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Flüchtlinge bleiben unerwünscht

Auf Druck aus Deutschland weigern sich EU-Innenminister die Asylgesetzgebung zu ändern

Von Katja Herzberg *

Wenn EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso heute die italienische Insel Lampedusa besucht, um die Opfer des jüngsten Bootsunglücks mit weit mehr als 200 toten Flüchtlingen zu betrauern, wird er den Betroffenen keine Lösungen präsentieren können.

Für den deutschen Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) stand schon vor Beginn des Treffens mit seinen europäischen Amtskollegen in Luxemburg fest, dass die EU-Asylpolitik auch nach der Tragödie auf Lampedusa vom vergangenen Donnerstag nicht angetastet wird. Mit dem Satz »Dublin II bleibt unverändert, selbstverständlich«, untermauerte er seine und damit die Auffassung der Bundesregierung, Deutschland sei bereits für genügend Schutzwürdige offen. Weiterhin bleibe das Land für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Bearbeitung ihrer Asylanträge zuständig, in dem Ankömmlinge zuerst die Europäische Union erreichen.

Den italienischen Kollegen, die das Thema Asylgesetzgebung auf die Tagesordnung des Ratstreffens am Dienstag setzen ließen, schnitt Friedrich damit das Wort ab. Der Innenminister Angelino Alfano wollte einen europäischen Aktionsplan fordern, um sein Land bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen. Ministerpräsident Letta kündigte derweil an, das strenge italienische Einwanderungsgesetz zu überdenken. Seit 2009 stellt es »illegale Einwanderung« unter Strafe. So wird gegen die 155 Überlebenden des Unglücks auf Lampedusa ermittelt.

Auch am Dienstag wurden vor der Küste der Mittelmeerinsel weitere Todesopfer geborgen. Ihre Zahl stieg auf 274. Nach Angaben der Überlebenden befanden sich zum Zeitpunkt des Brandes, der den Kutter am frühen Donnerstagsmorgen zum Kentern brachte, 518 Menschen an Bord. Laut tagesschau.de ist nun der Kapitän festgenommen worden. Gegen den 35-jährigen Tunesier wird unter anderem wegen mehrfachen vorsätzlichen Totschlags und Havarie ermittelt, wie italienische Medien unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft berichteten.

Für Unmut sorgten auch erneut die Bedingungen im Auflanglager von Lampedusa. Internierte Flüchtlinge warfen Medienberichten zufolge Matratzen aus den Gebäuden und versuchten, Busse mit Neuankömmlingen auf dem Weg ins das überfüllte Lager aufzuhalten. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR teilte mit, die dortigen Lebensbedingungen seien »vollkommen inakzeptabel«.

Die Regelungen zur Inhaftierung von Schutzsuchenden sind Bestandteil des im Juni letzten Jahres verabschiedeten Gesetzespakets zum Europäischen Asylsystem. Mehr Beachtung als notwendige Änderungen an diesem sollte am Dienstag das von Friedrich bereits mehrfach vorgebrachte Thema der sogenannten »Armutszuwanderung« erhalten. Die EU-Kommission reagierte nun mit zweierlei: Sie präsentierte einen Aktionsplan zur Unterstützung der EU-Staaten bei der Bekämpfung von Zweckehen und zur einfacheren Ermittlung der Wohnsitze der Einwanderer. Zudem soll Geld aus dem Europäischen Sozialfonds ab 2014 verstärkt in die soziale Integration und den Kampf gegen Armut gesteckt werden.

Die Präsentation der der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vorliegenden Studie des Sozialkommissars László Andor zur Bedeutung des Zuzugs aus Osteuropa blieb Brüssel dagegen noch schuldig. Friedrichs Äußerungen über vermeintlichen Missbrauch der Freizügigkeit werden in dem Bericht nicht bestätigt. Der Anteil der EU-Zuwanderer habe sich im vergangenen Jahrzehnt zwar von 1,3 Prozent auf 2,6 Prozent der EU-Bevölkerung verdoppelt. Zugleich ist der Anteil der nicht arbeitenden Zuwanderer innerhalb der EU zwischen 2005 und 2012 aber von 47 auf 33 Prozent gesunken.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Oktober 2013


Große Worte, verstärkte Abschottung

Nach dem Unglück von Lampedusa glaubt Pro Asyl nicht an einen Wandel der EU-Flüchtlingspolitik **

Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von Pro Asyl. Die Menschenrechtsorganisation setzt sich für den Schutz und die Rechte verfolgter Menschen in Deutschland und Europa ein. Mit ihm sprach Stefan Otto.


