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Démocratie totalitaire

Hintergrund. Sinti und Roma sind immer noch und schon wieder Opfer europäischer Diskriminierungspolitik

Von Hansgeorg Hermann, Paris *

Heimat sei »dort, wo sie dir die Tür aufmachen«, sagte einst der nord­amerikanische Dichter Robert Frost. Das hat sich geändert. In den Vereinigten Staaten von ­Europa ist Heimat nur noch dort, wo der suchende Mensch den Text der Nationalhymne auswendig kennt und die Hand aufs Herz legt, wenn er sie mitsingt. Vorzugsweise mit aufgezogener Nationalflagge. Ob bei Fußballweltmeisterschaften, Olympischen Spielen oder Parteitagen - niemand entgeht mehr solchem Ritual, das der polnische Jude Jacob Leib Talmon (Historiker in Israel und gewiß kein linker Anarchist) Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu Recht als morbiden Kitsch und »Trivialkultur« verachtete. Er zählte es zu den Merkmalen der von ihm so genannten »totalitären Demokratie«, in Übereinstimmung übrigens mit dem, was der französische Staatsrechtler Alexis de Tocqueville bereits Ende des 19. Jahrhunderts in den USA beobachtet hatte.

Warum muß über dieses Thema gesprochen und berichtet werden?

Am vergangenen Samstag (25. Sep.) versammelten sich im schönen »Salle Pleyel« in der vornehmen Pariser Rue du Faubourg Saint-Honoré einige hundert gut gekleidete Musikfreunde, um zusammen mit einem hervorragenden, 14köpfigen »Tsigane«-Orchester den großen Jazz-Gitarristen Django Reinhardt zu ehren - man schreibt sein 100. Geburtsjahr. Es war ein unglaublicher Abend, mit der »Tsigane«-Tänzerin Karine Gonzales, mit dem »Tsigane«-Geigenvirtuosen Didier Lockwood und der Sängerin Norig. Arrangiert und in Szene gesetzt hatte das Spektakel der »Tsigane«-Filmer Tony Gatlif. Und als das Publikum nach eineinhalb bewegenden Stunden die übliche Zugabe forderte - da spielte, nein, musizierte das Orchester in federleichtem Jazz-Rhythmus die französische Nationalhymne, besser bekannt als »Marseillaise«, als Schlachtgesang der Französischen Revolution. War es Ernst, war es Ironie, war es ein Appell an die französische Regierung? Die Musikfreunde gingen ohne Antwort nach Hause.

Tony Gatlif nahm sich an diesem Abend die Freiheit, darauf nicht zu antworten, auch nichts zu dem zu sagen, was sein Volk in diesen Tagen der Herrschaft eines Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy zu ertragen hat. Nur dies merkte er an: »Man hört uns nicht, man hört auch unsere wenigen Freunde in den Medien nicht, vielleicht hört man uns ja, wenn wir Musik machen?« Oder, noch besser, wenn die Marseillaise gespielt und damit Liebe zur Heimat dokumentiert wird? Der Präsident, das weiß man im Land, liebt triviale patriotische Rituale. Schwer zu kontrollierende Minderheiten, »Tsiganes« im besonderen, liebt er nicht.

Klassifiziert und verfolgt

Das Land, dem er vorsteht, beherbergte nach dem Krieg und bis zum heutigen Tag 400000 von der Staatsbürokratie so bezeichnete »gens du voyage«. Rund 250000 nennen sich selbst »Manouches« oder »Sinti«, sie sind eine west- und mitteleuropäische Untergruppe des insgesamt als »Rom« oder »Roma« bezeichneten Volks indogermanischer Abstammung und Sprache, die seit dem 16. Jahrhundert in den heutigen Grenzen Frankreichs zu Hause ist. Rund 150000 Vertreter des »fahrenden Volks« sind »Rom«, stammen also meist aus dem Osten Europas - oder sind einfach Personen ohne festen Wohnsitz, Handelsreisende zum Beispiel. Die Republik Frankreich machte 1969 alle zusammen in einem umstrittenen Gesetz zu »gens du voyage«, zu »Leuten auf Reisen«. Die neue Bezeichnung ersetzte den juristischen Terminus aus dem Jahre 1912, der einzelne oder ganze Familien ohne Wohnsitz, waren sie nun »Tsiganes« oder auch nicht, zu »Romanichels« oder auch »ethnischen Vagabunden« erklärt hatte.

