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Die Erde untertan

Hintergrund. Die Schiefergasgewinnung durch Fracking hat die USA zu einer Energiesupermacht werden lassen. Deren neue Geopolitik könnte Rußland zum Schaden gereichen

Von Jörg Kronauer *

Glaubt man der Kanzlerin, dann wird jetzt nicht mehr gekleckert, sondern geklotzt. Nichts weniger als »eine neue Betrachtung der gesamten Energiepolitik« Deutschlands und der Europäischen Union hat Angela Merkel am 27. März angekündigt. Die EU-Staaten verzeichneten »zum Teil eine sehr hohe Abhängigkeit« von Öl und vor allem von Erdgas aus Rußland, konstatierte sie nach einem Treffen mit dem kanadischen Premierminister Stephen Harper. Das solle sich jetzt ändern. Die Krim-Krise zeige: Es müßten dringend neue Wege für die Energieversorgung der EU gefunden werden. Aber welche? Merkel hatte es nicht auf die sonst so hochgelobten erneuerbaren Energieträger abgesehen. Kanada, mit dessen Premier sie gesprochen hatte, exportiert zur Zeit Öl und Erdgas in die USA, sucht jedoch alternative Abnehmer für seine Rohstoffe – nicht zuletzt, weil die Vereinigten Staaten selbst ihre Produktion gewaltig ausweiten und ihre Exporte steigern. Auch US-Gas könne in Zukunft in die EU verkauft werden, hieß es anläßlich Harpers Besuch in Berlin. Bündele man alle verfügbaren Kräfte, dann könne es womöglich gelingen, die Abhängigkeit der EU vom russischen Erdgas zu reduzieren. Die EU-Energieversorgung könne auf gänzlich neue Füße gestellt werden – letztlich dank des US-amerikanischen Frackingbooms.

Die Anwendung dieses relativ neuen Abbauverfahrens im großen Stil, die in der Ära George W. Bush ausgelöst worden ist, wälzt seit Jahren die US-Energiebranche um. Seit den frühen 2000er Jahren wird in den Vereinigten Staaten zunehmend Schiefergas gefördert, das aus sehr tief liegenden Gesteinsschichten sozusagen freigesprengt werden muß. Dazu wird ein mit Chemikalien versetztes Gemisch aus Wasser und Sand unter hohem Druck in diese Lagerstätten gepreßt. Das Verfahren des »Hydraulic fracturing«, gewöhnlich »Fracking« genannt und als hochgradig umweltschädlich verschrieen, boomt. Die US-Schiefergasförderung hat sich von 2007 bis 2011 vervierfacht und 2012 rund 39 Prozent des gesamten US-Gasaufkommens erreicht. Mit Fracking läßt sich auch Öl gewinnen. Dank der umstrittenen Technologie nahm die US-Erdölausbeute von 2008 bis 2013 um die Hälfte zu. Die Vereinigten Staaten standen 2012 auf der Weltrangliste der Erdölförderstaaten auf Platz drei und dürften in Kürze den bisherigen Spitzenreiter Saudi-Arabien ablösen. Beim Erdgas haben sie, wie die aktuelle »Energiestudie« der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) belegt, bereits 2012 Rußland von der führenden Positionen verdrängt. Vieles ist beim Fracking noch ungeklärt. So weiß niemand genau, wie groß der Anteil an den Vorkommen ist, der sich wirtschaftlich abbauen läßt, und ebenso wenig ist bekannt, ob die krassen Umweltgefahren dem Schiefergasboom nicht doch früher oder später ein Ende setzen. Tatsache ist aber: Auf Basis des Frackings entwickeln sich die USA derzeit zur globalen Energie-Supermacht.