Angesichts der jüngsten Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) dafür plädiert, afrikanische Staaten vermehrt zu unterstützen. Ist das ein richtiger Ansatz?

Nein, es macht überhaupt keinen Sinn, eine Verstärkung von Entwicklungshilfe zu fordern, wenn man auf Staaten wie Somalia oder Eritrea zielt.

Warum das nicht?

Eritrea ist ein Staat, in dem es eine Militärdiktatur gibt. Somalia ist ein zerfallender Staat, in dem Warlords regieren. Hier bringt es nichts, Entwicklungshilfe zu erhöhen, so sympathisch mir diese Forderung generell ist.

Aber bei anderen Staaten könnte das Sinn haben?

Ich halte die Debatte über eine Erhöhung der Entwicklungshilfe, die jetzt geführt wird, für ein Ablenkungsmanöver – weil man damit indirekt davon ablenkt, dass es vor allem Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia und auch aus Syrien sind, in dem seit zwei Jahren Bürgerkrieg herrscht, die in ihrer Verzweiflung in die oftmals nicht seetüchtigen Boote gehen, um Europa zu erreichen.

Was müsste die Europäische Union also dringend tun?

Europa müsste die Grenzen öffnen und großzügig Visa erteilen für Flüchtlinge, die nach Europa wollen und Schutz benötigen. Deutschland könnte das Resettlement-Programm ausbauen.

Das heißt?

Von dem Flüchtlingshilfswerk der UNO (UNHCR) anerkannte Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten aufnehmen. Deutschland müsste seinen Widerstand gegen das Dublin-Abkommen aufgeben, wonach die Staaten ein Asylgesuch prüfen müssen, in denen die Flüchtenden erstmals die EU betreten haben. Damit wird strukturell die Verantwortung auf die Grenzstaaten der Europäischen Union abgeschoben.

Die Außenpolitik der EU-Mitgliedsstaaten scheint vor allem von nationalstaatlichen Interessen geleitet zu sein. Nicht zuletzt zeigt dies der Vergleich der Bundesregierung, wonach Deutschland im vorigen Jahr mehr Flüchtlinge aufgenommen hätte als Italien oder Griechenland.

Dazu muss man sagen, dass es in Griechenland oft gar keine Möglichkeit gibt, einen Asylantrag zu stellen wie beispielsweise in Deutschland. In Griechenland oder in Italien sind die Menschen oftmals nur gestrandet und wollen durchreisen in ein anderes europäisches Land. Deshalb schlagen sich die Zugangszahlen auch nicht in den Asylzahlen nieder.

Wenn die EU-Außenpolitik maßgeblich von nationalstaatlichen Interessen bestimmt wird, ist mit dieser Haltung eine Asylpolitik möglich, die Flüchtlingen zugute kommt?

Da habe ich meine Zweifel. Es herrscht unverändert eine Abwehrhaltung in der deutschen und in der europäischen Politik. Die bestimmt die Diskussionen.

Die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström hat dazu angeregt, dass die europäische Grenzschutzagentur Frontex in Seenot geratene Flüchtlinge retten soll. Ist das ein richtiger Ansatz?

Frontex ist eine Agentur mit dem Auftrag, die angeblich illegale Einwanderung zu verhindern. Daher ist Frontex als Institution denkbar ungeeignet, die Flüchtlinge aus Seenot rettet und dann an das europäische Festland transportiert, wo die Menschen Asylanträge stellen können. Frontex hat ja einen anderen Auftrag: Erstens ist das die Grenzabschottung und zweitens klärt Frontex in der Regel auf, meldet die Flüchtlingsboote an die nationalen Küstenwachen. Das führt dazu, dass es etwa in Griechenland zu systematischen Zurückweisungen an der Grenze kommt.

