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Geostrategische und ideologische Aspekte der EU-Integration Europas

Von Ernst Woit, Dresden*



I Weltmachtpolitik auf dem »eurasischen Schachbrett«

Neben und nach der NATO bildet die EU den entscheidenden zwischenstaatlichen Rahmen zur »Neuordnung Europas« nach dem Sieg des Kapitalismus über die seit 1917 bestehende alternative Gesellschaftsordnung. Damit markiert die Entstehung der EU einen Epochenwechsel. Daß dieser Epochenwechsel in Europa friedlich verlief, ist wesentlich dem KSZE-Prozeß zu danken, der der Entstehung der EU vorausging und am 21.11.1990 mit der Annahme der Charta von Paris endete, an die heute kaum noch jemand erinnert. Historisch betrachtet ist die EU sowohl das Produkt als auch die schließliche Alternative zum KSZE-Prozeß der friedlichen Koexistenz von NATO und Warschauer Vertrag. Aus Sicht des siegreichen Kapitalismus nahm die KSZE »in ihrem Ansatz die Überwindung des Ost-West-Konfliktes gewissermaßen vorweg. Zwar fehlte zunächst die gemeinsame Wertgrundlage für eine stabile europäische Normenordnung, doch konnten erste Fundamente bereits während der Konfrontation gelegt werden.«[1] »Überwindung des Ost-West-Konfliktes« bedeutete dabei die Auflösung des Warschauer Vertrages auf der einen Seite bei gleichzeitigem Fortbestehen der auf der anderen Seite »existierenden Verteidigungsbündnisse wie NATO oder WEU.«[2]

Am 7. Februar 1992 wurde mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union (EU) gegründet, die zu diesem Zeitpunkt zwölf Mitgliedsstaaten hatte. Mit dem Beitritt der bis dahin neutralen Staaten Österreich, Finnland und Schweden zum 11. Januar 1995 umfaßte die EU 15 Staaten. Inzwischen erhöhte sich die Zahl der Mitgliedsstaaten auf 24. Dabei ist bemerkenswert, daß alle ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten, die inzwischen der EU angehören, erst NATO-Mitglieder werden mußten, ehe sie die Chance erhielten, in die EU aufgenommen zu werden. Gegenwärtig sind Bulgarien und Rumänien solche EU-Anwärter. Als inzwischen langjährige NATO-Mitglieder haben sie ihre militärische Dienstbereitschaft im Rahmen der imperialistischen Geostrategie durch Stellung von Stützpunkten und Soldaten – z. B. im Irak – immer wieder zu beweisen gesucht. Die EU versteht sich, wie nicht zuletzt ihr Verfasssungsentwurf ausweist, als eine weltweit agierende Macht. Dabei handelt sie mal in Übereinstimmung und mal in Nichtübereinstimmung mit den USA. Javier Solana, Außenrepräsentant der EU, hat das so definiert: »Wir sind die größte Handelsmacht der Welt und der größte Geldgeber bei der Entwicklungshilfe. Also sind wir längst eine globale Macht. Bloß waren wir bisher noch kein militärischer Akteur. Der aber müssen wir werden, wenn wir unsere Werte verteidigen wollen. Damit machen wir uns im übrigen nicht automatisch zum Konkurrenten der USA.« (zit.n. Die Zeit, 12.6.2003)

Teile und herrsche

Nach Zbigniew Brzezinski, Exsicherheitsberater von US-Präsident James Carter und graue Eminenz unter den amerikanischen Globalstrategen, geht es in der Geopolitik »nicht mehr um regionale, sondern um globale Dimensionen, wobei eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist.« Deshalb hängt für Brzezinski »der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann.« Zur Zeit noch ist für ihn »der gesamte Kontinent von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären.«[3] Was tributpflichtiges Vasallentum bedeutet, verdeutlichte Helmut Kohl, als er 1998 in einem Interview erklärte, Deutschland habe »an die zwanzig Milliarden Mark aufbringen [müssen], weil keine deutschen Soldaten am Golfkrieg teilnahmen.« (zit. n. Die Zeit, 27.8.1998) Für Brzezinski gehört es zu den Imperativen imperialistischer Geostrategie, »Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren«.[4] Das bringt ziemlich genau auf den Begriff, wie die USA – vor allem durch ihre militärische Überlegenheit – der EU über die Dominanz der NATO gewissermaßen den geostrategischen Handlungsrahmen vorgeben. »Die europäischen Großkonzerne sind in Ermangelung einer ähnlichen militärischen Fähigkeit gezwungen, im amerikanischen Windschatten zu segeln. Die ›Verteidigung‹ ihrer weltweiten Interessen kann daher nur im Tandem mit den US-Amerikanern geschehen und schon gar nicht gegen sie.« (Rainer Rupp, in jW v. 28.10.2004) Aber die Konkurrenz der Ziele und der politisch-militärischen Praktiken zwischen den USA und der EU verschwindet damit nicht. Im Gegenteil: sie ist gerade im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg der USA gegen den Irak deutlicher als je zuvor in Erscheinung getreten.

