, ist der Anthropologe André Callus: »Migranten sind weder hilflose Opfer noch eine Bedrohung. Es sind Leute, die über ihre Situation sprechen wollen. Das ist sehr wichtig. Diese Menschen hier haben die Internierungslager hinter sich. Sie sind gekommen, um für eine bessere Behandlung zu kämpfen und für die Menschenrechte der anderen, die noch im Gefängnis sitzen.«

Der Demonstrationszug ist vor dem maltesischen Parlamentsgebäude angekommen. Verschiedene Redner stellen sich auf einen Stuhl und greifen zum Mikrofon. Auch André Callus hält eine engagierte Rede: »Die Gewalt in den Haftanstalten ist zur gängigen Praxis geworden. Davon weiß die Öffentlichkeit nichts, weil es innerhalb der geschlossenen Lager geschieht. Jede Woche werden Leute geschlagen. Schuld daran ist das System.«

Zur Zeit leben etwa 6000 Migranten aus Afrika auf der Mittelmeerinsel Malta. Die meisten haben eine befristete Aufenthaltsgenehmigung oder werden geduldet. Kriegsflüchtlinge vom Horn von Afrika werden gewöhnlich nicht abgeschoben. Aber die meisten Migranten aus Westafrika gelten als Wirtschaftsflüchtlinge. Sie leben mit der Sorge, plötzlich ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren. Auch deshalb sehen sie Malta meist nur als Durchgangsstation auf ihrem Weg zum europäischen Festland. Jedes Jahr verlassen Hunderte den Inselstaat illegal, in der Hoffnung, in Ländern wie Italien, Deutschland oder Schweden bessere Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Doch wenn sie dort von den Behörden identifiziert werden, werden sie auf Grund des Dub­lin-II-Abkommens der EU-Staaten sofort nach Malta zurückgeschickt. So findet man in der kleinen Republik viele junge Männer, die schon mehrfach einige Monate lang illegal in Deutschland gearbeitet haben.

Das größte staatliche Lager für die afrikanischen Migranten auf Malta ist Hal Far. Dort sind rund 700 Menschen untergebracht. Über die Hälfte der Flüchtlinge lebt in solchen Lagern. Einige private und kirchliche Träger haben bessere Unterkünfte eröffnet für Frauen, Familien und Kranke. Wer einen legalen Aufenthaltsstatus hat und Geld verdient, wird dazu angehalten, auf dem freien Markt eine Wohnung zu mieten.

Doch unmittelbar nach ihrer Ankunft werden alle afrikanischen Migranten erst einmal eingesperrt, häufig anderthalb Jahre lang. Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen bezeichnen die Bedingungen in den Haftanstalten als menschenunwürdig. In einem Bericht mit dem Titel »Not Criminials« (keine Verbrecher) ist die Rede von überfüllten Zellen mit zu wenigen Betten; von kaputten Toiletten und einer einzigen Dusche für neunzig Personen; von inhaftierten Kindern, die täglich weniger als eine Stunde an die frische Luft dürfen. Einzelhaft ist eine übliche Disziplinierungsmaßnahme, oft in stinkenden, schmutzigen Zellen.

Ende 2012 waren 45,2 Millionen Menschen Flüchtlinge im Ausland oder Vertriebene im eigenen Land, teilten die Vereinten Nationen in Genf zum Weltflüchtlingstages am 20. Juni mit. Das sei der höchste Stand seit 18 Jahren. Allein 2012 seien 7,6 Millionen Menschen aus ihren Heimatorten geflohen, erklärte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Die Hauptlast tragen arme Staaten: 81 Prozent aller Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern.

* Aus: junge Welt, Samstag, 22. Juni 2013


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