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Linksfraktion stimmt griechischem "Hilfsprogramm" zu - Sahra Wagenknecht: Ein "strategischer Fehler"

Stellvertretende Fraktionsvositzende schreibt einen offenen Brief an die Fraktion "Die Linke" (im Wortlaut)

Dokumentiert:


Persönliche Erklärung

Brief von Sahra Wagenknecht an die Abgeordneten der Linksfraktion vom 06.03.2015

Liebe Genossinnen und Genossen,

im Herbst steht die Neuwahl der Fraktionsspitze an. Ich möchte Euch rechtzeitig darüber informieren, dass ich nicht für die Funktion einer Fraktionsvorsitzenden kandidieren werde.

Den letzten Ausschlag für diese Entscheidung, über die ich schon seit längerem nachdenke, haben der Verlauf und die Ergebnisse der Fraktionssitzung von Freitag letzter Woche gegeben. Ich halte es für einen strategischen Fehler, dass die große Mehrheit der Fraktion dem Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des griechischen "Hilfsprogramms" zugestimmt hat. Wir alle unterstützen die Syriza-Regierung in ihrem Ringen, Griechenland aus der verheerenden Krise, in die das Land durch die Diktate der Troika gestürzt wurde, wieder herauszuführen. Ich denke, ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich diese Solidarität in den letzten Wochen in sehr vielen öffentlichen Statements in deutschen und auch griechischen Medien zum Ausdruck gebracht habe. Aber wir haben im Bundestag nicht über das griechische Regierungsprogramm abgestimmt, sondern über einen Antrag der Bundesregierung, der auf genau diese katastrophale Politik der Auflagen und Kürzungsdiktate positiv Bezug nimmt und ihre Fortsetzung einfordert. Wir haben damit unsere bisherige europapolitische Positionierung zumindest infrage gestellt und geben den anderen Parteien die Gelegenheit, uns in Zukunft mit diesem Widerspruch vorzuführen.

Dass es um eine europapolitische Positionsverschiebung und nicht um taktische Meinungsverschiedenheiten geht, wurde spätestens dadurch deutlich, dass zwei unserer bisherigen Kernforderungen – die Forderung nach einem Schuldenschnitt für Griechenland und die Forderung nach einem mit EZB-Geld finanzierten Investitionsprogramm, beides im übrigen Forderungen, die auch Syriza immer wieder vorgetragen hat (so viel zum Thema „Solidarität"!) – in der Fraktionssitzung aus unserem eigenen Antrag gestrichen bzw. gar nicht erst aufgenommen wurden.

Es spricht für unsere ökonomische Kompetenz, dass die Linke schon 2010 mit der Forderung nach einem Schuldenschnitt, der Haftung von Banken und privaten Anlegern, einer Vermögensabgabe für Multimillionäre und EZB-Direktkrediten eine konsistente Alternative zu Merkels vermeintlichen „Euro-Rettungspaketen" in die Debatte eingebracht hat. Eine Alternative, die der Bevölkerung der betreffenden Länder viel Leid und den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in Deutschland Milliardenverluste erspart hätte. Aber schon damals waren diese Positionen in der Fraktion nur gegen Widerstände durchsetzbar. Inzwischen werden sie von einem Teil der Fraktion massiv angegriffen, wie auch die Diskussionen auf unserer Klausurtagung im Januar gezeigt haben. Und das, obwohl die Entwicklung der letzten Jahre uns rechtgegeben hat.

Neben den inhaltlichen Entscheidungen markiert der Verlauf der Fraktionssitzung vom 27.2. für mich auch einen Umgang miteinander, den ich nicht akzeptiere. Dass mir die Fraktion per Mehrheitsbeschluss verweigert, ihr auch nur meine Argumente für ein anderes Stimmverhalten vorzutragen - bei einem Thema, für das ich seit 2010 öffentlich an vorderster Stelle die Positionen der Linken vertrete - ist ein offener Affront und unterstreicht, dass ein Teil der Fraktion in eine andere Richtung gehen möchte als ich sie für sinnvoll halte.

Ich engagiere mich politisch, weil ich es unerträglich finde, wie dreist die Regierungen Europas die Ungleichheit vergrößern, wie selbstverständlich Armut und Hungerlöhne selbst in Deutschland wieder geworden sind und wie ignorant alle Traditionen einer friedlichen Außenpolitik in den Wind geschlagen wurden. Ich will, dass es dazu mit der Linken eine selbstbewusste, angriffslustige und vor allem eine stärker werdende Gegenkraft gibt, die den Trend irgendwann auch in Deutschland wenden kann. Dafür will und werde ich weiterhin kämpfen, mit all der Kraft und den Fähigkeiten, die mir zur Verfügung stehen.

