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AKW-Unfälle in Japan: Atomenergie vor dem Aus?

Von Andrej Fedjaschin, RIA Novosti *

Nicht dass die Zukunft der Atomindustrie in Frage gestellt worden wäre - für die gibt es einfach keine Alternative bei der Deckung des wachsenden Energiebedarfs Europas. Aber angesichts der Tragödie in Japan wird die „Nuklearisierung“ der europäischen Energiewirtschaft wohl schwerer fallen - sowohl aus finanzieller als auch aus politischer Sicht.

Die jüngsten Vorfälle in Japan haben die Atomenergiewirtschaft so stark erschüttert, dass sich ihre Entwicklungsachse (gleichzeitig mit der Erdachse) verschoben hat. Jetzt wird sie sich wohl langsamer drehen, so dass viele Pläne verschoben werden müssen, wenn sie überhaupt in Erfüllung gehen. In drei (von übrigens 55!) japanischen Atomkraftwerken wurde der Notstand ausgerufen - in Europa wächst die Sorge um ein zweites Tschernobyl.

Vielen europäischen Politikern bereitet die Zukunft der Atomkraftwerke große Kopfschmerzen - allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und der britischen Regierung. Selbst der italienische Premier Silvio Berlusconi ist davon betroffen, obwohl es in Italien keine Atomkraftwerke gibt und wohl lange nicht geben wird.

Einen noch „unpassenderen“ Zeitpunkt für die Katastrophe in Japan hätte man sich kaum vorstellen können. Europa hat gerade mit der Umsetzung von Plänen zum Ausbau seiner Atomkraftwerke begonnen. Die Europäer versuchen auf diese Weise ihre Abhängigkeit vom russischen Erdgas zu senken (das geht aus den Energie-Plänen der Europäischen Kommission hervor).

Das Erdbeben in Japan macht diese Pläne jetzt zunichte. Nicht zu vergessen ist, dass in einem Monat (genauer gesagt am 26. April) der 25. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe ansteht, die für die Umweltschützer, die „Grünen“ und die Anhänger der sauberen Energie als Hauptargument für den Atom-Ausstieg gilt. Die Havarien in den Fukushima-Reaktoren, der Ausstoß von Radioaktivität, das traurige Tschernobyl-Jubiläum. Noch schlimmer hätte das alles nicht zusammenfallen können.

Im deutschen Neckarwestheim wurde einen Tag nach dem Erdbeben in Japan eine große Protestaktion gegen das örtliche Atomkraftwerk abgehalten, an der überraschenderweise 50.000 Umweltschützer teilgenommen haben. Bundeskanzlerin Merkel berief am Montag eine Sondersitzung der Regierung ein. Im März finden Landtagswahlen in drei Bundesländern statt, gefolgt von fünf weiteren Ländern in diesem Jahr. Auch vor dem Beben in Japan hatte Merkel es nicht gerade leicht. Nach den Fukushima-Havarien haben die Atom-Gegner neues Futter, um Merkel unter Druck zu setzen. Ihre Argumente sind überzeugend: Wenn selbst die Japaner mit ihrem Pflichtbewusstsein und ihren strengen Sicherheitsnormen nicht in der Lage sind, die Sicherheit zu garantieren, was könnte dann in Europa passieren?

Auch in Großbritannien wurden Proteste gegen die Atomenergie lauter. Ein weiteres Argument ist die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben auf der Insel, gefolgt von einem Tsunami.

Die Politiker haben es schwer, die Atompläne unverändert umzusetzen.

„Wie viele Warnungen brauchen die Menschen, um endlich zu verstehen, dass Atommeiler im Grunde gefährlich sind?“, fragte rhetorisch der Greenpeace-Experte Jan Beranek. „Die Atomindustriellen wollen uns überzeugen, dass in modernen Meilern eine Wiederholung der Tschernobyl-Katastrophe ausgeschlossen ist, aber Japan ist gerade mit der Gefahr einer solchen Atomkatastrophe konfrontiert.“ Nicht alle Branchenkenner stimmen dieser pessimistischen Meinung zu. Aber mal ehrlich: Ist denn ein „kleines Tschernobyl“ etwa besser als ein „großes“?

