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Macht durch Konzentration

Oligopolisierung des Rüstungssektors

Von Sabine Lösing und Jürgen Wagner *

Das Heft 94 der Zeitschrift marxistische Erneuerung erscheint in der kommenden Woche. Der hier in zwei Teilen von jW publizierte Beitrag wurde von Sabine Lösing und Jürgen Wagner verfaßt. Sie ist Abgeordnete der Linksfraktion im Europaparlament GUE/NGL und Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten sowie des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung. Wagner ist der geschäftsführende Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI). Ihr Beitrag ist um wenige Fußnoten gekürzt und um Überschriften ergänzt.

Teil I: Triebfedern und Hindernisse für Europas Politisch-Militärisch-Industriellen-Komplex

Sowohl die politische als auch die industrielle Komponente des europäischen Rüstungssektors steht möglicherweise vor einer tiefgreifenden Restrukturierung. Sie wurde bereits 1998 in einem Papier des späteren EU-Industriekommissars Günter Verheugen mit folgenden Worten angemahnt: »Der europäische Rüstungssektor leidet vor allem unter seiner Zersplitterung. Um hier Abhilfe zu schaffen, müssen wir möglichst rasch zu einer Rationalisierung der Angebotsseite und zu einer Harmonisierung der Nachfrageseite kommen.«[1] Auch 15 Jahre später ist der EU-Rüstungssektor weiter stark fragmentiert: Es dominieren einzelstaatliche Strategien und daraus abgeleitete militärische Beschaffungsprogramme, die wiederum bevorzugt auf nationalen Märkten an die jeweils nationalen Rüstungsunternehmen vergeben werden.

Allerdings steht diese Zersplitterung mittlerweile sowohl den politischen Ambitionen der »Weltmacht Europa« als auch den Profitinteressen der Rüstungskonzerne zunehmend im Wege. Aus diesem Grund wird seit einiger Zeit vehement versucht, über verschiedene Konzentra­tionsprozesse die Konsolidierung des Rüstungssektors zu forcieren. Dabei soll die nationalstaatliche Militärpolitik mehr und mehr auf der EU-Ebene gebündelt und gleichzeitig die europäische Rüstungsindustrie, die sich gegenwärtig noch aus vielen kleinen und mittleren Unternehmen zusammensetzt, durch Fusionen und Übernahmen in einigen wenigen Superkonzernen, sogenannten Eurochampions, konzentriert werden. Letztlich soll sich hierdurch ein dichter Politisch-Militärisch-Industrieller-Komplex (PMIK) herausbilden, wobei in dieser Begrifflichkeit bereits angelegt ist, daß die Relevanz politischer Entscheidungsträger gegenüber dem »klassischen« Verständnis erheblich zugenommen hat: »Im Unterschied zu den alten Konzeptionen des Militärisch-Industriellen Komplexes, die eine Dominanz der militärischen und rüstungsindustriellen Akteure unterstellen, berücksichtigt die Konzeption eines [Neuen-]PMIK in der EU sehr viel stärker die Initiativrolle der nationalen und supranationalen politischen Entscheidungsträger.«[2] Umgekehrt bedeutet dies jedoch keineswegs, daß der Einfluß von Rüstungsindustrie bzw. Rüstungslobby zu vernachlässigen wäre. Vielmehr ist es die auf einer hochgradig komplementären Interessenlage basierende Allianz aus Politik und Industrie, die die gegenwärtigen Entwicklungen so wirkmächtig und damit gefährlich machen.

Im folgenden soll deshalb zunächst auf die konkreten Interessen und die wesentlichen Mittel eingegangen werden, die als Triebkräfte die Konsolidierung des Sektors vorantreiben. Darüber hinaus soll aber auch darauf eingegangen werden, daß dieser Prozeß keineswegs widerspruchsfrei abläuft: Zwar setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß einzelstaatliche Interessen global nur noch im EU-Verbund durch die Bündelung der vorhandenen militärisch-industriellen Kapazitäten durchgesetzt werden können. Die hieraus resultierenden Initiativen dürfen jedoch nicht als Anzeichen für eine Europäisierung bzw. Supranationalisierung der Militärpolitik verstanden werden, die weiter das Produkt nationaler Interessen und Aushandlungsprozesse bleibt. Worum es den EU-Großmächten Deutschland, Frankreich und Großbritannien wirklich geht, ist, daß in dieser komplizierten Gleichung die Belange kleiner und mittlerer Staaten (sowie die ihrer Rüstungsunternehmen) künftig immer weniger Berücksichtigung finden sollen. Es soll also eine Oligopolisierung auf den Weg gebracht werden, um den Rüstungssektor so weit wie möglich der Kontrolle der EU-Großmächte zu unterstellen.

Allerdings wirken hier bislang noch nationale Machtinteressen – im EU-Jargon vornehm als Souveränitätsvorbehalte verklausuliert – auf zweierlei Ebenen bremsend. Gemeint sind hier einerseits die aus dem seit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise offen artikulierten deutschen Vormachtanspruch resultierenden Konflikte mit Frankreich und Großbritannien. Sie erschweren gegenwärtig eine Verständigung unter diesen drei Staaten erheblich, die aber notwendig wäre, um gegenüber den restlichen Mitgliedsländern weitreichende Souveränitätsabtritte durchsetzen zu können. Gelingt es diesen Staaten jedoch, ihre derzeitigen Differenzen auszuräumen und in dieser Frage »an einem Strang« zu ziehen, besteht die reale Gefahr, daß künftig eine Art »Direktorat«, zusammengesetzt aus einigen wenigen Staaten (und ihren Konzernen), über die Frage von Krieg und Frieden in Europa bestimmen wird.

