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Zur Unterbindung bzw. Aufklärung "rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendung"

Bürgerrechtsorganisationen fordern unabhängige Kontrollinstanz gegen Polizeigewalt

Gemeinsame Presseinformation von
  • Amnesty International Deutschland -
  • Humanistischer Union, vereinigt mit Gustav Heinemann-Initiative -
  • Internationale Liga für Menschenrechte -
  • Komitee für Grundrechte und Demokratie -
  • Republikanischer Anwältinnen und Anwälteverein
Berlin, 29. Mai 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,

die unzureichende Aufarbeitung von polizeilichen Übergriffen beschäftigt seit Jahren die Öffentlichkeit. Die in Berlin eingeführte Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten ist ein erster Schritt zur Aufklärung, da dadurch zumindest die Identifizierung der Täterinnen und Täter möglich wird. Bürgerrechtsorganisationen fordern darüber hinaus die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz, die als Beschwerde- und Untersuchungsinstitution für Fälle rechtswidriger Polizeigewalt fungieren soll.

Um zu verhindern, dass solche Einrichtungen zu einem bloßen Feigenblatt verkommen, haben die fünf unterzeichnenden Bürgerrechtsorganisationen einen Kriterienkatalog für eine solche Kontrollinstanz entwickelt, damit diese auch effektiv und nachhaltig Fälle rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendung aufklären kann.

Wir bitten um Kenntnisnahme, Weiterleitung und Veröffentlichung des folgenden Kriterienkatalogs in Ihren Medien. Für Rückfragen stehen wir Ihnen selbstverständlich gern zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen
Sven Lüders

Kriterien für eine unabhängige Kontrollinstanz zur Untersuchung von Polizeigewalt

Die unzureichende Aufklärung rechtswidriger Gewaltanwendung durch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte ist ein strukturelles Problem und bürgerrechtlich nicht hinnehmbar. Die Einführung einer allgemeinen Kennzeichnungspflicht für Polizeibedienstete, wie sie in Berlin erfolgt, kann nur einen ersten Schritt bei der Bearbeitung dieses Problems darstellen. Sie erleichtert es zumindest, die Akteure rechtswidriger Übergriffe zu identifizieren. Daneben gibt es eine Vielzahl von selbstorganisierten Aktivitäten, die eine wichtige Rolle bei der Kontrolle von polizeilichem Handeln einnehmen. Dazu gehören Demonstrationsbeobachtungen ebenso wie Untersuchungskommissionen, die zur Aufklärung bestimmter Fälle von Polizeigewalt oder Todesfällen im Polizeigewahrsam eingerichtet wurden, wie beispielsweise nach der Tötung von Dennis S. in Berlin Ende 2008 oder dem gewaltsamen Polizeieinsatz bei einer Demonstration gegen Stuttgart 21 im Herbst 2010. Diese Initiativen sind notwendig, um zumindest partiell eine Kontrolle polizeilichen Handelns von außen zu gewährleisten. Sie allein reichen aber nicht aus. Auch die Kontrolle durch die Landtage ist hilfreich, aber nicht ausreichend, da sie nur punktuell mutmaßlich rechtswidriges Handeln durch die Polizei aufgreift, nicht aber kontinuierlich und systematisch.

Als weiteres Element einer besseren Kontrolle polizeilichen Handelns bedarf es der Einrichtung von unabhängigen Untersuchungsinstanzen, die Beschwerden der Betroffenen entgegen nehmen und Fälle rechtswidriger Polizeigewalt eigenständig untersuchen. Sie sind mit ausreichenden Ressourcen auszustatten und für jedermann zugänglich zu gestalten. Solche Institutionen sind nicht neu, sondern in vielen (europäischen) Ländern zum Teil schon seit Jahren eingerichtet. Auch in Deutschland gab es mit der Polizeikommission in Hamburg für einige Jahre eine solche Instanz, die jedoch unzureichend ausgestattet war. Damit solche Kommissionen nicht zu einem Feigenblatt werden und ihre Funktion tatsächlich erfüllen können, müssen sie bestimmte Mindestanforderungen erfüllen:

1. Zuständigkeit

Die Kommission soll ausschließlich für Fälle von mutmaßlich rechtswidriger Gewalt sowie anderer schwerwiegender Menschrechtsverletzungen zuständig sein, die von Polizei- oder Zollbediensteten ausgeübt wurden. Sonstiges rechtswidriges staatliches Handeln soll nicht zum Aufgabengebiet der Kommission gehören.