Ziel: »Umwandlung« Rußlands

Was die Expansion ihres Machtbereiches betrifft, gibt es grundsätzlich Konsens zwischen den USA und der EU. Bereits vor zehn Jahren votierte Brzezinski für »eine Ausdehnung der NATO in das geopolitische Niemandsland zwischen Oder und russischer Grenze« als einen »Prozeß, der aufs engste mit der Erweiterung der Europäischen Union verzahnt ist« und in dem »eine stabile und sichere Ukraine« die Funktion habe, »imperialen Versuchungen Rußands« entgegenzuwirken. (zit.n. Die Zeit, 8.7.1994) Drei Jahre später beschrieb Brzezinski die Bedeutung der Ukraine in der Expansionsstrategie von USA und EU mit kaum noch zu überbietender Offenheit so: »Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden... Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangt Rußland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.«[5] Wir erleben gerade, wie USA und EU diese Strategie zur Einbeziehung der Ukraine in ihren Machtbereich verstärkt umzusetzen versuchen.

Gegenwärtig dominieren in der EU die Auseinandersetzungen über Wege zur Ausdehnung ihres Machtbereiches durch Integration der Türkei. Das geschieht sowohl in Konkurrenz zu den USA als auch in grundsätzlicher – letztlich auf die NATO zentrierter – geostrategischer Übereinstimmung mit ihnen. Zugleich gehen die Expansionsbestrebungen der EU in Richtung Naher und Mittlerer Osten natürlich noch über die Türkei hinaus. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang folgende unlängst in einer konservativen deutschen Zeitung publizierte Position: »Eine mögliche Strategie könnte die Eröffnung einer gleichzeitigen Beitrittsperspektive zur EU für Israel und Palästina sein.« Denn: eine solche Strategie »würde Westeuropa erstmals in die Lage versetzen, eine glaubwürdige Alternative zu Amerika in seiner Rolle als regionalpolitische Ordnungsmacht zu entwickeln.« (Hanns W. Maull, FAZ v. 7.11.2004)

Streitpunkt Völkerrecht

Am deutlichsten differieren USA und EU bisher in ihrer Stellung zu UN und Völkerrecht. Josef Joffe charakterisierte diese Differenz so: »Die Amerikaner stützen sich auf die Macht, der das Recht fehlt, die Europäer auf das Recht, dem die Macht fehlt.« (Die Zeit, 3.4.2003) Solange der EU eine Militärmacht fehlt, über die die USA verfügen, hält Egon Bahr es für sinnvoll, daß »Europa seine Schwäche zu seiner Stärke macht, indem es durch Verträge, durch kontrollierbare Bindungen, durch Zusammenarbeit, durch präventive Diplomatie eine Stabilität schafft, in der das Gewicht des Militärischen geringer wird.«[6]