Weltpolitischer Einfluß

Sowohl die Politik als auch die Industrie argumentieren unter Verweis auf angeblich drastisch sinkende Rüstungsausgaben, eine umfassende Konsolidierung des fragmentierten Rüstungssektors sei alternativlos, wolle man machtpolitisch handlungsfähig bzw. wirtschaftlich überlebensfähig bleiben. Exemplarisch warnt die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): »Europa verliert die Fähigkeit, jenseits seiner Grenzen militärisch zu handeln. (…) Die chronisch unterentwickelten militärischen Fähigkeiten drohen weiter zu verkümmern: Als Folge der Finanzkrise schrumpfen die Verteidigungsapparate rasant.«[3] Zwar fallen die Einschnitte in den Rüstungshaushalten bei näherer Betrachtung weit geringer aus, als dies von Politik und Wirtschaft allenthalben suggeriert wird. Eine substantielle Erhöhung der Budgets dürfte auf absehbare Zeit angesichts der politischen Rahmenbedingungen allerdings tatsächlich kaum durchsetzbar sein.

In der Wahrnehmung der politischen Eliten hängt jedoch der weltpolitische Einfluß ganz wesentlich von der eigenen militärischen Schlagkraft und damit auch einer starken und unabhängigen rüstungsindustriellen Basis ab. Umfassende militärische Fähigkeiten besitzen aus dieser Sicht also auch ganz abseits konkreter Einsätze zur Interessensdurchsetzung einen machtpolitischen Mehrwert. Nick Witney, der ehemalige Leiter der EU-Verteidigungsagentur (EVA), schreibt hierzu: »Der Wert der bewaffneten europäischen Streitkräfte besteht nicht so sehr darin, speziellen ›Gefahren‹ zu begegnen, sondern darin, daß sie ein notwendiges Instrument von Macht und Einfluß in einer sich schnell verändernden Welt darstellen, in der Armeen immer noch wichtig sind.«[4] Angesichts der knappen Kassenlage besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß nur über die Bündelung der Kapazitäten auf EU-Ebene künftig genug militärische Schlagkraft generiert werden kann, um die europäischen Nationalstaaten vor der kollektiven machtpolitischen Irrelevanz zu bewahren: »Kein einzelner europäischer Staat wird auf absehbare Zeit mehr die Mittel haben, umfassende Sicherheitsvorsorge betreiben und seine Interessen global durchsetzen zu können. Um auf dem jetzigen Ausgabenniveau ein gleichbleibendes Maß an Sicherheit gewährleisten zu können, müssen die Staaten ihre Zusammenarbeit intensivieren.«[5]

Profitmargen auf hohem Niveau

Doch nicht nur die Politik, selbstredend jammert auch die Rüstungsindustrie lautstark über die scheinbar tiefen Einschnitte bei den Militärausgaben. So klagt etwa Domingo Ureña-Raso, Leiter von Airbus Military und bis Oktober 2011 Chef des größten europäischen Branchenverbandes, der AeroSpace and Defence Industries Association of Europe (ASD): »Sollte sich die Lage in den nächsten Jahren nicht grundlegend verbessern, dann riskiert Europa, Schlüsselkapazitäten im Verteidigungsbereich zu verlieren. Bis Europa aufwacht, wird es zu spät sein. Einmal verloren oder signifikant erodiert, können High-Tech-Kapazitäten nicht so einfach wieder hergestellt werden. Die Zeit zum Handeln ist nun gekommen.«[6]

Hier gilt es zunächst einmal festzuhalten, daß die Branche keineswegs kurz vor dem Ruin steht. Im Gegenteil, wie eine im Dezember 2012 veröffentlichte Untersuchung des Center for Strategic and International Studies (CSIS) belegt, erwies sich das Waffengeschäft in jüngster Zeit sogar als überaus dynamisch. Zwar seien die Profite in den 1990er Jahren eingebrochen, in den darauf folgenden Jahren seien die Umsatzerlöse der Branche jedoch von 58 Milliarden Euro im Jahr 2001 um 57,7 Prozent auf 91 Milliarden Euro 2011 gestiegen. Es geht also erstinstanzlich nicht darum, das Überleben der Branche zu sichern, sondern man ist bestrebt, die – ohnehin üppigen – Profitmargen auf möglichst hohem Niveau zu stabilisieren, wenn möglich sogar auszubauen. Da allerdings in absehbarer Zeit tatsächlich mit einer stagnierenden oder womöglich sogar leicht sinkenden Inlandsnachfrage zu rechnen ist, gewinnt das Auslandsgeschäft zunehmend an Bedeutung.