2. Mitglieder und Ausstattung

Die Kommission soll nicht an die Exekutive angebunden sein. Ihre Mitglieder müssen aus der Zivilgesellschaft kommen und sollen nicht selbst in exekutives staatliches Handeln eingebunden sein. Die jeweiligen Mitglieder sollen auf Landesebene von den jeweiligen Landesparlamenten, auf Bundesebene vom Bundestag sowie von Vertretern gesellschaftlicher Organisationen gewählt werden. Eine Besetzung der Kommission entsprechend der Bevölkerungsstruktur (Migrationshintergrund, Geschlecht) soll angestrebt werden. Gesellschaftliche "Randgruppen", die von rechtswidriger Polizeigewalt besonders häufig betroffen sind, sollen ebenfalls repräsentiert werden.

Die Kommission muss über ausreichende Ressourcen verfügen. Sowohl die Sach- als auch die Personalausstattung müssen es ermöglichen, den beschriebenen Aufgaben in effektiver Weise nachzugehen.

3. Zugang zur Kommission

Beschwerden bzw. Anzeigen können sowohl von Betroffenen und ihren (anwaltlichen) VertreterInnen, als auch von Dritten und über Organisationen erhoben werden. Auch PolizeibeamtInnen können sich als Betroffene oder Zeugen an die Kommission wenden. Die Kommission ist verpflichtet, grundsätzlich die Anonymität der anrufenden Person zu wahren. Eine Durchsuchung bei der Kommission und die Beschlagnahme ihrer Unterlagen sind unzulässig. Die Mitglieder der Kommission und ihre MitarbeiterInnen haben ein Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich ihrer Tätigkeit für die Kommission. Weiterhin soll die Kommission auch von sich aus tätig werden können, beispielsweise wenn sie aus sonstigen Quellen Kenntnis von Fällen rechtswidriger Polizeigewalt erlangt. Polizei und Staatsanwaltschaft sind verpflichtet, die Kommission über Strafanzeigen oder die Einleitung von Ermittlungsverfahren in Fällen von Polizeigewalt zu informieren. Die Kommission soll von Amts wegen tätig werden müssen, wenn jemand aufgrund von polizeilicher Gewaltanwendung zu Tode gekommen ist.

4. Kompetenzen

Die Kommission muss über eigene Untersuchungsbefugnisse verfügen. Dazu gehören unter anderem die sofortige Sichtung des Tatorts, die Befragung von Zeugen und Beschuldigten sowie die Akteneinsicht, insbesondere in polizeiliche Vorgänge und staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten. Den Mitgliedern muss es gestattet sein, Polizeidienststellen auch unangemeldet zu betreten.

Nach Abschluss der Untersuchungen soll die Kommission Empfehlungen an die Polizei bzw. die Staatsanwaltschaft für das weitere Vorgehen im Einzelfall geben. Polizei bzw. Staatsanwaltschaft sind rechenschaftspflichtig gegenüber der Kommission.

Die Befugnis von Polizei und Staatsanwaltschaft, eigene Ermittlungs- bzw. Disziplinarverfahren zu führen, bleibt durch das Tätigwerden der Kommission unberührt.

5. Berichts- und Rechenschaftspflicht

Die Kommission ist verpflichtet, die Betroffenen in Form eines zusammenfassenden Berichts über das Ergebnis der Untersuchungen zu informieren. Gegenüber dem Parlament ist die Kommission berichts- und rechenschaftspflichtig. Die Öffentlichkeit soll die Kommission durch Abfassung eines jährlichen Tätigkeitsberichts informieren, in dem auch strukturelle Belange thematisiert werden können. Die Kommission führt über alle Fälle von Beschwerden und Verfahren gegen PolizeibeamtInnen statistische Erhebungen durch und stellt diese der Öffentlichkeit zur Verfügung.

Pressekontakte
  • Humanistische Union e.V. vereinigt mit Gustav Heinemann-Initiative - Bundesgeschäftsstelle - Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
  • Internationale Liga für Menschenrechte - Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin; www.ilmr.de



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