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Athens antimigrantischer Schutzwall

Mit dem Zaun zur türkischen Grenze drückte Griechenland die Zahl der illegalen Zuwanderer erheblich

Von Ferry Batzoglou, Nea Vyssa *

Der Grenzzaun an der griechisch-türkischen Grenze ist seit einigen Monaten fertig. Die Zahl illegaler Einwanderer ist stark gesunken. Das neue Ziel für Flüchtlinge heißt Lampedusa.

Die Männer zittern unentwegt. Es ist sieben Uhr, und es ist bitterkalt. Dicker Nebel hüllt den Bahnhof von Nea Vyssa ein, einem griechischen Dorf, das zur Gemeinde Orestiada gehört. Nea Vyssa liegt im äußersten Nordosten von Griechenland, nur ein paar hundert Meter von der Grenze zur Türkei entfernt. Ojud, Yousouf und die anderen sieben jungen Männer aus Bangladesch sind glücklich – trotz der erlittenen Strapazen. Denn sie sind am Ziel, angekommen in Europa. Aber sie haben keine Papiere, keine Arbeit, kaum Geld.

In Edirne, der westlichsten Großstadt der Türkei, auf ihrem europäischen Teil, hatten sie ihre letzte Etappe ins vermeintliche Paradies begonnen. Edirne ist der Flaschenhals für illegale Einwanderer auf ihrem langen, beschwerlichen Weg nach Europa. Denn nur hier macht der Fluss Evros an der 160 Kilometer langen Festlandsgrenze zwischen Griechenland und der Türkei einen Knick und fließt ein Stück durch die Türkei. Brücken führen in Edirne über den Fluss. Dann ist es nur noch ein kurzer Fußmarsch bis zum EU-Außenposten Nea Vyssa. Die Schlepper sagen, wo's langgeht – gegen Bares, versteht sich. Und sie kamen zu Zehntausenden aus Afghanistan, Pakistan, Bangladesch, Iran und Afrika. Griechenland wurde zum Einfallstor in den Westen auf dem Landweg, rund 90 Prozent aller illegalen Einwanderer kamen auf der Balkan-Route nach Europa. An Spitzentagen bis zu 500 Menschen.

Das alles war einmal. Ojud, Yousouf und Gefährten gehören zu den letzten, die es nach Nea Vyssa schafften. Mittlerweile ist die illegale Einreise an dieser Stelle Griechenlands nach EU-Europas ein schier unmögliches Unterfangen.

Der Grund: der Grenzzaun in der Region Nea Vyssa, 10 365 Meter lang, vier Meter hoch, ein Drei-Millionen-Euro-Projekt. Trotz aller pleitebedingten Nöte hat Griechenland den umstrittenen Bau der stacheldrahtbewehrten Sperranlage zu 100 Prozent finanziert. »Ohne Ausrüstung ist der Grenzzaun unüberwindbar«, versichert die griechische Baufirma Dagres.

Fertiggestellt ist der Grenzzaun seit Ende 2012. Doch schon unmittelbar nach Baubeginn im August des vorigen Jahres fiel die Zahl der illegal Einreisenden an der griechisch-türkischen Festlandsgrenze drastisch. Registrierten die griechischen Behörden in diesem Abschnitt in den ersten acht Monaten im Jahr 2012 noch 29 927 illegal Einreisende, waren es von Januar bis Ende August dieses Jahres nur noch 585 – ein Rückgang um volle 98 Prozent.

Die griechischen Behörden können sich nun zudem darauf konzentrieren, gemeinsam mit der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex Europas Grenzen zur Türkei in der östlichen Ägäis besser zu überwachen. Das Ergebnis: Reisten seit 2006 im Schnitt insgesamt mehr als 100 000 Personen pro Jahr illegal nach Griechenland ein (2006: 95 239; 2007: 112 364; 2008: 146 337; 2009: 126 145; 2010: 132 524, 2011: 99 368; 2012: 76 878), waren es in den ersten acht Monaten des laufenden Jahres nur noch 26 772. Die Athener Tageszeitung »Kathimerini« frohlockte mit Blick auf den Grenzzaun: »In Evros kommt nicht einmal eine Mücke über die Grenze.« Evros ist die östlichste Präfektur des griechischen Festlands und der Verwaltungsregion Ostmakedonien und Thrakien.

Fest steht jedenfalls, dass der Fluchtstrom über die Balkan-Route und das östliche Mittelmeer praktisch versiegt ist. Den illegalen Einwanderern bleiben nach Europa jetzt nur die Routen über die arabischen Staaten Algerien, Libyen und damit eben das Mittelmeer und hochriskante Überfahrten. Enorme Gefahren birgt bei stürmischer See insbesondere die Route von Libyen aus, wie die jüngsten Unglücke mit Hunderten Ertrunkenen vor der italienischen Insel Lampedusa und vor Malta beweisen. Ohne Griechenlands neuen Grenzzaun in Nea Vyssa wären sie vielleicht noch am Leben. So wie Ojud und Yousouf.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 15. Oktober 2013


Das neue Libyen in alter Rolle

Die Flüchtlingspolitik der Gaddafi-Zeit setzt sich fort

Von Roland Etzel **


Nach der erneuten Flüchtlingstragödie im Mittelmeer hat Maltas Regierungschef Joseph Muscat eine »klare Strategie« der Europäischen Union in der Flüchtlingspolitik angemahnt. Muscat war am Sonntag aus Libyen zurückgekehrt, wo er mit seinem Amtskollegen Ali Seidan über dieses Problem konferiert hatte. Es ist allerdings höchst unklar, in welcher Hinsicht das EU-Mitgliedsland Malta die »klare Strategie« verstanden wissen möchte. Das maltesische Klagelied hört sich nicht danach an, dass Muscat nun die EU-Abschottungspolitik, brandmarken wollte, sondern mehr nach Missmut, mit der praktischen Durchführung der Drecksarbeit allein gelassen zu werden.