Frackingboom

Das hat zunächst Folgen für die Vereinigten Staaten selbst. So ist dort der Erdgaspreis dramatisch gesunken – laut dem Institut für Weltwirtschaft Kiel von 8,74 US-Dollar pro tausend Kubikfuß (entspricht 28,3 Liter) im Jahr 2005 auf 2,66 US-Dollar pro tausend Kubikfuß im Jahr 2012. Damit liegt er weit unter dem in Europa oder in ­Asien. Der niedrigere Gaspreis begünstigt die US-Industrie gegenüber ihrer globalen Konkurrenz. Der Fracking­boom könne bis 2020 zu einem jährlichen BIP-Wachstum zwischen zwei und vier Prozent führen und bis zu 1,7 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, schätzt – allerdings hochoptimistisch – das McKinsey Global Institute. Zudem hoffen Experten, die erfolgreiche heimische Öl- und Gasförderung könne, weil sie die Importe verringert, das gewaltige Außenhandelsdefizit des Landes senken, das rund zur Hälfte aus der Einfuhr von Energieträgern resultiert. Wie immer beim Thema Fracking gilt: Die Hoffnungen basieren auf Schätzungen und Vermutungen. Kritiker verweisen auf Schwierigkeiten, die sich gegenwärtig schon abzeichnen. Manche Experten nehmen an, »daß sich die heutigen Preiseffekte auf Dauer nicht halten werden, weil die Schiefergasproduktion zu diesen Preisen langfristig nicht kostendeckend möglich ist«, schrieb etwa das Institut für Weltwirtschaft Kiel im August 2013. Dennoch lösen die wirtschaftlichen Chancen des Fracking-Booms in Teilen des US-Establishments eine starke Dynamik aus: Sie könnten »helfen, den Befürchtungen eines Abstiegs der Vereinigten Staaten ein Ende zu setzen«, hieß es in der jüngsten Ausgabe der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs. Robert D. Blackwill und Meghan L. O’Sullivan, die den Beitrag dazu verfaßt haben, arbeiteten in der Ära Bush jr. für den Nationalen Sicherheitsrat der USA.

Zum einen entwickeln die Vereinigten Staaten sich zur Energiesupermacht, zum anderen ist ihr Schiefergas deutlich billiger als das Erdgas zahlreicher Förderkonkurrenten – das sind die zwei Eckpfeiler der von manchen bereits beschworenen »Geopolitik der Schiefergasrevolution«. Daraus leiten sich vielerlei Konsequenzen ab. Eine erste besteht darin, daß die USA ihren neuen Rohstoffreichtum nutzen können, um von Öl- und Gasimporten deutlich unabhängiger zu werden. Das eröffnet außenpolitisch weitere Spielräume. Können die Vereinigten Staaten ihre Einfuhren etwa aus Saudi-Arabien verringern, dann sinkt dessen Bedeutung für Washington. Die Option, den Persischen Golf weniger stark kontrollieren zu müssen, setzt Kräfte frei, die sich für den »Pivot to Asia« nutzen lassen, den Schwenk hin zur Asien-Pazifik-Region – zum Machtkampf gegen die Volksrepublik China.

Experten wie Alan Riley von der City University London, zu dessen Spezialgebieten das Fracking gehört, leiten daraus Folgen für die EU-Außenpolitik ab. Wenn die Vereinigten Staaten nicht mehr vom saudischen Erdöl abhängig seien, »kann man dann«, fragte er in einer 2012 publizierten Analyse, »von ihnen erwarten, daß sie ihr Militär, etwa die Fifth Fleet, auf Dauer im Golf stationiert lassen – sozusagen als einen sozialen Dienst an der Europäischen Union?« Oder müßten nicht, fragte Riley rhetorisch, EU-Staaten, die dazu in der Lage seien, eine stärkere Rolle bei der militärischen Sicherung der Region übernehmen? Im Januar 2013 bekam der Spiegel eine angeblich geheime BND-Studie in die Finger, die ähnliches besagte. Wegen des Frackingbooms seien die USA bald nicht mehr auf saudisches Öl angewiesen, hieß es darin. Damit nehme ihre »außen- und sicherheitspolitische Handlungsfreiheit« zu, und es werde wohl »in Washington die Bereitschaft sinken, immer neue große Milliardenbeträge in die militärischen Kapazitäten für diese Region zu stecken«. Bald darauf war in Berlin zu hören, da müsse wohl die EU in die Bresche springen. Im Oktober 2013 berichtete Bundespräsident Joachim Gauck schließlich von »Stimmen«, die stärkere militärische Aktivitäten Deutschlands und Europas forderten. Seither hält die neue Berliner Offensive der Außenpolitik an. Für das ohnehin nach Weltmachtgeltung strebende Deutschland kommt die Entwicklung wie gerufen.