Dabei befinden sich die EU-Rüstungsexporte bereits heute auf einem extrem hohen Niveau: Im Jahr 2011 wurden Ausfuhrlizenzen im Umfang von 37,52 Milliarden Euro genehmigt. Allein 21,2 Prozent davon gingen mit dem Mittleren Osten in eine der wichtigsten Krisenregionen der Welt. Um global »erfolgreich« agieren zu können, müssen die Unternehmen allerdings über eine kritische Größe verfügen. Aus diesem Grund sucht auch die Rüstungsindustrie gegenwärtig ihr Heil in der Flucht nach Europa: »Die Zukunft heißt auch für die deutsche Rüstungsindustrie Europa«, brachte Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, diese »Logik« auf den Punkt: »Die europäische Rüstungsindustrie wird nur gedeihen, wenn wir sie zusammenfügen. Nur so entfliehen wir einer Lage, in der auf dem indischen oder chinesischen Markt die Franzosen gegen die Deutschen und die Schweden um Aufträge kämpfen. Am Schluß siegt womöglich der amerikanische Konkurrent.«[7]

Die Argumentationskette, mit der Politik und Wirtschaft auf die Konsolidierung des Sektors drängen, wurde von Stefan Zoller, ehemals Chef der EADS-Rüstungstochter Cassidian, bündig zusammengefaßt: »Die europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsindustrien sind vor dem Hintergrund (der) globalen Herausforderungen in ihrer Überlebensfähigkeit gefährdet, bilden aber auch gleichzeitig den entscheidenden Faktor bei der Positionierung Europas als Akteur in der Weltpolitik. Konsolidierung durch Konzentra­tion (…) ist so notwendig wie grundsätzlich auch möglich. (…) Vor dem Hintergrund sinkender Verteidigungshaushalte sowie einer zunehmend starken und globalen Konkurrenz der Sicherheits- und Verteidigungsindustrien können nationale, aber auch europäische Firmen nur bestehen, indem sie sich dem globalen Wettbewerb stellen und somit auch zu globalen Akteuren werden. (…) Wettbewerbs- und Kooperationsfähigkeit ›auf Augenhöhe‹ setzt aber eine entsprechende eigene Größe voraus, will man sich nicht auf die Rolle eines Zulieferers von Komponenten beschränken.«[8]

Die Militärpolitik

Alle wichtigen Beschlüsse zur europäischen Militärpolitik müssen bislang von den im Europäischen Rat versammelten Staats- und Regierungschefs weitgehend im Alleingang nach dem Konsensprinzip gefällt werden. Weder Kommission noch Europäisches Parlament verfügen über nennenswerte Mitspracherechte, eine Supranationalisierung hat hier also kaum stattgefunden. In diesem Zusammenhang werden gemeinhin Bestrebungen, die europäische Rüstungskooperation zu intensivieren, als (frühe) Vorstufe einer möglichen künftigen Europäischen Armee gewertet, die gleichsam Symbol und Endpunkt für eine weitgehend vergemeinschaftete Militärpolitik wäre.

Hierfür wurde 1992 die Westeuropäische Rüstungsgruppe (WEAG) gegründet, die aus der bereits 1976 gegründeten Independent European Programme Group (IEPG) hervorging. Sie verfolgte das Ziel, einen effizienteren Ressourceneinsatz durch die Harmonisierung der Rüstungsprogramme und die gegenseitige Öffnung der nationalen Rüstungsmärkte zu erreichen. 1995 scheiterten die Versuche, aus der WEAG eine europaweite Rüstungsagentur mit umfassenden Kompetenzen zu machen, was zur Gründung der Organisation für die Rüstungskooperation (OCCAR) im Jahr 1996 führte. Ihre Aufgabe besteht in der Koordination einiger bi- und multinationaler Beschaffungsprojekte, wie beispielsweise des Kampfhubschraubers »Tiger« oder des Airbus A400M. Allerdings nahmen an OCCAR lediglich vier Länder teil: Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien. Auch der 1998 unterzeichnete »Letter of Intent« (LoI), mit dem die europäische Rüstungszusammenarbeit weiter ausgebaut werden sollte, beschränkte sich auf nur sechs Länder (die OCCAR-Staaten sowie Schweden und Spanien).

Bei all diesen Initiativen handelte es sich jedoch um ad hoc aus nur wenigen Ländern zusammengesetzte Kooperationsprojekte, die zudem noch mit geringen Kompetenzen ausgestattet waren. Auch die 2004 gegründete EU-Verteidigungsagentur, der u.a. die Aufgabe zugewiesen wurde, die Koordination der Rüstungsaktivitäten der Mitgliedsstaaten zu verbessern, wurde in ihren diesbezüglichen Möglichkeiten eher an der kurzen Leine gehalten. Verantwortlich hierfür war wohl eine Kombination aus den desaströsen Erfahrungen, die mit länderübergreifenden EU-Beschaffungsprojekten gemacht wurden – insbesondere der Airbus A400M erwies sich als regelrechtes Milliardengrab – und generell wachsenden Souveränitätsvorbehalten der Mitgliedsstaaten gegenüber einer Stärkung der EU-Ebene.

Pooling und Sharing

Generell wurde der europäischen Rüstungszusammenarbeit aus diesen Gründen lange wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was sich erst in jüngster Zeit vor dem Hintergrund wachsender Sorgen um die künftige militärische Handlungsfähigkeit wieder änderte.