Tatsächlich sind die Unterschiede in der Stellung zu UN und Völkerrecht zwischen den USA und den meisten EU-Staaten gravierend. So kommt der zur Zeit in New York lehrende deutsche Politologe Michael Minkenberg zu der Einschätzung, daß die Vereinten Nationen heute im Zentrum des Feindbildes der die USA regierenden Kreise stehen: »Standen in den achtziger Jahren noch der Kampf gegen den Kommunismus im Vordergrund und die Vereinten Nationen an zweiter Stelle, so rückten diese nach 1989 an die erste Stelle. Sie sind für die christliche Rechte Ausdruck einer die USA zutiefst bedrohenden Weltordnung ...«[7] Daß das keineswegs übertrieben ist, offenbarte Richard Perle, einer der einflußreichsten neokonservativen Vordenker in den USA, als er in einem Kommentar für die britische Tageszeitung The Guardian anläßlich des Kriegsbeginns gegen den Irak schrieb: »Thank God for the death of the UN« (zit. n. ND, 26.3.2003). Derselbe Richard Perle plädierte auf einem vom Bundesverband deutscher Banken einberufenen Forum mit folgenden Ausführungen für eine das in der UN-Charta eindeutig festgeschriebene Verbot des Angriffskriegs mißachtende Präventivkriegsstrategie: »Präemptive Handlungen und Strategien stellen eine rechtzeitige Reaktion auf Bedrohungen dar. ... 1981 haben die Israelis etwas getan, wofür wir ihnen dankbar sein sollten: Sie haben einen Nuklearreaktor im Irak zerstört. Sie haben dies nicht getan, weil dort Nuklearwaffen hergestellt wurden – das wäre wahrscheinlich erst Jahre später möglich gewesen –, nicht weil es eine direkte Bedrohung gab, sondern weil die Iraker nukleare Brennstoffe in diesen Reaktor einbringen wollten. ... Der Zeitpunkt dieses Präventivschlags hatte nichts mit einer unmittelbar bevorstehenden Attacke auf Israel zu tun, sondern mit Umständen, welche die Israelis nicht mehr in die Lage versetzt hätten, vernünftige Optionen zu wählen. Das ist eine vernünftige Denkweise, wenn es um Präemptivstrategien geht.«[8]

Nach Chalmers Johnson sind die USA »nicht das, was sie zu sein vorgeben, sie sind in Wahrheit ein militaristischer Moloch, der sich die Welt unterwerfen will.«[9] Dazu schufen sie sich »nicht ein Imperium der Kolonien, sondern ein Imperium der Militärbasen«[10]. 2001 unterhielten sie mindestens 725 Militärstützpunkte außerhalb ihres Hoheitsgebietes. 2003 waren sie in 153 der 189 UN-Mitgliedsstaaten militärisch präsent und in 25 Staaten massiv präsent. Mit mindestens 36 Staaten bestanden militärische Verträge oder bindende Sicherheitsabkommen.[11]

Zu den Unterschieden in der Einstellung zum Völkerrecht zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten erklärte Thomas Pickering, Staatssekretär im US-Außenministerium, bereits am 10. Februar 1999 – unmittelbar vor dem NATO-Überfall auf Jugoslawien – vor der US-Miliärakademie in West Point, es bestehe heute »zunehmend das Verlangen, sich vor dem Handeln einer eindeutigen rechtlichen Grundlage zu versichern. Am deutlichsten wird dies innerhalb der NATO, wo einige unserer Bündnispartner argumentieren, ein UN-Mandat sei für einen Einsatz der NATO außerhalb des Bündnisgebietes immer notwendig. Die Vereinigten Staaten und andere Bündnispartner stimmen hiermit nicht überein. ...Würden wir uns darauf beschränken, nur nach ausdrücklicher Zustimmung des Sicherheitsrates zu handeln, räumten wir Rußland und China praktisch ein Vetorecht gegen alle NATO-Aktionen dieser Art ein. Das ist inakzeptabel. ... Die Vereinigten Staaten werden unter keinen Umständen jemals auf ihr Recht verzichten, allein zu handeln.« (zit.n. jW, 22.7.1999)

