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Überlebenstest im Mittelmeer

Amnesty kritisiert Untätigkeit der EU in Asylfrage / de Maizière: Italien soll mehr Flüchtlinge aufnehmen

Von Katja Herzberg *

Ein neuer Bericht von Amnesty International dokumentiert die dramatische Lage für Flüchtlinge im Mittelmeer. Die Politik fühlt sich nicht angesprochen.

»Yahea war 22 ... Ich kann das Meer nicht mehr ansehen. Ich habe darin meinen Freund Yahea verloren, vielleicht habe ich im Meer auch meine Seele und meinen Verstand verloren. Ich hasse das Meer, ich kann es nicht mehr ansehen.« So spricht Mohammed Kazkji heute über seine Flucht aus Syrien nach Europa. Er überlebte das Unglück vom 11. Oktober 2013, als das Boot, auf dem er und sein Freund Yahea aus dem Krieg flohen, 111 Kilometer vor der italienischen Insel Lampedusa sank. Die Hälfte aller Insassen – etwa 200 Menschen – ertrank damals im Mittelmeer.

Tragödien wie diese und insbesondere jene am 3. Oktober letzten Jahres, als mehr als 380 Menschen nur wenige Meter vor dem rettenden Strand Lampedusas ertranken, entfachten eine neue Debatte über die europäische Flüchtlingspolitik. Einziges handfestes Resultat ist bis heute jedoch die Operation Mare Nostrum (Unser Meer), die Italien in Gang setzte. Mit Militärschiffen wurden in den vergangenen elf Monaten über 140 000 Flüchtlinge aus dem Meer gefischt. Mehr als 3000 Menschen sind dennoch allein in diesem Jahr bei Bootsunglücken ums Leben gekommen.

Das ist für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nur logisch: »Da es keine sicheren, regulären Wege nach Europa gibt, ist das Risiko zu ertrinken der Preis, den viele Flüchtlinge und Migranten bezahlen müssen, um Zugang zu Asyl oder Arbeitsmöglichkeiten zu erhalten«, heißt es in einem neuen Bericht, der am Dienstag veröffentlicht wurde. Dafür recherchierte die Organisation im Sommer auf Malta und in Süditalien, befragte Migranten, aber auch Experten und Behördenvertreter. Ihr Ergebnis: Die EU und ihre Mitgliedsstaaten setzen Flüchtlinge einem »Überlebenstest« aus.

»Wenn die EU weiterhin zu ihren ureigenen Werten, nämlich den Menschenrechten, stehen will, darf sie das Sterben im Mittelmeer nicht weiter hinnehmen«, erklärte die Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion, Selmin Çalişkan, am Dienstag. Ihre Organisation fordert nun, dass die EU-Staaten mehr Geld für die Rettung von Flüchtlingen ausgeben, die Beantragung von Asyl direkt an den EU-Außengrenzen ermöglichen und dass die Dublin-II-Verordnung ausgesetzt wird. Nach ihr dürfen Flüchtlinge nur in dem Land Schutz beantragen, in das sie zuerst eingereist sind.

Wenig Hoffnung auf eine Kehrtwende in der EU-Migrations- und Asylpolitik machte jedoch der Auftritt von Dimitris Avramopoulos im EU-Parlament. Schlepper zu verfolgen habe für den Griechen, der als Kandidat für den Posten des EU-Innenkommissars gehört wurde, Priorität.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière zeigte ebenso wenig Interesse daran, mehr Menschen den Zugang zu besseren Lebensbedingungen zu ermöglichen. Er beharrte vielmehr darauf, dass die Mittelmeerstaaten – insbesondere Italien – mehr Flüchtlinge aufnehmen müssten. Anschließend besuchte er Flüchtlingsunterkünfte in Bayern.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014

Hier geht es zu einer Petition von amnesty:

SOS Europa: Erst Menschen, dann Grenzen schützen!
Ein Brief an Bundeskanzlerin Merkel - Bitte unterzeichnen!




Sparen auf Kosten von Flüchtlingen

Ein Papier des nordrhein-westfälischen Innenministeriums fordert weitere Privatisierungen

Von Marcus Meier **


Die Privatisierung von Dienstleistungen in Flüchtlingseinrichtungen führt zu Missständen, wie sich derzeit in NRW zeigt. Doch die Landesregierung setzt offenbar weiter auf das Motto »Privat vor Staat«.