Wie abschließend dargelegt wird, handelt es sich hier allerdings, genauer gesagt, um eine Oligopolisierung und nicht um eine Supranationalisierung bzw. Europäisierung der EU-Militärpolitik. Ungeachtet dessen wird die europäische Rüstungskooperation derzeit vor allem über das sogenannte Pooling&Sharing (P&S) intensiviert. Die Idee dahinter besteht darin, daß die Bündelung der Rüstungsbeschaffungsprogramme (Pooling) zu höheren Auftragsvolumen und damit geringeren Stückpreisen führen soll. Zusätzliche Effizienzsteigerungen will man durch die gemeinsame Nutzung militärischer Kapazitäten erreichen (Sharing), wobei die damit einhergehende Harmonisierung der Bedarfsprofile wiederum gemeinsame Beschaffungsprojekte erleichtern soll. Hiervon verspricht man sich einen erheblichen machtpolitischen Mehrwert, weshalb P&S in kürzester Zeit von einem eher randständigen Gebiet ins Zentrum der EU-Agenda gerückt ist: »In den verteidigungspolitischen Kommuniqués von NATO und EU gilt Pooling und Sharing (P&S) derzeit als technokratische Wunderwaffe gegen drohende militärische Handlungsunfähigkeit.«[9]

Der erste wesentliche Impuls zur Intensivierung von P&S ging von der deutsch-schwedischen Gent-Initiative aus, deren Vorschläge der Europäische Rat am 9. Dezember 2010 billigte, indem er die intensivierte Zusammenarbeit im Rüstungsbereich als unerläßlichen »Kräftemultiplikator« bezeichnete. Im Juli 2011 legte der Europäische Auswärtige Dienst einen ersten Zwischenbericht vor, und im Dezember desselben Jahres wurden elf Pilotprojekte vereinbart, die sich etwa auf Bereiche wie Luftbetankung, Satellitenkommunikation, »intelligente« Munition usw. erstrecken. Um diese Bereiche auszuweiten, wurde am 19. November 2012 ein Verhaltenskodex (Code of Conduct) verabschiedet, dessen Zweck der Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Christian Schmidt, folgendermaßen zusammenfaßt: »Dieser Verhaltenskodex enthält eine starke politische Selbstverpflichtung der Mitgliedsstaaten, die multinationale Kooperation stärker und von Anfang an in ihre nationalen Planungen einzubeziehen und möglichst zur bevorzugten Methode im Bereich der Fähigkeitsentwicklung zu machen.«[10] Schließlich wurde auf der Ratssitzung am 13./14. Dezember 2012 der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton die Aufgabe zugewiesen, bis September 2013 ambitionierte Vorschläge für einen Ausbau von P&S vorzulegen, mit denen sich dann der einzig dem Thema EU-Rüstungspolitik gewidmete Ratsgipfel im Dezember 2013 befassen soll.


Teil II: Supranationalisierung als Vehikel der starken Nationalstaaten der EU

Analog zum politischen Bereich setzten auch die Versuche, die industrielle Komponente des Rüstungssektors zu konsolidieren, bereits vor vielen Jahren ein. Ein wesentlicher Impuls ging hier von den Konzentrationsprozessen in den USA Anfang der 1990er Jahre aus, aus denen die Sorge erwuchs, gegenüber der US-Konkurrenz ins Hintertreffen zu geraten: »In Europa kamen Befürchtungen auf, daß Europa wirtschaftlich und technologisch auf lange Sicht nicht mehr mit den USA mithalten könnte.«[11]

Da dies weder im Interesse der Politik noch der Industrie lag, wurde auch auf der anderen Seite des Atlantiks die Konzentration der Rüstungsunternehmen eingeleitet. Zwar ist vor allem der Heeressektor weiterhin stark fragmentiert, und auch im Marinebereich existieren noch zahlreiche Firmen mit Systemfähigkeit, also den Kapazitäten zur Entwicklung, Konstruktion, Herstellung und Erprobung von Waffensystemen. Nach zahlreichen Fusionen und Übernahmen gibt es in der Luft- und Raumfahrtindustrie mittlerweile aber nur noch zwei Unternehmen (EADS und BAE Systems) mit Systemfähigkeit und bei den Lenkwaffen mit dem MDBA-Konzern nur noch eines. Auch im Elektronikbereich sind mit Thales, BAE Systems und EADS lediglich noch drei Systemführer vorhanden. Es hat also zweifellos eine starke Konzentration der Rüstungsindustrie stattgefunden: »Große Teile der europäischen technologischen Kapazitäten (…) konzentrieren sich mittlerweile in den Händen einer kleinen, oligopolistischen Gruppe ›nationaler Champions‹.«[12] Allerdings erfolgte dieser Konsolidierungsprozeß – sieht man einmal vor allem von der wichtigen Ausnahme EADS ab – nahezu ausschließlich entlang nationaler Linien: »Grenzüberschreitende Fusionen waren eher die Ausnahme, überwiegend wurde mehr oder minder konsequent entlang nationaler Grenzen konsolidiert.«[13]

