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Rotlicht: Völkerrecht

Völkerrecht ist im strengen Sinn kein Recht der Völker, sondern der Staaten

Von Norman Paech *

Mit der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 hatten sich die Staaten das verbindliche Dokument der Prinzipien geschaffen, nach denen sie in Zukunft leben wollten. Es war die Summe der Regeln, die sich in den jahrhundertelangen Auseinandersetzungen der Staaten im Krieg und Frieden herausgebildet hatten, und die nun unter dem Eindruck des gerade beendeten Zweiten Weltkrieges neu definiert wurden: ein Grundgesetz für eine Welt in Frieden.

Gleich zu Beginn heißt es: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, (...) Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können (...) - haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.« Eine Friedensordnung, in der rechtliche Regeln - Völkerrecht - für die friedliche Gestaltung der Beziehungen zwischen den Staaten sorgen.

Völkerrecht ist im strengen Sinn kein Recht der Völker, sondern der Staaten. Denn ein Volk hat als vorstaatliche Gemeinschaft nie internationale eigenständige Rechte und Pflichten entwickeln können. Nur in Gestalt staatlicher Organisation wurde es zum Subjekt des Völkerrechts - mit einer bedeutsamen Ausnahme. In den Befreiungskämpfen der Dekolonisierung nach 1945 bekamen die unterdrückten Völker und die sie repräsentierenden Befreiungsbewegungen auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der UN-Charta eine Völkerrechtsqualität, die mit der Befreiung und der Bildung eines eigenen souveränen Staates auf diesen übergegangen ist.

Das Selbstbestimmungsrecht war die juristische Legitimation der Befreiungskämpfe mit all ihren Konsequenzen der Gewalt gegen die Unterdrückung durch die Kolonialmächte. Diesen emanzipatorischen Gehalt hat das Recht auch heute noch, so dass sich Palästinenser, Kurden oder Sahrauis darauf in ihrem Streben nach Unabhängigkeit oder Autonomie berufen können.

Weitere zentrale Elemente des in der Charta verankerten Völkerrechts sind die Souveränität der Staaten, die mit einem weitgehenden Verbot der Intervention verbunden ist, und das absolute Gewaltverbot. In Artikel 2 Ziffer 4 der UN-Charta hat der Wille Ausdruck gefunden, keinem Staat außer im Falle der Selbstverteidigung (Artikel 51 UN-Charta) das Recht zu geben, militärische Gewalt anzuwenden. Sie ist ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten, der im Rahmen des berühmten Kapitels VII (Artikel 39 ff.) auch Staaten und Staatenbündnisse zur Anwendung von Gewalt ermächtigen kann.

Die Tatsache, dass trotz absoluten Verbots von Krieg und Gewalt beide dennoch nicht aus den zwischenstaatlichen Beziehungen verbannt werden konnten, hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Staaten veranlasst, Regeln zum Schutz der Zivilisten und zur Eindämmung der Brutalität und Auswüchse der Kriegsführung zu entwickeln. Dieses sogenannte Humanitäre Völkerrecht ist vorwiegend in den Haager und Genfer Konventionen von 1899 bis 1907 und 1945 sowie in den Zusatzprotokollen von 1977 kodifiziert, ohne dass es jedoch die Barbarei auch der modernen Kriegsführung wirksam begrenzen konnte.

Dem Völkerrecht drohen derzeit Gefahren an zentraler Stelle seiner Friedensregulierung: die Auflösung des absoluten Gewaltverbots des Artikels 2 Ziffer 4 UN-Charta durch die Instrumentalisierung der Menschenrechte in Gestalt der sogenannten humanitären Intervention oder der Konstruktion einer »Schutzverpflichtung« (»responsibility to protect«) für die Menschen, denen ihr Staat nicht den notwendigen Schutz bieten kann. Das Ergebnis derartiger »Neuerungen« an der UN-Charta vorbei wäre allerdings kaum der verstärkte Schutz der Menschen und ihrer Rechte, sondern die willkürliche Intervention in schwächere Staaten zur Durchsetzung ökonomischer und strategischer Interessen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. November 2014


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