Bei den Mitgliedern der Fraktion, die mich unterstützt und die erwartet haben, dass ich im Herbst für den Fraktionsvorsitz kandidiere, möchte ich mich für ihr Vertrauen bedanken. Ich weiss, dass ich sie mit meiner Entscheidung enttäusche. Dennoch bitte ich sie um Verständnis. Ich bin überzeugt, dass ich politisch letztlich mehr bewege, wenn ich mich auf das konzentriere, was ich am besten kann.

Solidarische Grüße,
Sahra Wagenknecht



"Wer Wagenknecht an den Rand drängt, ist töricht" **

Der Europaabgeordnete und Wirtschaftspolitiker Fabio De Masi (Die Linke) erklärte am Freitag nach der Ankündigung Sahra Wagenknechts, nicht für eine Doppelspitze in der Bundestagsfraktion Die Linke zur Verfügung zu stehen:

Ich bedaure die Entscheidung von Sahra Wagenknecht, kann sie jedoch nachvollziehen. Wer Wagenknecht an den Rand drängt, ist töricht. Sie steht für die Glaubwürdigkeit unserer Partei.

Die Linke ist als demokratische Erneuerungsbewegung und neue politische Kraft angetreten, um die politische Achse nach links zu verschieben. Wir befinden uns in einer historischen und zugleich brandgefährlichen Situation in Europa und in einer tiefen Vertrauenskrise des politischen Systems. Dies erfordert Klarheit statt des Versuchs, Die Linke wieder zur Funktionspartei zu schrumpfen. Ein Regierungswechsel ohne politischen Richtungswechsel ist daher weder kluge Realpolitik noch Machtpolitik.

Der Versuch, sich der politischen Kraft Oskar Lafontaines zu entledigen, hat Die Linke bereits einmal ins Abseits geführt. Wenn Geschichte sich wiederholt, wird sie zur Farce.

Die Griechenland-Kredite dienten nicht der Finanzierung der Maßnahmen der griechischen Regierung oder eines wirtschaftlichen Impulses, sondern der Ablösung von alten Forderungen der internationalen Gläubiger, die wiederum zu Beginn der Krise nicht der Rettung Griechenlands, sondern deutscher und französischer Banken dienten. Jedoch hat die EZB die griechische Regierung zur weiteren Insolvenzverschleppung gezwungen und gedroht, dem griechischen Bankensystem den Hahn abzudrehen. Syriza hatte somit keine Wahl, als Zeit zu gewinnen, und hat stark verhandelt. Dies hat auch Wagenknecht betont. Die Linke hatte jedoch die Wahl, sich mit einer Enthaltung der völlig falschen Krisenpolitik zu entziehen und mit Schuldenschnitt sowie der Finanzierung eines Aufbauprogramms über die EZB die Bundesregierung mit ihrer gescheiterten Euro-Politik zu konfrontieren. Bedenklich stimmt weniger das Abstimmungsverhalten im Bundestag – darüber lässt sich streiten – als vielmehr der Versuch, Wagenknecht als das Gesicht der Linken in der Euro-Krise in den Schatten zu stellen. Wer die Solidarität mit der griechischen Regierung für Machtkämpfe und »linke Innenpolitik« missbraucht, handelt unredlich.

Die Doppelspitze mit Wagenknecht wurde systematisch verhindert. Wer sie nun forcieren will, wo Wagenknecht nicht mehr zur Verfügung steht, gefährdet die politische Stabilität der Linken. Die neue Situation muss jetzt, neben politischen Schwerpunkten wie der Euro-Politik und der Ablehnung der Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada – TTIP und CETA -, von einem Parteitag diskutiert werden. Die Doppelspitze sollte auf die nächste Legislaturperiode verschoben werden, um Vertrauen in der Führung der LINKEN wieder herzustellen.


Die Linke-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen erklärte ebenfalls am Freitag:

Ich habe zwar Verständnis für die Entscheidung von Sahra Wagenknecht, nicht für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren, bedaure das aber sehr. Sahra gehört allein schon wegen ihres wirtschaftspolitischen Sachverstands und ihrer brillanten Redegabe an die Spitze. Ich hoffe, es ist keine Entscheidung für alle Zeit.

Beides aus: junge Welt, 9.3.2015




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