Nach nd-Recherchen strebt das von Rot-Grün regierte Nordrhein-Westfalen die weitere Privatisierung von Flüchtlingseinrichtungen an. So heißt es in einem Bericht einer vom Landesinnenministerium (MIK) eingesetzten Projektgruppe: »Das MIK soll unter Berücksichtigung der bundesweit mit vergleichbaren Projekten gesammelten Erfahrungen prüfen, ob die Planung, die Herstellung, die Finanzierung und die Erhaltung von Aufnahmeeinrichtungen generell oder im Einzelfall privatisiert werden kann.« Und weiter: »Diese Prüfung soll sich auch darauf beziehen, ob sich der Betrieb vorhandener Einrichtung stärker als bisher privatisieren lässt.«

Diese Zeilen aus dem vor einem halben Jahr vorgelegten Bericht gewinnen im Rückblick eine hohe Brisanz: Die beiden wegen gewalttätiger Übergriffe von privatem Sicherheitspersonal in der Kritik stehenden zentralen Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge in Burbach und Essen werden nicht von staatlichen Stellen oder von Wohlfahrtsverbänden betreut, sondern von dem privaten und gewinnorientierten Anbieter European Homecare GmbH.

In beiden Fällen betraute das in Essen ansässige Unternehmen die Nürnberger SKI Wach- und Sicherheitsgesellschaft mbH mit Sicherheitsaufgaben, die diese wiederum von einem Subunternehmer erledigen ließ, der polizeibekannte Gewalttäter als »Sicherheitsleute« einstellte. Was danach geschah, prägt derzeit die Schlagzeilen der Republik.

Das besonders in der Kritik stehende Aufnahmelager in der einstigen Siegerlandkaserne in Burbach wurde im September 2013 eröffnet. Offenbar praktizierte Rot-Grün bereits damals einen Kurs, dessen scheinbare Angemessenheit die Projektgruppe des Innenministeriums wenig später gleichsam wissenschaftlich absegnen sollte.

Die privatisierungsfreundliche Projektgruppe trägt den Namen »Unterbringung von Asylbewerbern in nordrhein-westfälischen Aufnahmeeinrichtungen«. Geleitet wird sie von Georg Nagel, der als Referatsleiter im Innenministerium zuständig ist für die Bereiche Ausländer, Asyl und Extremismus. Eingesetzt hatte sie der 2013 aus diesem Amt geschiedene Innenstaatssekretär Hans-Ulrich Krüger, der nunmehr als SPD-Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des NSA-Untersuchungsausschuss in Berlin weilt.

Im Falle von Privatisierungen, so rät das Papier der Projektgruppe, sollten »die hoheitlichen Aufgaben der Aufnahmeeinrichtungen bei der öffentlichen Hand verbleiben«. Betroffen wären »lediglich Aufgaben des operativen Bereichs«, sofern sie »privatwirtschaftlich effizienter und wirtschaftlicher organisiert werden« können. Dazu könnten laut Papier »die Planung, Herstellung, Finanzierung, Betrieb und Erhaltung von Aufnahmeeinrichtungen generell oder im Einzelfall« zählen. Angedacht ist also ein Modell von Public Private Partnership, das über die bisherige Praxis hinausweist. »Privat vor Staat« – das Motto des einstigen Regierungschefs Jürgen Rüttgers (CDU) lebt unter seiner Amtsnachfolgerin Hannelore Kraft (SPD) fort. Und sei es auf Kosten von Schutzbedürftigen.

European Homecare war laut »Spiegel Online« schon in früheren Jahren wegen erheblicher Missstände in einer Flüchtlingsunterkunft in Traiskirchen (Österreich) aufgefallen. Das Medium zitiert den dortigen Bürgermeister Fritz Knotzer (SPÖ) mit den Worten: »Seit der Privatisierung der Flüchtlingsbetreuung im Lager sind Gewalt, Totschlag, Vergewaltigung und Korruption an der Tagesordnung. Es ist ein einziges Chaos.«

Offenbar hat niemand den Namen des Anbieters gegoogelt, bevor er engagiert wurde. Dabei betreibt European Homecare in Deutschland 40 Einrichtungen für Flüchtlinge. Auf seiner Website wirbt das Unternehmen mit seiner »Effektivität« und »Flexibilität« sowie seinem »Kostenbewusstsein«. Viel spricht dafür, dass European Homecare trotz des Zwangs zur Gewinnerwirtschaftung tatsächlich preisgünstigere Leistungen als der Staat und Wohlfahrtsverbände anzubieten vermag – allerdings auf Kosten der Qualität, der Menschlichkeit und der Breite der Leistungen.

NRW setzt keine gesetzlichen Mindeststandards für die Qualität der sozialen Dienstleistungen in Flüchtlingsunterkünften. Diese Praxis habe sich bewährt, heißt es im Bericht der Projektgruppe des Innenministeriums. Qualitative Standards sollten weiter »ausschließlich durch die Möglichkeiten des Vergabeverfahrens« gesetzt werden, fordern die Bürokraten. Denn »im Falle gesetzlicher Vorgaben« sei zu erwarten, dass die Anbieter »sich darauf beschränken werden, gesetzliche Mindeststandards zu erfüllen«. Angesichts des im Raume stehenden Vorwurfs schwerer Straftaten wirken diese Zeilen zynisch.