Die Japaner müssen nun tatsächlich Rede und Antwort stehen. Der Fukushima-1-Meiler ist zwar zuverlässig. Eine Wiederholung des Tschernobyl-Unglücks ist dort wohl ausgeschlossen. Außerdem haben die japanischen Ingenieure tatsächlich ihr Bestes getan, um einen noch größeren Ausstoß von radioaktiven Stoffen zu verhindern. Was bisher passiert ist, ist eigentlich keine Katastrophe.

Aber es gibt keine Antwort auf die einfachste Frage: Wie war es möglich, dass im japanischen Meiler alle Kühlpumpen auf einmal versagten? Laut vorläufigen Angaben wurden sie vom Tsunami überflutet. Warum hatte keiner Vorsorge getroffen, zumal Japan ständig der Erdbeben- und Tsunami-Gefahr ausgesetzt ist?

Solche banalen Fehler lösen manchmal Katastrophen aus. So ist nun einmal das Leben.

Die Atomenergie steht in Japan wohl vor schweren Zeiten. Vor dem Erdbeben produzierten die Atomkraftwerke etwa 30 Prozent des gesamten Strombedarfs. Bis 2020 sollten 50 Prozent des Bedarfs von der Atomenergie abgedeckt werden. Jetzt stehen die entsprechenden Pläne wohl auf der Kippe.

Einige europäische Länder könnten bei einer Wende in der Atompolitik auf Schwierigkeiten stoßen. Die wirtschaftlichen Folgen sind nicht abzuschätzen.

Großbritannien steht bereits vor dieser Gefahr: Neben den 19 vorhandenden sollen weitere zehn Atomkraftwerke entstehen. Nach den Unfällen in Japan stehen diese Pläne auf der Kippe - wegen der Massenproteste vieler AKW-Anwohner. Branchenkenner warnen jedoch, dass unverzüglich Reaktoren gebaut werden sollten. Andernfalls müssten sich die Briten 2015 bzw. 2018 auf einen Energiemangel gefasst machen.

Die älteste Atommacht Europas (erster Meiler wurde 1956 in Betrieb genommen) hatte neben Frankreich zuletzt eine richtige „Atomrenaissance“ erlebt. London und Paris hatten sich auf die gemeinsame Entwicklung von neuen Atomkraftwerken geeinigt, die an Drittländer verkauft werden sollten.

In Deutschland hatte die Regierung Merkels Ende des vorigen Jahres beschlossen, die Laufzeiten aller 17 AKW um zehn Jahre zu verlängern.

In Italien sieht die Situation nicht besser aus. Der russische Präsident Dmitri Medwedew hat in der jüngsten Beratung im Wasserkraftwerk „Sajano-Schuschenskaja“ Italien als Land mit dem größten Energiedefizit und den höchsten Energiepreisen erwähnt. Das ist wahr. Das Kabinett von Premier Silvio Berlusconi wollte demnächst zehn Atomkraftwerke bauen. Jetzt fällt es einem schwer zu glauben, dass diese Pläne umgesetzt werden.

Derzeit ist Europa der weltweite Spitzenreiter bei der Atomenergieproduktion. In Frankreich entfallen auf die AKWs 79 Prozent der gesamten Stromproduktion. Selbst in Litauen belief sich diese Zahl auf 76 Prozent. In Schweden, Belgien, der Schweiz und der Slowakei, in Deutschland, Tschechien und Ungarn geht es um 22 bis 51 Prozent.

Russland ist zwar der größte Atomenergiehersteller der Welt. Der Anteil seiner AKW an der gesamten Stromproduktion des Landes liegt allerdings bei etwa 17,8 Prozent.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 15. März 2011; http://de.rian.ru



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