Noch weniger sprechen die Äußerungen seines libyschen Gesprächspartners Seidan für in der Zukunft günstigere Fluchtbedingungen von Libyen nach Norden. Die Überlebenden des neuerlichen Bootsunglücks im Mittelmeer Ende vergangener Woche waren nach eigener Aussage von libyschen Marinebooten beschossen worden. Dies hatte zum Tode von mindestens 30 der Passagiere geführt. Seidan jedenfalls verzichtete im Gegensatz zu manchem verantwortlichen EU-Politiker auf jegliche heuchlerische Einlassung.

Es sieht so aus, als sei die Verhinderung von Fluchten über das Mittelmeer von libyschem Boden aus die einzige außenpolitische Kontinuität aus der Zeit der Gaddafi-Herrschaft, der sich das neue Libyen verpflichtet fühlt. Der vor zwei Jahren nach einem NATO-Luftkrieg getötete Staatschef Muammar al-Gaddafi hatte mit der EU ein Abkommen geschlossen, das verkürzt lautete: Ihr zahlt, und ich halte euch afrikanische Flüchtlinge vom Leibe. Wie, muss euch nicht interessieren.

Und es interessierte sie auch nicht. Gaddafi verlangte dafür fünf Milliarden Dollar. Genaueres oder überhaupt eine Bestätigung dafür gab es aus Brüssel nicht. Gaddafi allerdings fühlte sich zum großen Ärger der Eurokraten an kein Schweigegelübde über den Todeshandel gebunden. Bei seinem letzten Staatsbesuch in Italien im August 2010 schmetterte er es dem pikiert schweigenden Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi entgegen: Libyen sei das Eingangstor der »unerwünschten Immigration« nach Westeuropa. Diese könne nur an den Grenzen seines Landes gestoppt werden. Es liege deshalb ganz im Interesse der EU, auf seine Milliardenforderung einzugehen, »sonst kann Europa schon morgen zu einem zweiten Afrika werden«. Auch das haben die EU-Saubermänner Gaddafi nie verziehen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 15. Oktober 2013


Abwehr oder Hilfe

Italien streitet über sein Einwanderungsgesetz

Von Wolf H. Wagner, Florenz ***


Während vor Italiens Küste Flüchtlinge ertrinken, streitet die große Koalition in Rom über das als rassistisch bezeichnete Bossi-Fini-Gesetz von 2002 über Einwanderung.

EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström dankte italienischen und maltesischen Rettern bei der jüngsten Flüchtlingskatastrophe und hatte sich von den katastrophalen Zuständen auf Lampedusa ein Bild gemacht. Sie fordert: »Europa muss eine Lösung für die Einwanderungspolitik finden.« Das Thema steht auf der Agenda des EU-Gipfels am 24. Oktober.

Italiens Premier Enrico Letta sprach sich für eine umgehende Lösung und ein neues Migrationsgesetz aus. Nach dem so genannten Bossi-Fini-Gesetzes steht »illegale Einwanderung« – und dieser machen sich die Bootsflüchtlinge schuldig – unter Strafe. Letta will das Gesetz abschaffen und steht mit dieser Forderung nicht allein: Gewerkschafter, linke Parteien und Organisationen sowie eine Vielzahl italienischer Bürger fordern die Aufhebung des als rassistisch bezeichneten Gesetzes.

Doch der Chef der Mitte-Rechts-Partei Popolo della Liberta, Innenminister Angelino Alfano, erklärt, das bestehende Gesetz erfülle alle Normen, um Italien vor einem »Ansturm illegaler Einwanderer« und Wirtschaftsflüchtlingen zu schützen. Alfano forderte verstärkte Anstrengungen der europäischen Grenzorganisation Frontex, um die Einwanderer abzuwehren. Am besten wäre ein gemeinsamer europäischer Polizeieinsatz bereits auf libyschem Territorium, um schon das Chartern und Besteigen der Boote zu unterbinden.

Auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, forderte in einem Treffen mit Enrico Letta eine Liberalisierung der europäischen Einwanderungspolitik. Die Menschen, die aus Notstands- und Kriegsgebieten kommen, dürften von den Europäern nicht allein gelassen werden, so Schulz und Letta übereinstimmend.

Doch die Diskussion um die Einwanderung könnte neuer Sprengstoff für die große Koalition werden, die sich gerade mit Mühe über den »Fall Berlusconi« gerettet hatte. Denn auch seitens der rechtsgerichteten und nationalistischen Lega Nord, deren Gründer Umberto Bossi mitverantwortlich für das umstrittene Gesetz zeichnete, kommt Unterstützung für die Position Alfanos und der Pdl. Der Gouverneur von Piemont, Roberto Cota, erklärte, Einwanderung solle dem Gesetz nach nur dem gewährt werden, der eine Arbeitsstelle in Italien nachweisen kann. Alle anderen machten sich einer kriminellen Handlung schuldig.

Doch indessen gehen die gefährlichen Schiffspassagen weiter. Tausende werden trotz stürmischer See und schlechter Boote folgen. Die nächsten Katastrophen sind programmiert.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 15. Oktober 2013


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