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Europäische Rüstungsindustrie im Sturzflug?

Das Internationale Institut für Strategische Studien (IISS) sieht dunkle Wolken über den europäischen Herstellern von Kampfflugzeugen *

Das Londoner IISS, eins der wichtigsten Think Tanks der NATO, macht sich Sorgen um die europäische Rüstungsindustrie. Laut der letzten Veröffentlichung des Instituts ist insbesondere die Zukunft der Militärflugzeugindustrie voller Ungewissheiten. Auch wenn derzeit noch mehrere Typen von Kampfflugzeugen in der Produktion sind, die Auslastung der Kapazitäten also durchaus noch akzeptabel erscheint, könnte sich das bald ändern. Denn erstens gibt es gegenwärtig keinerlei Planungen für in Europa entwickelte neue bemannte Kampfflugzeuge und zweitens sind auch die Aussichten für die Entwicklung und Produktion von unbemannten Flugsystemen völlig unbestimmt.

Heute gibt es in Europa noch sechs Endmontagewerke für drei Kampfflugzeugtypen. Das sind der Eurofighter Typhoon, der in Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien gebaut wird, Dassaults Rafale, produziert in Frankreich, und Saabs Gripen, der in Schweden hergestellt wird. Zwei dieser Modelle werden aber wohl gegen Ende des Jahrzehnts – zumindest in Europa – auslaufen, sodass nur die Produktion des schwedischen Gripen (eine schwedisch-schweizerische Kooperation) in den 20er Jahren fortgeführt würde. Planungen hinsichtlich eines Ersatzes für die beiden Auslaufmodelle existieren zur Zeit nicht. Entsprechend unklar ist die Zukunft der entsprechenden Produktionskapazitäten.

Mehrere europäische Staaten, so Großbritannien, Italien, die Niederlande, Norwegen und die Türkei, kauften bzw. finanzierten bereits die Entwicklungskosten eines neuen US-amerikanischen F-35 Jägers, bei dem die Rolle der Europäer aber auf die von Sub-Unternehmern beschränkt sei.

Auch wenn sich Frankreich und Großbritannien kürzlich vorgenommen haben, ein Entwicklungsprogramm für unbemannte militärische Flugsysteme ins Auge zu fassen – was mit dem Erwerb hochwertigen Designs und von Entwicklungskompetenzen verbunden sei -, würde die geplante Produktion doch deutlich unter der Menge der bisherigen Kampfflugzeuge bleiben, mit entsprechend gravierenden Auswirkungen für deren Hersteller.

Amerikanische Vorherrschaft

Nach derzeitigem Kenntnisstand werde die amerikanische F-35 von Lockheed Martin wohl das bestimmende Kampfflugzeug des Westens für die kommenden Jahrzehnte sein, auch wenn es noch gar nicht in Dienst gestellt sei und schon heute erhebliche Verzögerungen und Kostensteigerungen feststellbar sind. Beispielsweise haben die USA aus Kostengründen die Produktion für die nächsten Jahre verlangsamt. In Europa seien lediglich Frankreich und Deutschland nicht beteiligt an dem Programm.

Das IISS weist darauf hin, dass die F-35 für die europäischen Flugzeughersteller ambivalent zu sehen ist: Einerseits unterminiere sie die Entwicklung europäischer Modelle, andererseits seien viele europäische Unternehmen - insbesondere in Großbritannien - als Zulieferer in die Herstellung der F-35 eingebunden.

So stünden die europäischen Regierungen vor der schwierigen Entscheidung, wie sie sich angesichts sinkender Verteidigungsbudgets verhalten sollen: Entweder Vereinbarungen zu treffen für gemeinsame Entwicklungsprogramme für eine neue Generation von Kampfflugzeugen (übrigens dem bei weitem kostspieligsten Teil der militärischen Ausrüstung) oder zu akzeptieren, dass die technologischen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten der europäischen Luftfahrtindustrie allmählich verloren gehen – womit allerdings die Abhängigkeit Europas von den USA für die Zukunft festgeschrieben würde.

