Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ist das Völkerrecht ein Auslaufmodell?

Interview mit Norman Paech *

FriedensJournal: Inwieweit steht die UNO noch für die moralische Instanz zur Durchsetzung des Völkerrechts?

Wer sollte es sonst sein? Die USA? Die EU? Die G8 oder die NATO? Nein, bei aller Kritik an den Defiziten der UNO, sie ist die einzige Institution mit universeller Legitimation. Ihre Gründungsurkunde ist Basis und Kern des geltenden Völkerrechts. Ihre Organisationen regeln über 90 % des internationalen Verkehrs, und wenn sie durch einzelne Staaten erpresst oder missbraucht werden, sollte man den Täter hauen und nicht das Opfer. Die UNO stellt das höchste Gericht mit Richtern aus allen Rechtskulturen, das mehr für die Anerkennung des Völkerrechts getan hat, als jede andere Institution.

FJ: Nehmen wir als jüngstes Beispiel den Goldstone-Bericht über Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen durch die israelische Armee, aber auch über Verbrechen der Hamas. Neben mehrheitlich sehr positiven Reaktionen - auch in der UN-Vollversammlung - gab es natürlich auch entschiedene Ablehnung. Hat der Goldstone- Bericht letztlich die UNO als Autorität eher gestärkt oder geschwächt?

Die Goldstone-Kommission war eine Kommission der UNO, genauer des Menschenrechtsrats. Ihre vier internationalen Mitglieder waren absolut unabhängig, ihre Qualifikation unantastbar und ihr Bericht über jeden Zweifel der Voreingenommenheit oder Einseitigkeit erhaben, wenn auch vernichtend für die israelische Regierung und Armee. Es gab mehrere Untersuchungen und Berichte anderer Organisationen, die zu dem gleichen Ergebnis gekommen sind, aber nicht über die gleiche Autorität und Reputation verfügen. Die UNO hat auch mit diesem Bericht ihre einmalige Stellung und Bedeutung für die Beziehungen der Staaten untereinander erwiesen. Wenn einige Staaten ausscheren und sich nicht an die Normen der UNO halten, sollten sie von den anderen Staaten nicht unterstützt, sondern sanktioniert werden.

FJ: Immer häufiger wird heute der Begriff der "internationalen Staatengemeinschaft" gebraucht. Zuletzt fand man diese Wortwahl vor allem in Bezug auf die Unterstützung bzw. das Eingreifen in Haiti. Wofür steht dieser Begriff?

Der Begriff ist ein Euphemismus, so wie die Bezeichnung „Kap der Guten Hoffnung“, die über die Gefahren der südlichen Spitze für die Seefahrt hinwegtrösten sollte. Die „Staatengemeinschaft“ steht für ein Ziel, welches angesichts der scharfen Konkurrenz, Rivalität und den Kriegen unter den Staaten derzeit nur verbal zu erreichen ist.

FJ: Den Afghanistan-Krieg kann man sehr unterschiedlich umschreiben, z.B. als ISAF-Mission, die von einem UNO-Mandat legitimiert ist und u.a. auch von Russland und China unterstützt wird – oder auch als Besatzungsstatus, der aus einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg resultiert und der von eskalierenden Kriegsverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung geprägt ist. Wie passen beide Definitionen bzw. Sichtweisen zusammen?

Der Afghanistan-Krieg ist für Deutschland immer noch eine ISAF-Mission mit einem gültigen UNO-Mandat, für die USA zudem noch eine Antiterroroperation (OEF), aus der sich Deutschland 2008 herausgezogen hat. Inzwischen haben aber die zahlreichen Exzesse der Kriegsführung und offensichtlichen Kriegsverbrechen das Kriegsgeschehen vom ursprünglichen Mandatsziel so sehr entfernt, dass der UNO-Sicherheitsrat sein Mandat zurückziehen sollte, anstatt es Jahr für Jahr zu erneuern und an den Krieg anzupassen. Der Antiterrorkampf der OEF entbehrt schon seit langem der Rechtfertigung aus Art. 51 UN-Charta. Seine Zusammenlegung mit ISAF verschafft ihm keine Legitimation, sondern zerstört die der ISAF. Faktisch gleicht die militärische Anwesenheit der 46 Staaten unter Führung der USA immer mehr einer Besatzung als einer Hilfe, gegen die sich der Widerstand zur Wehr setzt. Juristisch kann sich die Koalition jedoch immer noch auf das ISAF-Mandat und die Einladung der afghanischen Regierung berufen. Die Interessen auch der Nachbarstaaten gleichen offensichtlich immer noch zu sehr denen der Interventionsmächte, als dass der UN-Sicherheitsrat politisch in der Lage wäre, die Truppen zurück zu beordern.

FJ: Steht die schwarz-gelbe Bundesregierung in Bezug auf die Gewichtung des Völkerrechts in der Kontinuität ihrer Vorgänger, oder gibt es hier signifikante Veränderungen?

Ich vermag keine allzu großen Unterschiede zu erkennen. Alle vier Parteien in den letzten Koalitionen stimmen in der Frage der völkerrechtlich bedenklichen Einsätze der Bundeswehr ob in Afghanistan, vor den Küsten Libanons, im Sudan oder bei der Pirateriebekämpfung überein. Sie schauen in gleicher Weise über die völkerrechtlichen Katastrophen der israelischen Besatzung und des Gaza- Krieges hinweg. Beide Regierungen duldeten den Skandal Guantánamo und dulden jetzt noch AbuGraib. Nur die Beteiligung am Irakkrieg haben sie unterschiedlich eingeschätzt. Die neue Koalitionsregierung wird die Entscheidung über einen nächsten Einsatz der Bundeswehr zweifellos noch weniger am Völkerrecht als an vermeintlich eigenen bzw. Bündnisinteressen ausrichten.

* Emeritierter Professor für Völkerrecht, Hamburg; von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 3, Mai 2010, S. 3-4

Das FriedensJournal wird vom Bundesausschuss Friedensratschlag herausgegeben und erscheint sechs Mal im Jahr. Redaktionsadresse (auch für Bestellungen und Abos):
Friedens- und Zukunftswerkstatt e.V.
c/o Gewerkschaftshaus Frankfurt
Wilhelm-Leuschner-Str. 69-77
60329 Frankfurt a.M.
(Tel.: 069/24249950); e-mail: Frieden-und-Zukunft@t-online.de )




Zurück zur Seite "Völkerrecht"

Zurück zur Homepage