Förderung nicht profitabel

Zu den Konsequenzen, die sich aus ihrem vollzogenen Aufstieg zur Energiesupermacht ergeben, gehört, daß die Vereinigten Staaten in wenigen Jahren wohl sogar entsprechende Ressourcen im großen Stil exportieren können. Unumstritten ist das in Washington nicht: Schließlich sorgt das steigende Öl- und Gasangebot für einen niedrigen Preis im Inland und schafft die erwähnten Vorteile für die Industrie. Dennoch wird schon in wenigen Jahren mit umfangreichen Schiefergasausfuhren gerechnet. Zu groß sind die Profite, die sich die Energiefirmen vom Export erhoffen, zu groß sind auch die weltpolitischen Chancen. Letztere haben vor allem damit zu tun, daß eine Steigerung des Aufkommens den Erdgaspreis auch in Asien und insbesondere in Europa drücken wird. In gewissem Maße erfolgt das bereits, auch weil mehrere Staaten wie etwa Katar begonnen haben, ihre Flüssiggasproduktion erheblich auszuweiten. Die Konsequenzen bekommen vor allem traditionelle Gasförderländer zu spüren – an vorderster Stelle Rußland.

Wieso? Ein gutes Beispiel bietet das Schicksal des russischen »Schtokman«-Erdgasfeldes. Das Feld, das mit Vorräten von 3,9 Billionen Kubikmetern Erdgas und 53 Millionen Tonnen Kondensat eines der größten der Welt ist, sollte angezapft werden. Dazu vergab Moskau im Jahr 2007 Lizenzen für ein Joint-venture mit Gasprom an die französische Total und die norwegische Statoil. Das Vorhaben war ehrgeizig, aufwendig und wohl nur bei einem hohen Erdgaspreis rentabel: Das Feld liegt 600 Kilometer vor Murmansk in der arktischen Barentssee. Das Konsortium machte sich an die Planung. Man hatte vor, 50 Prozent der Fördermenge via Pipelines in die EU zu leiten, um auch die Märkte westlich der Bundesrepublik zu erobern, die zweiten 50 Prozent aber zu verflüssigen und als Liquefied Natural Gas (LNG) in die USA zu transportieren. Relativ bald wurde klar, daß der Frackingboom in den Vereinigten Staaten dem LNG-Projekt die Grundlage entzogen hatte. Zudem stellte sich rasch heraus, daß das zunehmend vorhandene Flüssiggas etwa aus Katar und Algerien nicht zuletzt in Westeuropa landete – in der Erkenntnis, daß in den USA wider Erwarten mit LNG nicht viel zu holen sein werde. Die Chancen, das Schtokman-Gas profitabel zu verscherbeln, sanken erkennbar. Im August 2012 stellte das Konsortium schließlich seine Arbeiten ein, offiziell »auf unbestimmte Zeit«. »Der globale LNG-Boom und die Schiefergasrevolution in den USA haben das Schtokman-Projekt gemeinsam seiner wirtschaftlichen Grundlage beraubt«, resümierte die Washingtoner Jamestown Foundation, die für neokonservative und antirussische Positionen bekannt ist. Inzwischen ist mehrfach bestätigt worden, daß die Arbeiten nicht weitergeführt werden.