Henriette Asséo, Historikerin, Professorin an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften und eine der seltenen Rom-Spezialistinnen der EU, verweist in diesem Zusammenhang immer wieder auf den »Experiment-Charakter« jener Klassifizierung der in Deutschland als »Zigeuner« verachteten, verfemten und schließlich in den Todeslagern der Nazifaschisten ermordeten Familien: »Das Gesetz von 1912 fügte sich prächtig in die damals in allen europäischen Ländern praktizierte 'Zigeuner-Politik', die diese Menschen der Staatsbürokratie und den Ordnungskräften auslieferte - mit biometrischem Paß (Fingerabdrücke), Frontal- und Profilfotografie sowie detailliertem genealogischen Stammbuch. Man wurde geboren und man starb unter den wachsamen Augen der Gendarmerie, der Präfektur und der mobilen Einsatzkräfte. Im Journal der Gendarmerie aus dem Jahr 1914 findet sich der biometrische Paß einer simplen Korbflechterin - er umfaßt 200 Seiten und enthält mehr als 2000 Aufenthaltsgenehmigungen.« Ordnungspolitische Maßnahmen, deren Erfahrungswerte und Ergebnisse die Nationalsozialisten nach allgemeiner Auffassung der Wissenschaft später vor allem für die Klassifizierung und Vernichtung der Juden zu Rate zogen. Für Asséo, die selbst einer jüdischen Familie aus Thessaloniki entstammt, ist klar, daß »die Juden nicht ermordet wurden, weil sie Juden waren - sondern, weil sie als Juden klassifiziert wurden«.

»Das ist eine Schande«

Genau an diesem Punkt setzt nun die harsche Kritik der EU-Justizkommissarin Viviane Reding an - an der Situation der »Rom« in den dreißiger Jahren, an ihrer Diskriminierung durch biometrischen Paß, Fotografie und eine quasi erkennungsdienstliche Behandlung, die man seinerzeit keinem Normalbürger, sondern allenfalls hartnäckigen Kriminellen zumuten durfte. Insofern - sagen Henritte Asséo und auch der Künstler Tony Gatlif -»hatte Reding vollkommen recht mit ihrer Kritik«. Die Räumung zahlreicher »illegaler« Rom-Lager in Frankreich und die Ausweisung ihrer Bewohner, die bis heute andauert, kommentierte die aus Luxemburg stammende Kommissarin zu Beginn des Monats mit den Worten: »In den vergangenen Wochen habe ich die Entwicklung in Frankreich bezüglich der Roma sehr genau beobachtet. Ich bin persönlich entsetzt über eine Situation, die den Eindruck erweckt, daß Menschen aus einem EU-Staat ausgewiesen werden, nur weil sie einer ethnischen Minderheit angehören. Ich habe nicht geglaubt, daß Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal Zeuge einer solchen Situation wird. Dies ist kein kleines Vergehen in einer Situation von dieser Bedeutung. Nach elfjähriger Erfahrung in der Kommission würde ich sogar noch weitergehen: Das ist eine Schande.«

Redings von der gesamten Kommission und ihrem Präsidenten José Manuel Barroso getragene Reaktion und Entscheidung wird auch von Deutschland nicht angefochten: »Ich finde es zutiefst verstörend«, so Reding, »daß ein Mitgliedsstaat die gemeinsamen Werte und das Recht der Europäischen Union in Frage stellt. Ich bin persönlich davon überzeugt und habe keine andere Wahl, als Verfahren wegen Verletzung des EU-Vertrags einzuleiten - ein Verfahren gegen Frankreich wegen Verletzung des Rechts auf freien Personenverkehr und ein Verfahren gegen Frankreich wegen mangelhafter Umsetzung (...) der Garantien des Rechts auf freien Personenverkehr. Kein Mitgliedsstaat kann eine besondere Behandlung erwarten, vor allem nicht dann, wenn fundamentale Rechte und europäische Gesetze auf dem Spiel stehen. Davon ist jetzt Frankreich betroffen, aber es gilt auch für alle anderen Länder.«

Systematische Vertreibung ...

