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"Beluga Nomination" oder: Die EU-Marine wird vorgeführt

Erneut ist ein deutscher Frachter in der Hand von Piraten – Ergebnis: mehrere Tote und jede Menge Ungereimtheiten

Von René Heilig *

33 Schiffe mit 711 Seeleuten sind derzeit in der Hand von – vermutlich – somalischen Piraten. Sagt die EU NavFor Somalia. Nummer 33 heißt »Beluga Nomination«. Die Vorgänge um diesen Frachter verdeutlichen, wie groß die Ohnmacht der hochgerüsteten westlichen Piratenjäger ist.

Der 22. Januar war ein Samstag. Die »Beluga Nomination«, ein Frachter der Hamburger Beluga-Reederei, war im Arabischen Meer unterwegs. Die Besatzung wusste um die Piratengefahr, also hatte sie sich ordnungsgemäß beim Maritime Security Centre am Horn of Afrika angemeldet.

Geholfen hat es nicht. Am Nachmittag kamen die Piraten, die Schiffsführung der »Beluga Nomination« funkte um Hilfe und zog sich in die »Zitadelle« zurück. Auf immer mehr Schiffen richten die Eigner solche Schutzräume ein. Gut versteckt und durch dicke Stahlwände gesichert, sollen die Seeleute darin einer Geiselnahme entziehen und abwarten, bis Hilfe kommt.

Doch für die zwölf Männer auf der »Beluga Nomination« kam zwei Tage klang keine Hilfe. Dann hatten die Piraten die »Zitadelle« gefunden, aufgebrochen und die Seeleute zu Geiseln gemacht. Der Überfall erfolgte 390 Seemeilen nördlich der Seychellen, also weit entfernt von den Patrouillengebieten der EU-Kriegsschiffe.

Die EU-Marineführung NavFor bedauerte die unterbliebene Hilfeleistung, versichert aber, das nächste Kriegsschiff sei mehr als 1000 Seemeilen entfernt gewesen. 1000 Seemeilen? Das bedeutet, das gesamte Gebiet bis hoch zum Roten Meer, das die EU als besonders gefährlich betrachtet, war ohne ein einziges verfügbares Kriegsschiff der Operation »Atalanta«?

Gut möglich. Eines eskortierte Schiffe des World Food Program nach Somalia. Die restlichen Beschützer lagen zum Reparieren oder Bunkern in diversen Häfen. Zudem waren kurz vor Weihnachten zahlreiche Schiffe Richtung Heimat gedampft. Ablösung kommt nur zögerlich im immer größeren Operationsgebiet an. Die Kosten sind immens, das Material arg strapaziert, die Besatzungen ausgelaugt. Offenbar ist »Atalanta« an seine Grenzen gestoßen.

Warum man nicht versucht hat, Kriegsschiffe anderer in der Region aktiver Einsatzgruppen (NATO, CTF-151) oder die von selbstständig operierenden Nationen zur gekaperten »Beluga Nomination« zu schicken, um das Schiff zu entern, bevor die Piraten Geiseln zwischen sich und die Befreier schieben konnten, ist unklar.

Umso unbegreiflicher verlief ein äußerst dilettantischer Befreiungsversuch. »Augenscheinlich ist ein Besatzungsmitglied am Mittwoch zu Tode gekommen, als die seychellische Küstenwache das Feuer eröffnet hatte, um die Krisensituation an Bord zu lösen«, sagte der geschäftsführende Gesellschafter der Beluga-Reederei, Niels Stolberg. Vier Seeleuten soll die Flucht gelungen sein, doch nur zwei wurden bislang aufgefischt.

Augenscheinlich? Die Verantwortlichen der Seychellen wissen angeblich nichts von einer Schießerei. Ihr Patrouillenboot habe abgedreht, als der Treibstoff zu Ende und die See hoch ging. Man verweist darauf, dass ein Schiff der NATO die Observation des deutschen Frachters übernommen hat. Dabei handelt es sich um die Fregatte »HDMS Esbern Snare«. Die NATO dementiert einen Befreiungsversuch und betont: Als der Frachterkapitän vor weiterer Annäherung gewarnt hatte, weil sonst die Verhältnisse an Bord unberechenbar werden könnten, sei man der Bitte auch gefolgt. Zum dritten Mal ist ein Schiff der Beluga-Reederei von einem Piratenüberfall betroffen. Verständlich, dass Reeder Stolberg sauer ist – auch auf seinen Hamburger Nachbarn, Verteidigungs-Staatssekretär Thomas Kossendey, dessen Arbeitgeber offenbar nichts gegen die zunehmende Freibeuter-Gefahr unternehmen will oder kann.

Andere versuchen zu handeln. Frankreich beispielsweise setzt sich im UN-Sicherheitsrat für eine neue Resolution ein, um künftig mit gefangenen Piraten vor einem internationalen Strafgerichtshof in Tansania sowie vor Gerichten in Puntland und Somaliland kurzen Prozess zu machen. Derweil macht die Londoner Versicherungsagentur Jardine Lloyd Thompson Group ernst. Demnächst wird sie im Rahmen des »Convoi Escort Programs« bis zu 16 bewaffnete Boote mit Ex-Elitesoldaten besetzen, die auf Anforderung den Schutz von Schiffe garantieren.

Ob das hilft? Die »Beluga Nomination« jedenfalls eignet sich bestens als weiteres Piraten-Mutterschiff. Sie transportiert ein paar »ganz heiße« Motor-Jachten, denen nicht einmal die bis jetzt für Seeräuber zu schnellen Kreuzfahrtschiffe entkommen könnten.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2011


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