Neue Beschaffungsrichtlinie


Was große transeuropäische Zusammenschlüsse anbelangt, herrschte nach der Gründung von EADS im Jahr 2000 weitgehend Ruhe an der Fusionsfront. Als sich dies änderte, dann gleich mit einem richtigen Paukenschlag: Mitte September 2012 wurde bekannt, der deutsch-französische Rüstungsgigant EADS (Jahresumsatz 2011: 16390 Millionen US-Dollar) stehe kurz vor einer Fusion mit der britischen BAE Systems (Jahresumsatz 2011: 29150 Millionen US-Dollar). Auch wenn der Versuch, die beiden Unternehmen zum mit Abstand weltgrößten Waffenkonzern zu verschmelzen, einen Monat später vorläufig scheiterte, sind sich nahezu alle Beobachter einig, daß es sich hier lediglich um den Auftakt für zahlreiche weitere Fusionen und Übernahmen handelte: »Trotz dieses Rückschlags wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zu einer weiteren Konsolidierung der europäischen Verteidigungsindustrie kommen.«[14]

Der Grund für diese Prognosen liegt darin, daß seitens der Politik in den letzten Jahren durch Maßnahmen zur Etablierung eines europaweiten Rüstungsmarktes die Grundlagen für weitere Konzentrationsprozesse geschaffen wurden. Unter den verschiedenen hierfür ergriffenen Maßnahmen ist vor allem der von der Verteidigungsagentur im November 2005 vorgelegte »Verhaltenskodex für das Beschaffungswesen« zu nennen, der im Sommer des darauffolgenden Jahres in Kraft trat und von nahezu allen Mitgliedsländern unterzeichnet wurde. Er enthält u.a. Passagen, daß fortan Beschaffungen ab einer Million Euro europaweit ausgeschrieben und alle Bieter fair und gleich behandelt werden sollen. In der Praxis wurde der Verhaltenskodex seitens der Mitgliedsländer jedoch geflissentlich ignoriert, da es sich bei ihm um eine rechtlich nichtbindende Absichtserklärung handelte. Dies sollte sich mit der Vorlage des Verteidigungspakets (Defence Package) im Jahr 2007 grundlegend ändern. Es besteht aus zwei Richtlinien, die 2009 verabschiedet wurden und Mitte 2012 europaweit rechtlich bindend in Kraft traten.

Der eine Teil des Verteidigungspakets besteht aus der »Richtlinie über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit« (kurz: Beschaffungsrichtlinie). Vordergründig soll sie durch die Etablierung eines europaweiten Rüstungsmarkts dafür sorgen, daß künftig alle EU-Unternehmen ohne »Wettbewerbsverzerrungen« um Aufträge konkurrieren können – was gemäß der herrschenden Orthodoxie erhebliche Effizienzsteigerungen nach sich ziehen soll: »Die Richtlinie (leistet) einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines echten europäischen Markts für Verteidigungsgüter wie auch zur Stärkung der europäischen rüstungstechnologischen und -industriellen Basis.«[15] Wie bereits gesagt: National abgeschottete Märkte sind mittlerweile sowohl den politischen als auch den industriellen Interessen abträglich: »Anstelle eines EU-weiten Marktes für Verteidigungsgüter gibt es immer noch 27 nationale Einzelmärkte, die durch Einfuhrzölle und -genehmigungen voneinander abgeschottet werden. Diese Einzelmärkte sind zu klein, um internationale Wettbewerbsfähigkeit zu garantieren.«[16]

Um diesen Zustand zu überwinden, schreibt die Beschaffungsrichtlinie ähnliche Maßnahmen wie der Verhaltenskodex vor – nunmehr aber eben rechtlich bindend: »Wichtig dabei ist, daß im Rahmen eines nicht diskriminierenden Vergabeverfahrens die Richtlinie ab einem bestimmten Auftragswert eine EU-weite Bekanntmachung vorschreibt. Dies führt zu größerer Transparenz und Offenheit, sorgt für mehr Effizienz im öffentlichen Beschaffungswesen und verbessert den Marktzugang europäischer Unternehmen in anderen EU-Mitgliedsstaaten.«[17] Bislang konnten die EU-Länder unter Berufung auf nationale Sicherheitserwägungen (Artikel 346 AEUV) die Regeln des Binnenmarkts für den Rüstungsbereich aussetzen. Eigentlich als Ausnahme gedacht, nutzten sie diesen Passus, um ihre jeweiligen Rüstungsmärkte permanent vor inner­europäischen Konkurrenten abzuschotten und den gesamten Bereich der Kontrolle und Überwachung der Kommission zu entziehen. Diese Option kann gemäß der rechtlich bindenden Beschaffungsrichtlinie künftig, wenn überhaupt, nur noch in absoluten Ausnahmefällen gezogen werden.