Die Folgen der steigenden Verfügbarkeit von Flüssiggas machen Moskau auch jenseits von Einzelprojekten zu schaffen. Das zeigen etwa die Lieferungen von Gasprom an seinen deutschen Geschäftspartner E.on. Der Düsseldorfer Energiekonzern hatte sich schon vor Jahren beklagt, daß LNG wegen des Schiefergasbooms billiger zu haben sei als russisches Erdgas. Im Sommer 2012 gelang es E.on, seine Zahlungen an den russischen Erdgasriesen tatsächlich zu senken. Anfang Juni 2013 fügte das Unternehmen Gasprom einen nächsten schweren Schlag zu: Der Konzern kündigte an, ab 2020 jährlich rund 6,5 Milliarden Kubikmeter LNG – das entspricht sieben Prozent des deutschen Erdgasjahresverbrauchs – aus Kanada zu beziehen. Man wolle sich stärker um Alternativen zum vergleichsweise teuren russischen Erdgas bemühen, hieß es zur Begründung. E.ons kanadischer Geschäftspartner ist die Firma Pieridae Energy, die bis 2020 ein LNG-Terminal im ostkanadischen Goldboro (Nova Scotia) fertiggestellt haben will. Mindestens ein Drittel des in Goldboro verflüssigten Gases soll aus Frackingprojekten stammen.

Für Rußland verheißt das alles nichts Gutes. Obwohl es selbst über umfangreiche Schiefergasvorräte verfüge, werde das Land durch den Fracking­boom zumindest kurzfristig wohl erheblich geschwächt, urteilten Blackwill und O’Sullivan in Foreign Affairs. Zwar werde Rußland auch auf lange Sicht vermutlich der größte Energielieferant Europas bleiben. Doch es werde nicht mehr die bisherigen Preise erzielen können. Sollten die Einkünfte aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft aber weiter fallen, dann könne das »Rußlands politisches System destabilisieren«. Tatsächlich basiert rund die Hälfte des russischen Etats auf Einnahmen aus dem Rohstoffexport. Sinken diese, dann gibt es echte Probleme. »Schon mit dem aktuellen Preis nahe bei 100 US-Dollar pro Barrel hat der Kreml seine offiziellen Erwartungen für das Wirtschaftswachstum im kommenden Jahrzehnt auf rund 1,8 Prozent zurückgeschraubt und begonnen, Haushaltskürzungen zu vollziehen«, hieß es in Foreign Affairs. »Wenn die Preise weiter fallen, könnte Rußland sogar gezwungen sein, seinen Stabilisierungsfonds zu leeren«. Dann müßten drastische Austeritätsmaßnahmen folgen. Blackwill und O’Sullivan entwickelten das Szenario weiter: »Der Einfluß des russischen Präsidenten Wladimir Putin könnte schrumpfen, wodurch sich neue Chancen für seine politischen Gegner im Inland ergäben; zugleich würde Moskau im Ausland einen schwachen Eindruck machen.« Ohnehin sind manche im US-Establishment schon seit einiger Zeit der Auffassung, Rußland müsse als weltpolitische Kraft mittel- und langfristig nicht mehr ernstgenommen werden.

»Reverse flow«

Die strategischen Chancen, die der Fracking­boom und seine Folgen dem Westen bieten, zeigen sich auch im Konflikt um die Ukraine – und das wohlgemerkt schon seit mindestens zwei Jahren. Im März 2012 machten erstmals Berichte die Runde, Kiew bemühe sich um Alternativen zum Kauf russischen Erdgases. Es verhandle dabei mit dem deutschen Energiekonzern RWE. Hintergrund war die – auch wegen der Entwicklung in den USA – zunehmende Flexibilität auf dem Erdgasmarkt, die es RWE ermöglichte, der Ukraine billigeres Gas als das russische anzubieten. Die technische Voraussetzung dafür schafft der »Reverse flow«, die sogenannte Schubumkehr: Pipelines, die seit je russisches Erdgas in andere Länder Europas transportierten, lassen sich prinzipiell auch in umgekehrter Richtung nutzen. Im Mai 2012 schlossen RWE und der ukrainische Versorger Naftogas einen Rahmenvertrag. Die Lieferungen, die darin vereinbart worden waren, begannen im November 2012, zunächst über Polen, ab März 2013 dann auch über Ungarn. Nur die Slowakei weigerte sich hartnäckig, bei dem Deal mitzumachen. Aktuell wird Druck auf das Land ausgeübt, angesichts des eskalierten Konflikts um die Ukraine endlich seine Rohrleitungen für den »Reverse flow« zu präparieren. Allerdings taugt diese Maßnahme noch nicht dazu, Moskau dauerhaft auszustechen: Weil der LNG-Preis schwankt, mußte Kiew im Oktober 2013 seine Erdgaskäufe in Polen plötzlich stoppen – sie waren kurzfristig teurer als Lieferungen aus Rußland geworden.