Halten Sie nach der Katastrophe von Lampedusa einen Wandel in der europäischen Flüchtlingspolitik für wahrscheinlich?

Nein. Im Moment deutet alles darauf hin, dass man große Worte schwingt, im Wesentlichen aber die Abschottung weiter verstärken will.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Oktober 2013


Friedrich hat ...

»... die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Deutscher Innenminister hetzt gegen Armutsmigranten. Nach Flüchtlingskatastrophe fordern EU-Politiker noch mehr Frontex-Einsätze

Von Ulla Jelpke ***


Noch mehr Abschottung – das ist die zynische Konsequenz, die EU-Politiker aus der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa ziehen. Als Hardliner tritt insbesondere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) auf, der nun auch die Reisefreiheit für EU-Bürger wieder einschränken will.

Verbesserungen am Asylsystem, etwa durch freie Wahl des EU-Landes, in dem Schutzsuchende ihr Asylverfahren betreiben, lehnt Friedrich kategorisch ab. Die Regeln blieben »selbstverständlich« unverändert, sagte er am Dienstag am Rande eines EU-Justiz- und Innenministertreffens in Luxemburg. Insbesondere Griechenland und Italien sehen sich mit der Aufnahme von Flüchtlingen überfordert. Die anderen EU-Staaten lehnen es ab, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.

Der Tod von vermutlich über 300 Menschen, die am Donnerstag bei ihrer Flucht aus Nordafrika im Mittelmeer ertranken, dient der EU als Anlaß, die Grenzüberwachung auszuweiten. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström forderte gestern »eine große Frontex-Operation im gesamten Mittelmeer von Zypern bis Spanien«, angeblich zur Seenotrettung. Flüchtlingsorganisationen berichten aber immer wieder, daß Schutzsuchende von Grenzpolizisten gewaltsam zur Umkehr gezwungen werden. Malmströms Forderung dürfte jedoch vor allem am mangelnden Willen der EU-Staaten zur Finanzierung scheitern. Friedrich verwies darauf, daß im Dezember das neue Grenzüberwachungssystem Eurosur in Betrieb gehe, das allerdings ausschließlich der Kontrolle dienen soll. Die Forderung des Europaparlaments, es auch zur Rettung Schiffbrüchiger einzusetzen, war von den EU-Regierungen abgelehnt worden.

Friedrich fordert eine stärkere Kriminalisierung des »Schleuserwesens«. Es dürfe nicht möglich sein, Flüchtlinge »auf diesen unglaublich unsicheren Booten aufs Mittelmeer zu schicken«. Außerdem, so der Minister, sollten die afrikanischen Staaten die Flüchtlingssituation bei sich verbessern. Die Linksfraktion wies in einer Presseerklärung darauf hin, es sei gerade die aggressive Freihandelspolitik der EU, die Menschen zur Flucht und in die Hände von Schleusern zwinge. Auf konkrete Maßnahmen hatten sich die EU-Minister bis jW-Redaktionsschluß nicht geeinigt.

Zugleich legte sich Friedrich an anderer Stelle mit der EU-Kommission an: Es müsse endlich Schluß mit dem »Mißbrauch des Freizügigkeitsrechts« innerhalb der Union sein. Gemeint ist damit ein angeblicher Zustrom vor allem von Rumänen und Bulgaren nach Deutschland, die in betrügerischer Weise Sozialleistungen erschleichen wollten. Friedrich will dem mit Ausweisungen und Wiedereinreisesperren entgegentreten. Die Süddeutsche Zeitung stellte gestern Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vor, die diese Behauptungen nicht belegen: Der Anteil von Kindergeld­empfängern mit bulgarischer oder rumänischer Staatsangehörigkeit ist zwar im vorigen Jahr gestiegen, liegt aber bei 0,4 Prozent aller Empfänger, bei Hartz IV beträgt der Anteil 0,6 Prozent. Probleme gibt es allenfalls in wenigen Großstädten. Angesichts dieser Zahlen, die keinerlei justiziablen »Mißbrauch« der Sozialleistungen belegen, bezeichnete EU-Justizkommissarin Viviane Reding die deutschen Forderungen nach Einschränkung der Freizügigkeit als »populistische Bangemacherei«.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Oktober 2013


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