Unbemannte Systeme (Drohnen)

Was die unbemannten Flugsysteme (unmanned aerial vehicles-UAVs) betrifft, so sind sie im letzten Jahrzehnt sowohl zur Aufklärung als auch zum Kampfeinsatz verstärkt zum Einsatz gekommen, wobei die USA und Israel sich eine starke Position im Exportmarkt sichern konnten. Da jedoch die Entwicklung von Tarnkappensystemen der Geheimhaltung unterliege, würden europäische Kooperationsprojekte auf NATO-Verbündete beschränkt bleiben.

Derzeit verfolgten Frankreich und Großbritannien mit ihren Unternehmen Dassault und BAE-Systems eine Zusammenarbeit bei derartigen Entwicklungsprojekten mit zurzeit allerdings eher bescheidener finanzieller Ausstattung. Nach der Anfangsphase von vorgesehenen 18 Monaten hätten sie zu entscheiden, ob sie in die zweite, erheblich kostspieligere Phase eintreten wollen, mit der Folge, dass nach der Produktion eines Demonstrations- und Testmodells das neue Fluggerät zwischen 2030 und 2035 einsatzfähig wäre. Vor allem bei der neu gewählten französischen Regierung sei der Prozess der Evaluation des Bedarfs und Erwerbs von unbemannten Flugkörpern noch nicht abgeschlossen.

Beide Staaten haben bereits die Herstellung von derartigen Flugkörpern am Laufen und werden sie im Verlauf des kommenden Jahres erproben und vorführen. Obwohl besonders in das britische Modell („Tarani“) erhebliche Anstrengungen investiert wurden zum Erreichen eines möglichst perfekten Tarnkappeneffekts und einer Verringerung der Infrarot-Strahlung des Antriebs, sollen weder dieses noch das nicht ganz so hochwertige französische Modell („Neuron“) direkt zu einem Waffensystem führen, das für eine Serienproduktion geeignet wäre.

Bemannte Kampfflugzeuge

Das IISS weist ferner darauf hin, dass die häufige Verwendung von unbemannten Fluggeräten in Irak und Afghanistan, und bei der Erwartung, in einem nichtumkämpften Luftraum operieren zu können, den geschätzten Bedarf an bemannten Kampfflugzeugen weltweit mit einem großen Fragezeichen versehen habe. Dies bedeute allerdings nicht, dass die Entwicklung von bemannten Kampfflugzeugen schon vollständig zum Stillstand gekommen sei.

So würden derartige Entwicklungsprogramme von mehreren Staaten, inklusive den USA, China, Russland, Indien, Japan, Süd-Korea und Brasilien, weiter verfolgt. Die USA fassten eine Weiterentwicklung der F-35 ins Auge, wie auch eines zukünftigen Bombers, und sowohl Russland als auch China unternähmen große Anstrengungen in dieser Hinsicht mit beträchtlichen Erweiterungen ihrer jeweiligen Produktionskapazitäten. Auch Indien, Japan, Süd-Korea und Brasilien verfolgten das Ziel, mit der bereits begonnenen Entwicklung von neuen Kampfflugzeugen – z.T. in Kooperation mit den Großmächten – ihren industriellen Sektor weiter zu entwickeln, was – selbst bei geringem oder ausbleibendem Erfolg bzw. Nutzen – in seinen Auswirkungen nicht zu vernachlässigen sei.

Die europäische Industrie habe in der jüngsten Vergangenheit, allerdings erfolglos, den Versuch unternommen, in die Programme dieser Länder zum Nutzen der eigenen zukünftigen Entwicklung einzusteigen. Bisher gelang es aber lediglich, für die bereits bestehenden Modelle weitere Exportaufträge zu generieren, womit sich für die beiden Haupt-Militärmächte Frankreich und Groß-Britannien ein fortdauerndes Problem stelle, ihre Kampfflugzeug-Produktionskapazitäten mittel- und langfristig aufrechtzuerhalten.