Kleine EU-Länder chanchenlos

Ergänzend wirkt hier die zweite Komponente des Verteidigungspakets, die »Richtlinie zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern« (kurz: Verbringungsrichtlinie). Sie ermöglicht die nahezu schrankenlose und unkontrollierte innereuropäische Verbringung von Rüstungsgütern, indem sie nahezu sämtliche Exportkontrollen beseitigt und so ebenfalls die Herausbildung eines EU-Rüstungsmarkts fördert. Der eigentliche Zweck der beiden Richtlinien liegt deshalb darin, die Konzentration der Rüstungsindustrie voranzutreiben, wie etwa der Bundesverband der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie bestätigt: »Das Verteidigungspaket soll den Wettbewerb auf den europäischen Rüstungsmärkten verschärfen. (Es) soll die derzeitige Zersplitterung des europäischen Rüstungsmarkts beenden.«[18]

Das Verteidigungspaket erweist sich somit als »ideale« Ergänzung zu »Pooling&Sharing«. Denn sollten künftig, wie beabsichtigt, tatsächlich deutlich mehr europaweite Beschaffungsprojekte lanciert werden, steigen zwar einerseits die Stückzahlen, gleichzeitig wird es aber insgesamt deutlich weniger Aufträge geben. Durch die Öffnung der nationalen Märkte über das Verteidigungspaket wird sich gleichzeitig der Wettbewerb der Unternehmen um die weniger werdenden Aufträge verschärfen. Auf dem so entstehenden europäischen Rüstungsmarkt werden sich mittelfristig dann lediglich die stärksten Akteure durchsetzen: »Durch die Vereinigung des europäischen Rüstungsmarkts wird den EU-Unternehmen ein ›ebenes Spielfeld‹ verordnet, das wahrscheinlich den Effekt haben wird, daß Unternehmen kleinerer Länder nicht in der Lage sein werden, mit Konzerngiganten wie EADS zu konkurrieren. Damit konsolidiert sich ein europäischer Rüstungsmarkt weiter, der von einer kleinen Anzahl extrem mächtiger Konzerne kontrolliert wird.«[19]

Die hieraus hervorgehenden Eurochampions hätten dann wiederum die kritische Masse, um auf den Weltexportmärkten »erfolgreich« zu sein, weshalb diese Konzentrationsprozesse auch gewollt sind – zumindest von denjenigen Ländern und Konzernen, die davon ausgehen, bei dem anstehenden großen Fressen bis zum Ende mit am Tisch zu sitzen: »Die deutsche Rüstungswirtschaft braucht keine protektionistische Käseglocke, sondern einen fairen, offenen Markt in Europa und anderswo, auf dem Qualitätsprodukte und wirtschaftliche Angebote zählen«, argumentiert etwa der bereits zitierte Verteidigungsstaatssekretär Christian Schmidt.[20] Die Grundlagen für weitere Fusionen und Übernahmen sind also gelegt, was erklärt, weshalb die meisten Beobachter davon ausgehen, daß sich der europaweite Konzentrationsprozeß in den nächsten Jahren deutlich beschleunigen wird. Welche Dimensionen die Industrie dabei im Auge hat, verdeutlicht einmal mehr Ex-Cassidian-Chef Stefan Zoller: »Das Ziel einer wie auch immer konstruierten Konsolidierung der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie muß eine Dimensionierung im Blick haben, die zumindest tendentiell der des US-amerikanischen Markts entspricht.«[21]

Ob sich ein solches Szenario realisieren wird, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob die Europäische Kommission auf der restriktiven Anwendung von Artikel 346 AEUV beharren wird, sollten die Staaten an ihrer bisherigen Praxis festhalten und ihre Märkte weiter abschotten. Daß die EU-Kommission gegen 23 Mitgliedsstaaten, die das Verteidigungspaket nicht oder nur unvollständig in nationales Recht überführt hatten, Vertragsverletzungsverfahren einleitete, deutet jedenfalls stark darauf hin. Nicht nur in dieser Frage, sondern ganz generell, dürfte das Spannungsverhältnis zwischen Supranationalität und Souveränitätsvorbehalten aufgrund nationalstaatlicher Machtinteressen für die zukünftige Entwicklung des Rüstungssektors jedoch von entscheidender Bedeutung sein.

Lissabon-Vertrag forciert Prozeß

Wie bereits angedeutet, wird eine die EU-Mitgliedsstaaten gleichberechtigt behandelnde Supranationalisierung bzw. Europäisierung von Militärpolitik und Rüstungsindustrie, bei der die Nationalstaaten ihre Eigenständigkeit und die Konzerne ihre nationalstaatliche Bindung preisgeben, seitens der wesentlichen Akteure ungeachtet vollmundiger Forderungen nach einer Stärkung der europäischen Ebene ohnehin überhaupt nicht angestrebt – im Gegenteil. So stimmen die Mitgliedsstaaten, was die rüstungsindustrielle Seite anbelangt, zwar weitgehend darin überein, daß umfassende Konzentrationsprozesse erforderlich sind. Damit endet die Einigkeit aber bereits: Kleine und mittlere Länder sorgen sich um das Überleben ihrer Unternehmen, während die großen Mitgliedsstaaten darauf pochen, daß ihre Konzerne am Ende den Sektor dominieren werden. Diese Souveränitätsvorbehalte erschweren gegenwärtig den Konzentrationsprozeß erheblich, wie etwa der ehemalige EVA-Leiter Nick Witney beklagt: »Ganz grundsätzlich beharren die Staaten darauf, daß es der Wirtschaft obliege, ihre Unternehmen auf Grundlage kommerzieller Überlegungen zu konsolidieren. Aber dieselben Politiker (…) versuchen sicherzustellen, daß, wenn die unausweichliche Schrumpfung und Konsolidierung der Industrie eintritt, ihre eigenen ›nationalen Champions‹ unter den letzten sind, die überleben.«[22]