»Neuordnung« der Welt

Bei allen Unterschieden in der Stellung zur UN und zum Völkerrecht sowie hinsichtlich der bevorzugten Mittel und Methoden zur Erreichung ihrer außenpolitischen Ziele besteht zwischen den USA und der EU ein fundamentaler geostrategischer Grundkonsens. Er betrifft die »Neuordnung« der Welt im Interesse der mächtigsten global agierenden kapitalistischen Monopole durch Beseitigung der letzten Errungenschaften antiimperialistischen und antikolonialen Befreiungskampfes im 20. Jahrhundert. Die FAZ definierte das am Tage, als die USA ihren jüngsten Krieg gegen den Irak begannen, mit den Worten: »Der Irak soll als Feind verschwinden, indem die Amerikaner ihn mit imperialen Mitteln neu gründen. Die Verwerfungen der postkolonialen Zeit werden durch einen neuen demokratischen Kolonialismus zugeschüttet.« (FAZ, 20.3.2003) Dabei geht es vor allem darum, die Bodenschätze wieder zu privatisieren, die im Ergebnis des antikolonialen Befreiungskampfes am Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts verstaatlicht worden waren, worauf bis heute z. B. auch die wirtschaftliche Stärke der OPEC-Staaten beruht. James Woolsey, 1993/94 Chef der CIA, brachte dieses strategische Ziel unmittelbar vor dem Beginn des jüngsten Krieges gegen den Irak mit den Worten auf den Begriff, es gehe »nicht nur um Amerikas Abhängigkeit vom Öl, sondern um die der ganzen Welt. ... Wir müssen dem Nahen Osten die Ölwaffe wegnehmen.... Wir fangen jetzt mit dem Irak an...« (Der Spiegel, Nr. 4/2003, S. 109) Ganz in diesem Sinne rechtfertigte Richard Herzinger solche Kriege als »Instrumente der Selbstbehauptung« der »westlichen Demokratien« und: »Dies läuft auf einen demokratischen Neokolonialimus hinaus.« (Die Zeit, 12.6.2003)

Die von diesem Neokolonialismus nach dem Ende des Kalten Krieges betroffenen Völker sehen sich Mächten gegenüber, die über Monopole verfügen, denen sie bisher nichts annähernd Adäquates entgegenzusetzen haben. Samir Amin benennt fünf Monopole, »die die polarisierende Globalisierung des heutigen Imperialismus prägen: 1. das Monopol der neuen Technologien; 2. das der Kontrolle über die globalen Finanzströme; 3. die Kontrolle des Zugangs zu den Bodenschätzen des Planeten; 4. die Kontrolle der Kommunikationsmittel und Medien; 5. das Monopol der Massenvernichtungswaffen.«[12] Was Massenvernichtungswaffen betrifft, wirft Samir Amin den USA und ihren Verbündeten vor, der Weltöffentlichkeit einen »heuchlerischen Diskurs« aufzuzwingen, »der hinnehmen lassen soll, daß der Westen die Mittel behält, die anderen Völker mit dem Genozid zu bedrohen, ohne selbst in Gefahr zu geraten.«[13] Samir Amin sieht die Völker der »dritten Welt« von den G-7- bzw. G-8-Staaten als einer »imperialen Triade« bedroht: »Sie besteht aus den Ländern Europas, aus den USA und Japan.«[14] Ähnlich äußterte sich die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, die kürzlich anläßlich der Entgegennahme des Sydney-Friedenspreises erklärte: »Während der Kampf um die Kontrolle der Weltressourcen sich intensiviert, erfährt der ökonomische Kolonialismus durch militärische Aggression ein Comeback. ... Die ›zivilisierte, moderne‹ Welt – gewissenhaft auf einem Erbe von Genozid, Sklaverei und Kolonialismus errichtet – kontrolliert jetzt das meiste Öl der Welt. Und die meisten Waffen der Welt, das meiste Geld der Welt. Und die meisten Medien der Welt...« (zit. n. jW, 11.11.2004)

II »Modernisierte Großraumtheorie«

In welchem Maße der geostrategische imperialistische Grundkonsens mit den USA bestimmend für die Außen- und Militärpolitik der EU ist, verdeutlichte Javier Solana, als er in einem Spiegel-Interview auf die Frage »Wird eine stärkere, geschlossen auftretende Europäische Union nicht in jedem Fall von den USA als Rivale empfunden?« erklärte: »Im Gegenteil: Eine stärkere Europäische Union wird ein besserer Partner für die Vereinigten Staaten sein«, denn – so die Begründung – »bei den wirklich wichtigen Problemen haben wir die gleichen Ziele. Wir haben allenfalls Handelsprobleme zum Beispiel mit Boeing und Airbus. Aber das betrifft nicht den strategischen Bereich.«(Der Spiegel Nr. 44/2004, S. 135)