Auch das Fracking selbst bietet Chancen, Moskaus Einfluß in Kiew zu schwächen. Die Ukraine verfügt laut Angaben der U.S. Energy Information Administration mit 1,2 Billionen Kubikmetern über die drittgrößten Schiefergasvorkommen Europas. Damit läßt sich die Abhängigkeit von russischem Erdgas weiter verringern. Schon die Regierung Janukowitsch, die aller westlichen Propaganda zum Trotz eine Regierung der ukrainischen Oligarchen und deshalb nicht einseitig auf Rußland, sondern auf eine Kooperation mit Ost wie West orientiert war, hatte das Land für westliche Frackingprojekte geöffnet. Im Januar 2013 erhielt Shell die Lizenz zur Schiefergasförderung in der Ostukraine. Anfang November 2013 erteilte Kiew dem US-Konzern Chevron die Erlaubnis, westukrainische Vorräte auszubeuten. Dabei verbinden sich Konzepte zur Schwächung Rußlands und Markteroberungsstrategien zu einem profitablen Mix: Mächtige Unternehmen wie Shell und Chevron begreifen ihre Aktivitäten in der Ukraine durchaus auch als wichtigen Schritt zur Eindringung in den erhofften europäischen Schiefergasmarkt.

Die Markteroberung in Europa steht bei den Energiekonzernen, die Fracking betreiben, ohnehin auf dem Programm, und das keineswegs nur bei US-amerikanischen und britischen. So setzen zum Beispiel auch die französische Total oder die deutsche Wintershall auf die höchst umstrittene Technologie. Der Konflikt um die Ukraine liefert ihnen eine günstige Chance, den seit langem gewünschten Zugriff durchzusetzen: Von russischem Erdgas unabhängiger zu werden – diesem Ziel wird sich angesichts der gegenwärtigen Kampfpropaganda kaum jemand widersetzen wollen, am wenigsten übrigens die härtesten Frackinggegner von den Grünen. Fracken gegen Rußland: Die Konstellation ist alles andere als ein Zufall. Das liegt nicht nur daran, daß Moskau durch den Schiefergasboom, wie es Blackwill und O’Sullivan in Foreign Affairs exemplarisch schilderten und wie es in der Praxis die Schtokman-Pleite zeigt, zumindest kurzfristig nur verlieren kann. Es liegt auch daran, daß westliche Konzerne in westlichen Staaten das Geschehen bislang dominieren. »Hydraulic fracturing« ist, wenn man so will, eine (noch) transatlantische Technologie. Nicht umsonst erleichtern die Pläne für das Abkommen über die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP), wie Kritiker betonen, deren Durchsetzung in Europa voraussichtlich ungemein.