So ungewöhnlich und für die französische Bevölkerung zumindest beunruhigend die Reaktion der Kommission auf die Minoritäten-Politk ihrer Regierung sein mag - den Präsidenten selbst wie auch seine exekutierenden Minister Brice Hortefeux und Eric Besson haben die von Reding eingeleiteten Verfahren bisher nicht beeindruckt. Um einem »Mißbrauch« bei der Zahlung der rund 300 Euro hohen Entschädigung für die jüngst nach Rumänien und Bulgarien ausgewiesenen Rom vorzubeugen, wurde der 1969 abgeschaffte biometrische Paß wieder eingeführt. Er soll die nach Osteuropa abgeschobenen »Tsiganes« davon abhalten, sofort nach Frankreich zurückzukehren und den Betrag womöglich ein zweites oder drittes Mal zu kassieren. Und er soll es den Gendarmen ermöglichen, Mehrfachreisende sofort zu erkennen.

Zur ersten Lesung kam am Dienstag eine Gesetzesvorlage ins Parlament, das die völlig legal aus Osteuropa einreisenden »Tsiganes« - sie sind ja ganz normale Bürger des vereinigten Europa mit dem Recht auf freies Reisen innerhalb der Gemeinschaft- noch mehr unter Druck setzen soll: Die Brandrede des Präisdenten gegen Rom und andere Migranten vom Juli im Auge, will Immigrationsminister Besson, konvertierter Sozialist und Sarkozys schärfstes Schwert, »Tsiganes«, die länger als drei Monate auf französischen Wiesen übernachtet haben, dann ausweisen lassen, »wenn ihr Verhalten die öffentliche Ordnung bedroht«. Der Gummiparagraph verweist, immerhin, auf »Drogenhandel«, »Prostitution« und »Diebstahl in öffentlichen Verkehrsmitteln«. Was die eingereisten Rom aber am meisten beeindrucken dürfte, ist der Straftatbestand und Ausweisungsgrund« Unerlaubtes Besetzen eines öffentlichen oder privaten Grundstücks«. Im traditionellen Wohnmobil reisende Rom-Familien müßten, sollte das Gesetz in der Nationalversammlung Gefallen finden, künftig außerdem darauf achten, daß sie »nicht zu einer untragbaren Last im französischen Sozialsystem«werden oder dieses womöglich »mißbrauchen«. Mit Blick nach Brüssel beugt Besson auch gleich den zu erwartenden Rassismus-Klagen vor: Sein Gesetz zielt zwar in erster Linie auf die Rom, genannt werden sie im Gesetzentwurf aber nicht.

»Ein starkes Stück«, findet Stéphane Léveque, Sprecher der »FNASAT« (Féderation nationale des associations solidaires d'action avec les Tsiganes et les Gens du voyage - Solidar- und Aktionsgemeinschaft für Tsiganes und Reisende). Zumal mit dieser Waffe nicht nur die wenigen tausend Rom-Migranten aus Osteuropa geschlagen werden sollen, sondern die »Manouches«, die »Gens du voyage« also, die seit Generationen in Frankreich zu Hause und Bürger des Landes sind. Seit sich Sarkozy im Jahr 2007 auf den Thron im Elysée setzte, sind seine Vollzugsbeamten unterwegs, um die schwer zu kontrollierenden, politisch schwer einzuordnenden »Tsiganes« von ihren alten, über Generationen bewahrten, traditionellen Stellplätzen an Flußufern, Waldrändern und Agrarbrachen zu vertreiben. Und nicht nur von dort: Verjagt werden sie inzwischen auch von Wiesen oder Äckern, die sie gekauft haben, deren Besitzer sie also sind.