Natürlich sind die Nationalstaaten nicht nur bestrebt zu verhindern, daß ihre Rüstungsunternehmen unter die Räder kommen. Gleichzeitig wollen sie verständlicherweise auch sicherstellen, daß der Ausbau der europäischen Rüstungszusammenarbeit nicht dazu führt, daß sie jegliche Kontrolle über den hochsensiblen Militärbereich verlieren. Doch genau dies soll geschehen – allerdings nur, was die Einflußmöglichkeiten der kleinen und mittleren Mitgliedsstaaten anbelangt. Da die dem Konsensprinzip geschuldeten komplizierten Aushandlungsprozesse und Kompromisse mit unzähligen kleinen und mittelgroßen Ländern eine »effektive« Nutzung der EU-Ebene für machtpolitische Belange erheblich beeinträchtigen, sollen diese »lästigen« Staaten künftig an den Katzentisch der EU-Militärpolitik verwiesen werden.

Als wesentliches Instrument hierfür könnte sich die mit dem Vertrag von Lissabon (Artikel 46) eingeführte »Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« (SSZ) erweisen, deren Aktivierung inzwischen unter Verweis auf die Notwendigkeit effizienterer Entscheidungsprozesse immer häufiger gefordert wird. Faktisch läßt sich mittels der SSZ das Konsensprinzip aushebeln, indem wesentliche Teile der EU-Militärpolitik an einige wenige, in Exklusivgruppen organisierte Länder übertragen werden können. Denn um sich für die Teilnahme an solchen SSZ-Gruppen zu »qualifizieren«, wurden derart hohe Hürden errichtet, daß diese nur von den mächtigsten EU-Staaten übersprungen werden können. Wohin hier die Reise gehen soll, zeigen Überlegungen, die vom damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy bereits 2008 angestellt wurden: Man solle die SSZ dafür nutzen, um ein »Direktorium« für den Bereich der Militärpolitik, bestehend aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Spanien und Polen, zu bilden.

Bislang gibt es noch erhebliche Widerstände gegenüber der Bildung von SSZ-Gruppen. Um hier den notwendigen Druck gegenüber den kleinen und mittleren Mitgliedsländern zu erzeugen, dürfte es somit mindestens der konzertierten Vorgehensweise Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens bedürfen. Dies wird gegenwärtig noch durch die heftigen Konflikte verhindert, die im seit Ausbrechen der Finanzkrise offen zutage tretenden deutschen Vormachtanspruch begründet sind. Der französisch-britische Verteidigungspakt als gegen Deutschland gerichtete und vollkommen außerhalb der EU verortete weitreichende bilaterale Militärkooperation ist ein deutlicher Ausdruck für die schwere Krise im gegenseitigen Verhältnis. Die in Großbritannien herrschende starke Grundskepsis gegenüber allem, was nach EU aussieht – selbst wenn in Wahrheit noch immer die Nationalstaaten drinstecken –, kommt erschwerend hinzu. Zumindest müßte also Deutschland von seinem Vormachtanspruch abrücken und die Bereitschaft an den Tag legen, französische und britische Interessen umfänglich zu respektieren; ansonsten dürfte die angestrebte Konsolidierung des Sektors im Ansatz stecken bleiben.

Scheinbare Vergemeinschaftung

Sollten sich die EU-Großmächte in dieser Frage jedoch verständigen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß der bisherige Widerstand der kleinen und mittleren Mitgliedsländer überwunden werden könnte, sowohl bezüglich der industriellen als auch der politischen Oligopolisierung. Für den Ausbau der Rüstungskooperation könnte sich hier zynischerweise die Wirtschafts- und Finanzkrise als regelrechter »Glücksfall« erweisen. So argumentiert eine Studie für das Generaldirektorat für Außenpolitik des Europäischen Rates: »Die Finanzkrise kann für den europäischen Verteidigungssektor ein Risiko, aber auch eine Gelegenheit sein: Einerseits klingt es plausibel, daß sinkende Budgets den Druck auf die Mitgliedsstaaten erhöhen, zu kooperieren und die EU-Probleme hinsichtlich der Kapazitätsentwicklung und der Restrukturierung der Verteidigungsindustrie und -märkte zu überwinden. Andererseits dominieren nationale Vorgaben weiterhin und zwar ungeachtet eines Jahrzehnts der Rhetorik und an Initiativen für mehr Zusammenarbeit und weniger nationalen Einfluß auf die EU-Verteidigungspolitik.« Dies sei nicht mehr weiter hinnehmbar, so die Studie, es könne nicht länger angehen, »Ressourcen unter dem Deckmantel nationaler Souveränität zu verschwenden«.[23]

Dahingestellt sei einmal, ob sich die prognostizierten Einsparungen bzw. Effizienzsteigerungen überhaupt realisieren lassen – wie bereits angedeutet, sprechen die bisherigen Erfahrungen eher dagegen. Entscheidend ist, daß über diese Behauptung eine »Supranationalisierung« der Militärpolitik von Leuten wie dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, eingefordert wird: »Die EU kann nur gemeinsam das Gewicht, das sie mit Blick auf ihre Bevölkerung und Wirtschaftskraft besitzt, in die Waagschale werfen. (…) In der Finanz- und Wirtschaftspolitik haben die Euro-Staaten entscheidende nationale Kompetenzen schon an die supranationale Ebene übertragen. Es ist an der Zeit, dies auch im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu wagen.«[24]