Dabei bildet die Anerkennung der Hegemonie der USA durch die EU einen festen Bestandteil der gemeinsamen Geostrategie. Das schließt die Duldung eines immer größer werdenden Außenhandelsdefizits der USA ebenso ein wie die Erfüllung US-amerikanischer Forderungen nach militärischer Aufrüstung. So hielt der Frankfurter Soziologe Karl Otto Hondrich der Auffassung, die USA lebten wirtschaftlich bereits auf Kosten der anderen, entgegen: »Das kann man anders deuten: Die Welt gibt Amerika in Waren zurück, was sie an militärischen Diensten von ihm bekommt.« (Der Spiegel Nr. 25/2003, S. 58) Und selbstverständlich entspricht das aktuelle militärische Um- und Hochrüstungsprogramm der EU sowohl den imperialen Ambitionen der führenden EU-Staaten als auch entsprechenden Forderungen der USA. Die Ambitionen der EU hat Herfried Münkler so definiert: »Die eigentliche Frage heißt doch: In welcher Weise sind die Europäer handlungsfähig? Das ist die klassische Frage nach der militärischen Interventionsfähigkeit, die bedeutet, daß ein politischer Wille der Europäer mit militärischen Mitteln, mag er nun legitim oder illegitim sein, gegebenenfalls geltend gemacht werden kann.«[15] Das aber deckt sich weitgehend durchaus mit dem, was die USA von der Aufrüstung der EU erwarten und fordern: »Was Rumsfeld von den Europäern will, ist klar: Sie sollen ihre veralteten Riesenarmeen des Kalten Krieges schleunigst modernisieren, notfalls auf Kosten ihres Wohlstands und des sozialen Friedens. Anstatt die USA ständig moralisch zu kritisieren, sollen sie einen größeren Teil der Kriegs- und Friedenseinsätze übernehmen, um Washington zu entlasten.« (Susanne Koelbl in Der Spiegel Nr. 35/2004, S. 56)

Deutsche Machtambitionen

Die ideologische Grundposition des deutschen Imperialismus zur Expansion seines Einflußbereiches markierte der damalige BRD-Außenminister Klaus Kinkel bereits 1993, indem er in einem außenpolitischen Grundsatzartikel feststellte: »(N)ach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht. ... Wir sind aufgrund unserer Mittellage, unserer Größe und unserer traditionellen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa dazu prädestiniert, den Hauptvorteil aus der Rückkehr dieser Staaten nach Europa zu ziehen.«[16] Aufschlußreich ist dabei, mit welcher Selbstverständlichkeit Kinkel hier die aktuellen Ambitionen der BRD, den »Hauptvorteil« aus der EU-Integration zu ziehen, angesichts zweier vom Deutschen Reich verschuldeter Weltkriege als quasi dritten Versuch hinstellt, die »traditionellen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa« zu pflegen. Inzwischen haben sich US-Präsident George W. Bush und BRD-Kanzler Gerhard Schröder in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 27. Februar 2004 über »Das deutsch-amerikanische Bündnis für das 21. Jahrhundert« gerade im Zusammenhang mit dem heutigen Europa auch explizit und ohne jede Einschränkung zu den Traditionslinien des deutschen Imperialismus mit dem Satz bekannt: »Die Opfer zweier Generationen und die visionäre Führungsstärke unserer Vorfahren schufen die Voraussetzungen für ein geeintes, freies und friedliches Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts.« Im gleichen Dokument betonen Bush und Schröder ausdrücklich ihr gemeinsames geostrategisches Interesse an »wirtschaftlichen Chancen und Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten«.[17]