... und Entrechtung

In den nicht unbedingt guten, aber, im Vergleich zu heute, immerhin besseren Jahren nach dem Krieg durften die Wagen der »Manouches« dort anhalten, wo es ihnen in freier Natur gefiel. Inzwischen kann ein Wohnwagen ohne Erlaubnis der Gemeinde nirgendwo länger als drei Monate stehen, auch nicht auf privatem Grund - im öffentlichen Raum sowieso nicht. Die Gemeinden müssen ihre Entscheidung nicht begründen. Die örtlichen Verwaltungen sind vielmehr angehalten, anreisende Familien zu »entmutigen«. Will in der Praxis heißen: ihnen den Anschluß an Wasser und Strom entweder gleich zu verweigern oder ihn - sollte er vorhanden sein - im Zweifelsfall zu kappen. Die Regierungsmaßnahmen dirigieren solche »Manouches«, die es bisher nicht zu eigenem Grund und Boden gebracht haben, zu jenen »aires d'accueil«, Abstellplätzen, die größere Gemeinden und Städte seit dem Jahr 2000 vorhalten sollen - geplant waren insgesamt 42000 solcher prima kontrollierten »Campements«; eingerichtet wurde bisher nicht einmal die Hälfte.

»Aber auch, wenn diese Plätze alle fertig wären«, sagt Léveque, »- es sind dies keine Grundstücke, auf denen ein normaler Bürger wohnen möchte. Sie liegen nicht irgendwo in lieblicher Natur, sondern an stark befahrenen Überlandstraßen, in der Nähe von Müllkippen, in ungeschützten, windigen Gegenden; sie sind asphaltiert, haben schlimme sanitäre Anlagen, und sie sind bisweilen sogar eingezäunt.« Dazu kommt: Die Zentralregierung in Paris zahlt keinen Cent für die Anlagen, die gesamte finanzielle Last für Installationen und Unterhaltung liegt bei den Kommunen. »Daß die Gemeinden unter diesen Umständen keine einzige Familie zu sich einladen werden, ist normal«, sagt Tony Gatlif. »Wir sind wieder da, wo wir vor dem Krieg schon waren.«

Nicht nur die Besitzlosen, auch die Familien mit eigenem Grund und Boden sind betroffen. Die Gemeinden können sie vertreiben, sogar enteignen, wenn »die öffentliche Sicherheit und Ordnung« gefährdet scheinen, wenn sich das bewohnte Grundstück - am Meer oder in Flußnähe beispielsweise - auf »flutgefährdetem Terrain« befindet, oder wenn ganz einfach der in Frankreich nicht als »Domizil« anerkannte Wohnwagen auf schlechten Reifen im Erdreich verankert ist. Gründe lassen sich immer finden.

Die Liste der Anklagen, mit denen die Wissenschaftlerin Henriette Asséo den Präsidenten und seine Regierung deswegen konfrontiert, ist lang und düster. »Nicht nur, daß die Regierung und ihr Präsident eine diplomatische Krise provoziert haben - sie scheuen auch nicht die soziale und ökonomische Diskriminierung eines Teils des französischen Volkes. Sie scheren sich einen Dreck um die Sozialbedeutung des Rechts auf freies Reisen, sie scheren sich nicht einen Deut um die Freiheit des Arbeitsmarktes in Europa. Das alles in unserer alten Tradition der Scheinheiligkeit. Sollte die Regierung tatsächlich nicht den Unterschied kennen zwischen den Rom, es waren nur ganze 15000, die seit dem Verschwinden der politischen Blöcke aus Osteuropa zu uns kamen, und den 'Gens du voyage', also unseren Staatsbürgern, dann ist sie mit ihren Ankündigungen und Gesetzentwürfen in eine Sache hineingeraten, von der sie absolut keine Ahnung hat. Es wäre ohnehin besser, sie würde das Haushaltsdefizit Europas verwalten als die Angelegenheiten der Tsiganes.«

Der ganz normale Alltag

Mehr als 80 Prozent der Rom haben seit dem 16. Jahrhundert ihre angestammten Plätze und Routen in den Ländern ihrer Wahl nicht mehr verlassen. Sie waren meist gebunden an die Ländereien des dortigen Adels, und sie hatten bisweilen - im Einzugsbereich der Habsburger Dynastie zum Beispiel - das Recht, den Namen ihrer Gutsherren anzunehmen: Karoliy, Lakatos - oder auch Szarközi ...