Dem Vorwurf, die Kontrollen des Personals in den Asyleinrichtungen seien zu lax gewesen, begegnen das Land, die zuständige Bezirksregierung Arnsberg und der Anbieter European Homecare mit immer neuen Sofort-, Sieben-Punkte- und sonstigen Programmen. »Künftig wird in unseren Landesunterkünften nur noch Sicherheitspersonal beschäftigt, das auf freiwilliger Basis einer Sicherheitsüberprüfung durch Polizei und Verfassungsschutz zustimmt«, schlug nun NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) vor. Dieses Verfahren werde jetzt von der Bezirksregierung auf den Weg gebracht. Damit würde immerhin ein Mangel behoben, der insbesondere vom Bundesverband der Sicherheitswirtschaft kritisiert wird.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014


Für Flüchtlinge nur Ausflüchte

Katja Herzberg über die deutsche Haltung in der EU-Asylpolitik ***

Das Trauerjahr ist fast vorüber, scheint sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière zu denken. Unverhohlen erhöht er in der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik den Druck auf Italien – das Land, das auf der Mittelmeerinsel Lampedusa vor knapp einem Jahr eine der schwersten Flüchtlingstragödien zu bewältigen hatte und seither Zehntausende aus dem Meer rettete. Alle EU-Südländer, aber eben vor allem Italien, müssten mehr Flüchtlinge aufnehmen, so de Maizière. Damit plappert er nicht nur der bayrischen CSU nach, er sucht vor allem nach Ausflüchten, um sich in Deutschland um möglichst wenige Asylsuchende kümmern zu müssen.

Wahr ist, dass in der Bundesrepublik EU-weit die meisten Asylanträge gestellt werden. Doch gemessen an der Bevölkerung hat Schweden den höchsten Flüchtlingsanteil. Und Deutschland gewährt längst nicht allen Menschen, die nach Schutz suchen, eben diesen. Es gelingt ja, wie uns dieser Tage zum wiederholten Male mit schrecklichen Bildern vor Augen geführt wurde, nicht einmal, sie menschenwürdig unterzubringen.

Von den zwischen Januar und August gestellten rund 115 700 Asylanträgen, wurden bisher nur 22 400 positiv entschieden. Damit haben nur 2200 Asylsuchende mehr als im Vorjahreszeitraum einen Schutzstatus erhalten. Tut das Deutschland wirklich weh?

Das zu behaupten und gleichzeitig andere Regierungen anzuprangern, lässt dieses Land wirklich armselig aussehen.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014 (Kommentar)


Neonazis sind als Türsteher ganz normal

Nur lasche Überprüfungen von Sicherheitsfirmen

Von René Heilig ****


Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist sich sicher, dass andere Bundesländer die Vorfälle in nordrhein-westfälischen Asylbewerberheimen zum Anlass nähmen, um zu prüfen, ob es bei ihnen ähnliche Probleme geben könnte. Und genau daran muss man zweifeln. Denn dass »Türsteher« oft nicht nur wie Neonazis aussehen, sondern welche sind, ist keine neue Erkenntnis. Experten, die im rechten Milieu recherchieren, wissen: Die Grenzen zwischen Kampfsportlern, Rockern und militanten Neonazis sind fließend. Auch im Job. Hinzu kommen Typen mit Hang zum Militärischen. Sie werden für geringes Entgelt bei der Kirmes auf Patrouille geschickt, sind »Ordner« in Sportstadien oder stellen Wachpersonal in Heimen verschiedenster Bestimmung.

Beispiel Brandenburg. Der Verfassungsschutz des Landes warnte 2013 vor einer Unterwanderung von Sicherheitsdiensten durch Neonazis. Es sei davon auszugehen, dass jeder zehnte der landesweit 1125 bekannten Rechtsextremen im Wachschutz arbeitet. Diese Tendenz war schon in den 1990er Jahren bekannt. Firmen stellten bedenkenlos oder gar vorsätzlich Leute mit einschlägigen Vorstrafen – Körperverletzung, rassistisch motivierte Überfälle auf Ausländer, illegaler Waffenbesitz, Propagandadelikte – ein. »Sicherheitsdienstleister« waren in Neonazi-Kameradschaften aktiv. Auch in Brandenburg sollten solche Leute Flüchtlinge schützen, im Heim und auch vor Angriffen von außen. Also vor den eigenen »Kameraden«. Das Problem wurde erkannt – und zumeist verdrängt. Dabei geschehe das wider geltendes Recht, sagt der aktuelle Präsident des Deutschen Städtetags Ulrich Maly.

Natürlich wissen die Kommunen, dass Männer und Frauen, die Mitglied einer verbotenen Organisation sind oder Zweifel an der demokratischen Gesinnung erkennen lassen, ungeeignet sind für sensible Sicherheitsjobs. Doch ein jederzeit möglicher Datenabgleich ist nicht zwingend vorgeschrieben. Polizeiliche Führungszeugnisse und ein Qualifikationsnachweis dagegen schon. Ausreichend ist das offenbar nicht. Schon gar nicht, wenn keiner kontrolliert.

**** Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014




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