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Deutlich mehr Flüchtlinge an EU-Grenzen abgefangen

Europaparlament verändert nach Schiffskatastrophen vor Lampedusa Regeln für Einsätze der Küstenwachen bei Seenotrettungen *

Die EU verändert ihre Gesetze zur Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Im dritten Quartal 2013 wurden fast 43 000 Einwanderer an den EU-Südgrenzen abgewiesen.

Über vier Monate nach der Flüchtlingstragödie vor der italienischen Insel Lampedusa verändert die Europäische Union ihre Gesetze über die Seenotrettung und den Schutz von Migranten. Der Innenausschuss des Europaparlaments in Brüssel nahm am Donnerstag eine entsprechende Verordnung an. Das Gesetz gilt für gemeinsame Einsätze mehrerer Küstenwachen, die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert werden. Unter anderem gibt es nun klarere Regeln, welche Behörde in einer Notsituation für welche Rettungsmaßnahme zuständig ist.

Im Oktober waren bei zwei Schiffsunglücken vor Lampedusa mehr als 400 Menschen ums Leben gekommen. Frontex selbst verweist darauf, dass die Agentur bei längst nicht allen Grenzschutzeinsätzen im Mittelmeer eine Rolle spiele. »Alle EU-Länder sollten die neuen Regeln auch dann befolgen, wenn Frontex nicht beteiligt ist«, unterstrich die Liberalenabgeordnete Cecilia Wikström aus Schweden. Die Verordnung sieht beispielsweise auch vor, dass kein Boot auf hoher See zur Umkehr gezwungen werden darf, ohne dass geprüft wird, ob sich unter den Migranten Asylsuchende oder andere schutzbedürftige Menschen befinden.

An den südlichen Grenzen zur EU sind im dritten Quartal 2013 fast doppelt so viele Flüchtlinge abgefangen worden wie im Vorjahreszeitraum. 42 628 Einwanderer seien zwischen Juli und September aufgegriffen worden, teilte Frontex am Dienstag auf ihrer Internetseite mit. Im dritten Quartal 2012 hatte die Zahl demnach bei 22 093 Flüchtlingen gelegen. Hintergrund für die Zunahme sind die verstärkten Kontrollen im Mittelmeer und in der Ägäis.

Die meisten Flüchtlinge stammten dem Bericht zufolge aus Syrien, Eritrea, Somalia und Ägypten. Ihre lebensgefährliche Reise durch das Mittelmeer starten sie in der Regel an den Küsten Libyens oder Ägyptens. Allein 20 000 Einwanderer wurden im dritten Quartal 2013 von den Grenzschützern davon abgehalten, über die italienische Insel Sizilien in die EU zu gelangen.

Auch an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn wurde nach Angaben von Frontex ein deutlicher Anstieg illegaler Grenzübertritte verzeichnet. Des Weiteren meldeten die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta laut dem Bericht einen verstärkten Flüchtlingsansturm. Dort verläuft die einzige Festlandgrenze der Europäischen Union mit dem afrikanischen Kontinent. Mehrere Menschen starben seit Beginn des Jahres bei dem Versuch, dort auf spanisches Territorium zu gelangen. Zahlreiche Einwanderer versuchten zudem über die Türkei in die EU-Länder Bulgarien und Griechenland zu kommen.

Zwischen Juli und September gaben die EU-Länder insgesamt 90 000 Asylanträgen statt, mehr als 32 000 wurden abgewiesen. In mehr als 57 500 Fällen ordneten Gerichte die Abschiebung von Asylsuchenden an, 40 400 von ihnen mussten laut Frontex bereits wieder ausreisen. Die Festnahmen von Einwanderern ohne gültige Aufenthaltserlaubnis stiegen in Deutschland und Frankreich um jeweils etwa ein Viertel an.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 21. Februar 2014


Flüchtige Konsequenz

Katja Herzberg über neue Regeln zur Seenotrettung auf dem Mittelmeer **

Konsequenzen wurden nach den verheerenden Flüchtlingstragödien vor Lampedusa gefordert. Passiert ist jedoch nichts, was die Lebensgefahr vermindert, in die sich Menschen auf der Flucht per Boot nach Europa bringen. Das Überwachungssystem Eurosur, das im Dezember die Arbeit aufnahm, und der verstärkte Einsatz von EU-Grenzschützern zielten einzig auf mehr Kontrolle über die Bewegungen auf dem Mittelmeer. Das ist gelungen, wie neue Zahlen der Agentur Frontex belegen. Nun werden deren Mitarbeiter in einer EU-Verordnung dazu verpflichtet, in Seenot geratene Bootsflüchtlinge zu retten.

Ob damit die Zahl toter Flüchtlinge sinkt, ist zu bezweifeln. Denn schon lange ist die Seenotrettung geltendes Recht. Zumindest wenn die Menschenrechtskonvention – oder noch konkreter – das Rückweisungsverbot in der Genfer Flüchtlingskonvention ernst genommen würde. Danach dürfen weder EU- noch nationale Behörden Notleidende daran hindern, das europäische Festland zu erreichen und einen Asylantrag zu stellen.

Aber genau die Schwierigkeit, diese Rechte wahrzunehmen, wird auch künftige Unglücke bedingen. Eine Berichtspflicht für Frontex beim Europaparlament ist zwar ein erster Schritt. Der reicht aber nicht aus, das Sterben auf dem bestüberwachten Meer der Welt zu verhindern, wenn keine generelle Abkehr von der EU-Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen folgt.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 21. Februar 2014 (Kommentar)


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