Eine seltsame Sache ist das, die weder Gatlif noch Asséo zu enträtseln vermögen: Die Sarkozy-Initiative kommt in einem Moment, in dem eine Art »Politik der Anerkennung« voranzukommen schien. Im Juli 2010 ehrte Hubert Falco, Staatssekretär im Verteidigungsministerium und zuständig für die altgedienten Frontsoldaten der Republik, in offizieller Regierungsmission die (jüdischen) Opfer der Razzia vom 16./17. Juli 1942 im Vélodrome d'Hiver. Und dank der Hartnäckigkeit des betagten Grundschullehrers Jacques Sigot wurde das alte «Zigeunerlager« auf den Feldern von Montreuil-Bellay soeben zum historischen Baudenkmal erklärt.

Im vergangenen Frühjahr, kurz bevor er seinen das Schicksal der »Tsiganes« während der deutschen Besatzung Frankreichs beschreibenden Film »Liberté« vorstellte, sagte Tony Gatlif dem Autor dieses Artikels: »Papiere - welche Regierung sie auch verlangen mag, ob der Präsident nun Petain oder anders heißt - sind immer eine Erniedrigung dessen, der sie bei sich tragen muß, um nicht belästigt, verhaftet oder eingesperrt zu werden. Sehen Sie, der Kollaborateur in meinem Film, ein Mann namens Pentecôte, er hat alle Papiere, die man in jener Zeit haben mußte und die man auch heute wieder benötigt. Sie vermitteln einen Eindruck von Legalität und Rechtschaffenheit, dem die Persönlichkeit des Paßinhabers nicht standhält. Pentecôte ist in Wirklichkeit ein übler Bursche, ein Verbrecher gegen die Menschlichkeit. Der Inhaber eines Passes - Eigentümer ist ja der Staat - kann ein netter Mensch sein. Aber auch ein Scheusal, ein Krimineller. Papiere kann man fälschen. Selbst der Staat fälscht sie für geheimdienstliche Zwecke. Wozu sind sie also da? Alltag der Tsiganes ist es, alle vierundzwanzig Stunden im Bürgermeisteramt vorzusprechen, den Paß zu zeigen, sich demütigen und vor allem kontrollieren zu lassen. Das ist es, wofür Papiere da sind. Das wissen auch die abertausend Menschen ohne Paß, die sans-papiers, wie sie hier in Frankreich heißen.«

Ausweispapiere bedeuten den Tsiganes gar nichts, wie Historiker und Gendarmen seit Generationen wissen. Sie haben keinen Respekt vor einem Papier, das zur Kontrolle ausgestellt wurde. Das Paßfoto, das heutzutage ein wichtiger Bestandteil jedes Ausweises ist, all das wurde einst der »Tsiganes« wegen eingeführt. Was heute sogar von bodenständigen, gesetzestreuen Bürgern als normal empfunden wird - der Abgleich von Foto und realem Menschen -, war damals überhaupt nicht normal; es war den »Zigeunern« vorbehalten. »Was inzwischen jedem Bürger an Kontrollen abverlangt wird, ist unfaßbar«, sagt der Regisseur Gatlif, wenn er Journalisten den Begriff »Freiheit« erklären soll. »Es ist eine ständige Demütigung.« Im Film »Liberté« ist es ja nicht nur die perfekt funktionierende deutsche Vernichtungsbürokratie, die die rollenden Wagen am Ende anhält und die Familie in den Tod schickt. Es ist der ganz normale Alltag. Der Betrachter von Gatlifs Film wird jener ungeheuren Spannung ausgesetzt, die entsteht, wenn unbeschwerte, wirklich freie Menschen mit der Ordnung und den sie bewahrenden Mächten in Berührung kommen. Wenn Vorurteile in den ganz speziellen Reise- und Aufenthaltsgenehmigungen zu Buchstaben, Papier und damit unauslöschlich werden.

Es scheint, als habe sich seit damals nicht sehr viel geändert.

* Aus: junge Welt, 30. September 2010


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