Personelle Kontinuitäten

Angesichts dieser damit als strategisch bedeutsam eingestuften Orientierung an der »visionären Führungsstärke der Vorfahren« der heutigen Machthaber ist es sicher kein Zufall, daß wir in Deutschland gegenwärtig eine regelrechte Kampagne der positiven Umwertung jener Personen erleben, die für die Verbrechen des Hitlerfaschismus in besonders hohem Maße persönlich verantwortlich waren. Bereits im Februar 1992 schrieb der Historiker Ernst Nolte: »Zeigt sich nicht, daß sogar Hitlers Vorstellung vom ›Lebensraum‹ keine bloße Phantasie war, da doch ganz Osteuropa heute der Tätigkeit der deutschen Wirtschaft offenzustehen scheint?«[18] Im vergangenen Jahr erschien eine von Lothar Gall verfaßte, über 500 Seiten umfassende Biographie des Bankiers Hermann Josef Abs [19], die in den einflußreichsten deutschen Medien als »ein großer Wurf«, weil »bemerkenswert fair« gefeiert wurde. Abs war nun wirklich keine Randfigur der Nazidiktatur. Noch kurz vor seinem Tode Anfang Februar 1994 bezeichnete ihn die US-amerikanische Zeitschrift Forbes als den »mit Abstand mächtigsten Mann in Deutschland«. Vor allem aber verkörperte er, wie Volker Ullrich in einer Rezension der Abs-Biographie feststellte, »wie kein Zweiter die Kontinuität der wirtschaftlichen Eliten über die Zäsur von 1945 hinweg.«[20] Was hatte dieser Vorfahr der heutigen deutschen Machthaber im Zweiten Weltkrieg – dem nach Kinkel »zweiten Versuch« – für europäische Visionen? Am 17. Juli 1941 – also unmittelbar nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion – erklärte Abs vor dem Handelspolitischen Ausschuß der Reichswirtschaftskammer: »Auch die Perspektiven, die sich für die deutsche Wirtschaft nach dem Krieg stellen und die auf einen engen Zusammenschluß aller kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften hinauslaufen, rechtfertigen ja unter außenhandelsmäßigen Aspekten eine Betrachtung, die Kontinentaleuropa dem amerikanischen Kontinent gegenüberstellt.« Und: »1. sei davon auszugehen, daß Deutschland nach dem Krieg Europa beherrscht, 2. Auch Europa ist nach dem Krieg auf die USA nicht angewiesen, 3. der Ferne Osten und Südamerika stehen dem europäischen Export offen...«[21] Nach Otto von Habsburg kann man in der EU »Spuren eines Gesellschaftsverständnisses finden, wie es auch das Habsburgerreich ausgezeichnet hat. ... Meine ersten politischen Ideen, die ich als junger Mann entwickelte, zielten ja auf so etwas wie die Vereinigten Staaten des Donauraumes. Da sehe ich mich jetzt durchaus bestätigt.« Und: »Natürlich gehört die Ukraine in die EU.«(FAS, 3.10.2004)

Jürgen Habermas, der den Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien noch gerechtfertigt hatte, verurteilt insbesondere seit dem Angriff der USA auf den Irak im März 2003 den »Unilateralismus der Bush-Regierung« in Gestalt der auf einen militärischen »pre-emptive strike« setzenden »Sicherheitsdoktrin« prinzipiell als Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta und damit als »Ausdruck der Mißachtung einer der großartigsten zivilisatorischen Leistungen des Menschengeschlechts.«[22] Als Alternative für Europa setzt Habermas auf das von Carl Schmitt, dem Kronjuristen des Hitlerfaschismus, in Anlehnung an die Monroe-Doktrin der USA entwickelte Konzept einer »völkerrechtlichen Großraumordnung«. Diese übertrage »das Prinzip der Nichtintervention auf die Einflußsphären von Großmächten, die ihre Kultur und Lebensform gegeneinander souverän und erforderlichenfalls mit militärischer Gewalt behaupten.« Habermas schreibt, er habe »diesem ursprünglich auf das ›Dritte Reich‹ gemünzten Projekt der völkerrechtlichen Großraumordnung Platz eingeräumt, weil es einen fatalen Zeitgeist-appeal gewinnen könnte.« Damit »empfiehlt sich eine modernisierte Großraumtheorie als ein nicht ganz unwahrscheinlicher Gegenentwurf zur unipolaren Weltordnung des hegemonialen Liberalismus..«[23] Daß solche Anregungen von den durchaus in der Tradition eines Carl Schmitt denkenden deutschen EU-Ideologen gerne aufgegriffen werden, demonstrierte eine konservative deutsche Sonntagszeitung, als sie unlängst unter der Überschrift »Europa sollte ein Reich werden« schrieb: »Carl Schmitts Großraumtheorie könnte helfen, dem imperialen Universalismus der Vereinigten Staaten auf kluge Weise zu entkommen.«[24]