Laut IISS ist in Europa davon auszugehen, dass bei allen Planungen für die zukünftige Entwicklung der Luftwaffen eine Fortsetzung des seit Jahren bestehenden Trends des Herunterfahrens der Kapazitäten wie auch der Ambitionen der Staaten zu erwarten sei. Vor diesem Hintergrund seien die verstärkten Bemühungen in London und Paris zu sehen, zu einer engeren Kooperation in diesem Bereich zu gelangen, um die nationalen finanziellen Mittel optimaler einsetzen zu können, was auch bereits 2010 zu einem bahnbrechenden Vertrag über militärische Kooperation in verschiedensten Projekten geführt habe. Im Juli 2012 – kamen der britische und der neu französische Verteidigungsminister zusammen und unterzeichneten entsprechende Vereinbarungen. Im gemeinsamen Kommuniqué wird davon gesprochen, dass für spezifische Programme weiteren verbündeten Staaten eine Beteiligung, soweit machbar, angeboten werden solle. Wörtlich heißt es: „The UK and France are determined to set the pace in Europe for cooperation to deliver their future capability requirements and the ministers agreed that cooperation on specific programmes may include other close allies with similar capability and contribution, when practicable and feasible.”

Deutschland, das bereits eine Vereinbarung mit Frankreich für diesbezügliche gemeinsame Entwicklungen getroffen hatte, reagierte auf die neue franko-britische Vereinbarung zunächst konsterniert. Inzwischen haben Paris und Berlin aber ebenfalls eine diesbezügliche Absichtserklärung unterschrieben. Auch Italien und Schweden beobachteten die franko-britische Beziehung im militärischen Luftfahrtsektor sehr genau. Möglich, dass sie eine Teilnahme an einer Art erweiterter Kooperation anstreben.

Abschließend weist das IISS erneut darauf hin, dass trotz dieser europäischen Bemühungen bei der Entwicklung bemannter und unbemannter militärischer Flugkörper, die von entscheidender Bedeutung für den Bestand der europäischen Verteidigungsindustrie seien, nur mit einem bescheidenen Produktionsvolumen zu rechnen sei. Letztlich kämen die Regierungen - selbst bei zukünftigen Kooperationen - nicht umhin, eine beträchtliche Reduktion ihrer militärischen Produktionskapazitäten vorzunehmen.

Kommentar

Das Papier des IISS ist nicht nur wegen der Schilderung des angeblich trostlosen Zustands der europäischen Rüstungsindustrie (Klappern gehört ja bekanntlich zum Handwerk) und wegen der auf-gezeigten Perspektiven und Szenarien interessant, sondern stellt indirekt der Europäischen Union ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Ist doch die EU mit der Gründung der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA) vor wenigen Jahren angetreten, die Rüstungsaktivitäten und –programme der EU-Mitglieder zu koordinieren, um Mehrfachaufwendungen zu reduzieren, Kapazitäten zusammenzufassen und damit die militärischen Fähigkeiten der EU zu erhöhen, wie es der Lissabon-Vertrag und die Europäische Sicherheitsstrategie verbindlich vorsehen. Das IISS tut so, als gäbe es das alles nicht, als reduziere sich der Rüstungsmarkt mehr oder weniger auf das neue Tandem Großbritanni-en/Frankreich, während andere europäische Schwergewichte wie Deutschland, Schweden oder Italien und Spanien nur als dessen Juniorpartner anschlussfähig seien. Eine solche Sichtweise spiegelt den NATO-Standpunkt, man könnte auch sagen: den Standpunkt der USA wider, wonach die europäischen Staaten nur als NATO-Partner, nicht aber als EU wahrgenommen werden. Und in der Tat: Die „Leistungen“ der in Paris beheimateten Europäischen Verteidigungsagentur“ sind bisher vernachlässigbar. Bestimmend sind nach wie vor die Nationalstaaten und ihre jeweilige Rüstungsindustrie; von EU-Kooperation kann keine Rede sein. Man muss darüber aber auch nicht traurig sein denn Europa braucht keine effizienteren Rüstungsstrukturen, sondern weniger an Rüstung und Militär. Dasselbe gilt natürlich auch für die NATO.

Eckart Fooken und Peter Strutynski

* Das Papier des IISS erschien im September 2012 unter dem Titel: „Cloudy prospects for Europe's combat aircraft makers“; Quelle: IISS Strategic Comments; www.iiss.org [externer Link].


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