Transatlantische Renaissance

Einige westliche Staaten verzeichnen derzeit auch jenseits von Schiefergas einen gewaltigen Aufschwung bei der Förderung von Energie­trägern. Kanada beispielsweise ist auf der BGR-Rangliste der Staaten mit den größten Erdölreserven auf Platz zwei vorgerückt, liegt damit direkt hinter Saudi-Arabien und deutlich vor Iran und Irak. Der Grund? Kanadas Erdölsande lassen sich inzwischen gewinnbringend ausbeuten. Auch beim Erdgas wird in Ottawa – nur zum Teil dank Fracking – ein starker Aufschwung erwartet. Für den Weltmarkt stehen die Rohstoffe jedoch wiederum wegen des US-Schiefergases zur Verfügung, welches ja dazu führt, daß die Vereinigten Staaten perspektivisch auf Lieferungen aus Kanada verzichten können. Auch Australien hat sich dank neuer Funde auf der BGR-Erdgasrangliste nach oben katapultiert, auf Rang elf bei den gesicherten Reserven, noch vor dem Irak. Die ohnehin starke Allianz Australiens mit den USA könne auf der Basis gemeinsamer Erdgasmacht »den westlichen Einfluß in Asien weiter zementieren«, urteilte Robert D. Kaplan, ein Experte des als geheimdienstnah eingestuften US-Dienstes Stratfor. Der »geopolitische Aufstieg Kanadas« auf der Grundlage von Öl und Gas könne »diesen Trend verstärken«. Die dramatischen globalen Verschiebungen bei den Energie­trägern öffneten »Washington einen neuen Weg, seine Bündnisse zu stärken«, hieß es in Foreign Affairs. Dies gilt umso mehr, als der alte Rivale Rußland deutlich geschwächt und auch die OPEC durch Frackingöl aus den USA sowie durch Öl aus kanadischem Sand, wie Blackwill und O’Sullivan schrieben, um ihren traditionellen Einfluß gebracht werden könnte. Gelänge es, das brüchig werdende transatlantische Bündnis nicht nur per TTIP, sondern vor allem auch mit einer machtvollen energiepolitischen Basis zu unterfüttern – durch Fracking in Europa, vor allem aber durch nordamerikanische Energielieferungen in die EU – dann könnte die Kooperation zwischen den USA und der deutsch geführten EU womöglich ebenfalls neue Stärke erlangen.

Es müßten schleunigst US-amerikanische Schiefergasexporte nach Europa genehmigt werden, forderten US-Republikaner wie etwa der Sprecher des Abgeordnetenhauses, John Boehner, Anfang März. Sie begründeten dies mit dem Konflikt um die Ukraine. »Wir brauchen neue Flüssiggasterminals«, verkündete EU-Energiekommissar Günter Oettinger etwa zur selben Zeit: »Wir sollten überlegen, Gas auf dem Schiffswege auch aus den USA zu beziehen.« Der EU-Gipfel am 20./21. März bekräftigte dieses Ziel. Die Staats- und Regierungschefs der G-7-Länder – ohne Rußland – beschlossen am 25. März in Den Haag, ein Treffen ihrer Energieminister einzuberufen. Dabei solle es um die Pipelinenutzung in umgekehrter Richtung und um Flüssiggaslieferungen aus den USA gehen, hieß es. Am 26. März äußerte US-Präsident Barack Obama in Brüssel, ein Abschluß des TTIP-Abkommens werde die Ausstellung von Exportlizenzen für US-Schiefergas nach Europa erleichtern. Offiziell geht es selbstverständlich nur darum, Europa aus der »Abhängigkeit« von Rußland zu befreien. Tatsächlich aber dreht es sich um nichts weniger als um eine Erneuerung des transatlantischen Blocks auf der Grundlage des US-Frackingbooms – die »Geopolitik der Schiefergasrevolution«.

Hinzuzufügen wäre dreierlei. Es handelt sich nicht darum – das betonten etwa auch Blackwill und O’Sullivan in Foreign Affairs –, die russischen Erdgaslieferungen nach Europa zu beenden. E.on und Wintershall werden – dafür steht vor allem die zumindest ansatzweise Fracking-kritische SPD – weiterhin ihre wichtigen Geschäfte machen dürfen. Deren Partner in Moskau wäre aber wohl, gelingt die Erneuerung des transatlantischen Blocks und die Schwächung Rußlands, zwangsläufig fügsamer als bisher. Zweitens: Ein erneuertes transatlantisches Bündnis wäre nicht dasselbe wie das alte. In der – größer und stärker gewordenen – EU ist die Führungsfrage geklärt; der ehemalige Juniorpartner wird erwachsen und bemüht sich, wie es kürzlich der Berliner Politikberater Herfried Münkler formulierte, »Augenhöhe mit den USA« zu erreichen. Last not least: Es geht um Pläne von Strategen, die sich auf schwankendem Terrain bewegen. Ob sie aufgehen oder schon in Kürze scheitern, so wie die NATO in Afghanistan, steht auf einem völlig anderen Blatt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. April 2014


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