Kriegsheldenpropaganda

Von unmittelbar kriegsideologischer Bedeutung sind jene Publikationen, die angesichts der Orientierung der EU-Streitkräfte auf weltweite militärische Interventionen die nach dem Zweiten Weltkrieg massenhaft entwickelten pazifistischen Positionen durch die Glorifizierung vergangener Kriege beseitigen sollen. Dazu gehört z. B. das dieses Jahr in der Deutschen Verlagsanstalt München erschienene Buch von Jürgen Busche »Heldenprüfung«, in dem u. a. Ernst Jünger, Erwin Rommel, Paul von Lettow-Vorbeck, Ernst Udet, Otto Weddigen und Paul von Hindenburg als Helden gefeiert werden. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler fragt nach dem »Cui bono«, wenn Busche mit diesem Buch »dringend nahe legt, das bisher ›verweigerte Erbe‹ militärischer Großtaten im Ersten Weltkrieg anzunehmen.« Dies geschehe »(o)ffenbar hauptsächlich deshalb, weil das Land jetzt wieder den Einsatz deutscher Soldaten unter Kriegsbedingungen zu verzeichnen hat. Die Orientierung an illustren Leitfiguren des Kriegshandwerks sei da ganz unvermeidlich, glaubt der Autor ...« (Die Zeit, 24.6.2004) Es liegt völlig in diesem Trend, wenn der Rhenania-Buchversand Koblenz seinen Kunden neuerdings neben zahlreicher die Taten deutscher Soldaten in beiden Weltkriegen verherrlichender Literatur auch eine Büste Hindenburgs mit dem Titel »Der Sieger von Tannenberg« anbietet.

Mentale Mobilmachung

In der »Sicherheitsdoktrin« der USA unter George W. Bush werden Sicherheit und Frieden primär über die Kriegführung definiert. So erklärte Bush am 13. Februar 2001 bei einem Besuch des Marinefliegerhorstes Norfolk (Virginia): »Sicherheit gewinnt man durch List und Stärke, die über den langgestreckten Bogen präzisionsgesteuerter Waffen projiziert wird. Die beste Art und Weise, den Frieden zu wahren, ist, den Krieg zu unseren Bedingungen neu zu definieren.«[25] EU und auch Bundeswehr fehlen bisher noch die Mittel, um so wie die USA Krieg führen zu können. Doch die Aufrüstung, um spätestens ab 2010/2011 gleichfalls so handeln zu können, ist längst beschlossen und begonnen worden. Das ist der Hintergrund dafür, wenn Heeresinspekteur Generalmajor Hans-Otto Budde für die Bundeswehr ein neues Leitbild fordert: »Wir brauchen den archaischen Kämpfer und den, der den High-Tech-Krieg führen kann.« Was damit gemeint ist, verdeutlichte der langjährige Chef des Kommandos Spezialkräfte, General Günzel, mit den Worten: »Eine ›neue Zeit‹ in der Militärstrategie verlangt natürlich einen Soldatentypen sui generis: Der ›Staatsbürger in Uniform‹ ... hat ausgedient.«[26] Bundeswehrexperte Detlef Bald betonte dazu am 6. Dezember 2004 im ARD-Magazin Report Mainz auf die Frage, ob Günzel mit dieser Meinung allein stehe: »Günzel ist der Repräsentant der Mehrheit der Generalität der Bundeswehr.«

Wir haben es also mit einer Entwicklung zu tun, in der die regierenden Politiker und Militärs auch der BRD im Rahmen der wesentlich von ihnen mitbestimmten Strategie zur Expansion des Einflußbereiches der EU immer offener auf Kriegführungsfähigkeit setzen. Es gehört zu dieser Entwicklung, daß bestimmte Publizisten nunmehr dazu übergehen, den Friedenswillen der Menschen öffentlich schlecht zu reden. So äußerte sich der ehemalige Chefredakteur der Sächsischen Zeitung, Wolfgang Schütz, im Januar 2004 in seiner Kolumne, die wöchentlich in einer kostenlos an alle Dresdner Haushalte verteilten Zeitung erscheint, folgendermaßen abfällig über die Friedensliebe der ehemaligen DDR-Bürger: »Gut erzogen, diese Ostdeutschen. Sich vor allem Frieden zu wünschen, ist schon mal politisch korrekt und entspringt der sozialen Erwartung, der Taktik oder dem Glauben, daß man sich gefälligst was Edles zu wünschen hat, wenn man schon so gefragt wird. Auch so ist erklärbar, daß sich selbst bei repräsentativen Umfragen kaum eine Mehrheit für Krieg ausspricht. So was Böses tut man eben nicht, basta. Der pauschale Friedenswunsch korrespondiert in gewisser Weise mit dem großen Reibach im Lotto. Die Chance, in einer von Konflikten und Krisen zerrissenen Welt Frieden zu haben, ist etwa so groß wie die Wahrscheinlichkeit eines Sechsers mit Superzahl.«[27] Ich halte das für eine an Zynismus kaum noch zu überbietende Kriegshetze. Verstärken wir also unsere Anstrengungen zur Enthüllung dieses Kriegskurses, um ihn zu stoppen, ehe es zu spät ist.