Was für die EU-Wirtschaftspolitik gilt, trifft allerdings ebenso für den Militärbereich zu: In Wahrheit erweist sich die »Supranationalisierung« als Vehikel der starken Nationalstaaten, ihre ureigenen Interessen – sowohl gegenüber den kleinen und mittleren EU-Ländern als auch über die europäische Bündelung auf globaler Ebene – »effektiver« durchsetzen zu können. Eine wirkliche Vergemeinschaftung findet nicht statt; die mächtigen Nationalstaaten werden in ihrer Fähigkeit, die EU-Militärpolitik zu bestimmen, in keiner Weise beschränkt. Dies gilt umso mehr, da nationalstaatliche parlamentarische Kontrollbefugnisse durch die Verlagerung von Aktivitäten auf die EU-Ebene zunehmend beschnitten werden, gleichzeitig aber auch eine Stärkung des Europäischen Parlaments ausbleibt. Wer somit einer vertieften militärischen Integration das Wort redet, setzt sich in Wahrheit für die Oligopolisierung des europäischen Rüstungssektors ein, der hierdurch der Kontrolle einiger weniger Staaten und der mit ihnen assoziierten Konzerne unterstellt wird.

Anmerkungen
  1. Paul Quilès/Günter Verheugen: Europa braucht eine gemeinsame Rüstungsindustrie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Publication No. 4/1998
  2. Hans-Jürgen Bieling: Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union, Wiesbaden 2010, S. 200
  3. Christian Mölling: Pooling und Sharing in EU und NATO, SWP-Aktuell, Mai 2012, S. 1
  4. Nick Witney: How to stop the demilitarization of Europe, European Council on Foreign Relations (ECFR), Policy Brief 40, November 2011, S. 1
  5. Patrick Keller: Zur Zukunft der GSVP, in: Zeitschrift für Innere Führung, 1/2013
  6. ASD-President issues wake up call over defence cooperation, ASD-Newsletter, April 2011, S. 1
  7. Chef der Sicherheitskonferenz sieht Rüstungsfusion positiv, in: Handelsblatt vom 21.9.2012
  8. Stefan Zoller: Konsolidierung des europäischen Sicherheits- und Verteidigungsmarktes und globale Herausforderungen, in: Gerd F. Kaldrack/Hans-Gert Pöttering (Hg.): Eine einsatzfähige Armee für Europa. Zur Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach Lissabon, Wiesbaden 2011, S. 248 f.
  9. Christian Mölling: Pooling und Sharing in EU und NATO, a.a.O., S. 1
  10. Christian Schmidt: Perspektiven der EDA, Kommentar Onlineauftritt Behördenspiegel Februar 2013
  11. Florian Bertges: Der fragmentierte europäische Verteidigungsmarkt, Frankfurt am Main 2009, S. 81
  12. Stefan Markowski/Robert Wylie: The Emergence of European Defence and Defence Industry Policies, in: Security Challenges, Volume 3, Nr. 2, Juni 2007, S. 40
  13. Die wehrtechnische Industrie vor der Krise?, Branchenreport der IG-Metall, 28.8.2010
  14. Andrea Gilli: After austerity: futures for Europe’s defence industry, EUISS Briefs, Nr. 8, 29.11.2012, S. 1
  15. Bericht der Kommission über die Umsetzung der Richtlinie 2009/81/EG zur Auftragsvergabe in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit, COM (2012) 565 final, Brüssel, den 2.10.2012
  16. Michael Seibold: Europas Rüstungsmarkt: Weniger als die Summe seiner Teile, in: ADLAS, 2/2010, S. 15
  17. EU-Kommission Unternehmen und Industrie: Verteidigung und Sicherheit am Scheideweg, Online-Magazin Unternehmen & Industrie, 19.4.2011
  18. BDSV: EU-Verteidigungspaket/Defence Package, o. J., www.bdsv.eu/de (20.3.2013)
  19. Malte Lühmann: Lobbying Warfare. The arms industry’s role in building a military Europe, Brüssel, Corporate Europe Observatory, September 2011, S. 8
  20. Christian Schmidt: Perspektiven der EDA, Kommentar Onlineauftritt Behördenspiegel, Februar 2013
  21. Stefan Zoller: Konsolidierung des europäischen Sicherheits- und Verteidigungsmarktes und globale Herausforderungen, in: Gerd F. Kaldrack/Hans-Gert Pöttering (Hg.): Eine einsatzfähige Armee für Europa, Wiesbaden 2011, S. 240
  22. Nick Witney: Re-energising Europe’s Security and Defence Policy, ECRF Policy Paper, Juli 2008, S. 38
  23. Christian Mölling/Sophie-Charlotte Brune: The impact of the financial crisis on European defence, EUDGEXPO, Brüssel 2011, S. 15
  24. Hans-Gert Pöttering: Vorwort der Herausgeber, in: (siehe Anmerkung 21), S. 7
Bezugsquelle: www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de. Das Einzelheft kostet 10 Euro, das Jahresabo (vier Hefte) 35 Euro.

* Dieser Beitrag aus Z. erschien in zwei Teilen in der jungen Welt vom 1. und 3. Juni 2013


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