Fußnoten
  1. Heinz Vetschera: Die Rolle der KSZE als Einrichtung kooperativer Sicherheit im Rahmen des »interlocking institutions«-Konzepts. In: Bernhard v. Plate (Hrsg.): Europa auf dem Wege zur kollektiven Sicherheit ? Baden-Baden 1994, S. 151 f.
  2. Ebenda, S. 152.
  3. Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Weinheim-Berlin 1997, S. 64 u. 41.
  4. Zbigniew Brzezinski: .a.a.O., S. 65 f.
  5. Zbigniew Brzezinski: a..a.O., S. 74 f.
  6. Egon Bahr: Der deutsche Weg. München 2003, S. 131.
  7. Michael Minkenberg: Die Christliche Rechte und die amerikanische Politik von der ersten bis zur zweiten Bush-Administration. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. (Beilage zu Das Parlament). Berlin, Nr. 46/2003 v. 10.11.2003, S. 30.
  8. Richard Perle: Die amerikanische Sicht der Welt. In: Bundesverband deutscher Banken (Hrsg.): Atlantische und europäische Brüche: Vor einer neuen Weltunordnung? (Elftes Gesellschaftspolitisches Forum der Banken. Schönhauser Gespräche. 5./6. November 2003), Berlin 2004, S. 32.
  9. Chalmers Johnson: Der Selbstmord der amerikanischen Demokratie. München 2003, S. 10.
  10. Ebenda, S. 36.
  11. Nach ebenda, S. 11 u. 394.
  12. Samir Amin: Kapitalismus, Imperialismus, Globalisierung. In: Marxistische Blätter. Essen, H. 4/1998, S. 48.
  13. Samir Amin: Das Reich des Chaos. Hamburg 1992, S. 108.
  14. Samir Amin: Der kapitalistische Genozid. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Bonn, Nr. 7/2004, S. 823.
  15. Alte Hegemonie und Neue Kriege. Herfried Münkler und Dieter Senghaas im Streitgespräch.In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Bonn, Nr. 5/2004, S.547.
  16. Klaus Kinkel: Verantwortung, Realismus, Zukunftssicherung. Deutsche Außenpolitik in einer sich neu ordnenden Welt. In: FAZ, 19.3.1993.
  17. Nach: Blätter für deutsche und internationale Politik. Bonn, Nr. 4/2004, S.502.
  18. FAZ, 22. 2. 1992, zit.n. Otto Köhler: Die große Enteignung. München 1994, S.88.
  19. Lothar Gall: Der Bankier. Hermann Josef Abs. Eine Biographie; München, Verlag CH Beck, 2004
  20. Volker Ullrich: Der Herr des Geldes. In: Die Zeit. Literatur. Hamburg, Oktober 2004, S.61.
  21. Nach: Reinhard Kühnl: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. Köln 1975, S.327 f.
  22. Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen. Frankfurt M. 2004, S. 181.
  23. Ebenda, S. 192 f.
  24. Carlo Masala: Europa sollte ein Reich werden. In: FAS, 10. 10. 2004, S.15.
  25. zit.n. Wissenschaft und Frieden,Nr. 3/2001, S.43.
  26. zit.n. Jürgen Rose: Hohelied auf den archaischen Kämpfer. In: Freitag v. 2.4.2004, S.4.
  27. WochenKurier, Dresden, 7.1.2004.
* Der Artikel erschien zuerst im Heft Nr. 73 der Arbeitspapiere der Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) und später in zwei Teilen in der Tageszeitung "junge Welt" (28. und 29. April 2005


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