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Eine Frage von Leben und Tod

Indien: Medha Patkar über den Kampf gegen Staudämme, Alternativen und politische Einflussnahme

Die namhafte indische Bürgerrechtlerin Medha Patkar ist Gründerin der Bewegung zur Rettung des Narmada-Flusses (NBA). Großstaudämme, denkt sie, berauben Hunderttausende ihrer Lebensgrundlage, da sie kaum für den Verlust ihrer Dörfer entschädigt werden. Deshalb protestierte die NBA unlängst gegen die weitere Erhöhung des umstrittenen Sardar-Sarovar-Damms. Insgesamt sollen im zentralindischen Narmada-Tal 30 riesige, 135 mittlere und rund 3000 kleine Dämme entstehen. Mit Medha Patkar sprach in Delhi Stefan Mentschel.
Wir dokumentieren das Interview, das im "Neuen Deutschland" erschien.



ND: Der Sardar-Sarovar-Staudamm wird derzeit von 110 auf 122 Meter erhöht. Dagegen protestierten Sie und zwei Ihrer Mitstreiter vor wenigen Wochen mit einem 20-tägigen Hungerstreik. Warum diese ultimative Form des Widerstands?

Medha Patkar: Indiens Politiker bringen seit Jahrzehnten gewaltige Entwicklungsprojekte auf den Weg, ohne vorher ökologische und soziale Auswirkungen zu prüfen. Sind Entscheidungen einmal gefallen, werden sie ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt. Beim Sardar-Sarovar-Damm bekommen wir das gerade zu spüren. Nachdem die Erhöhung im März bekannt gegeben wurde, haben wir auf allen politischen Ebenen nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Entschädigung der vom Anstieg des Wasserspiegels betroffenen 35 000 Familien nicht gesichert ist. Es fehlt an angemessenem Ersatzland. Niemand reagierte auf unseren Appell, den Bau auszusetzen, bis die Rehabilitierung gesichert ist. Als auch Premierminister Manmohan Singh nicht eingriff, waren alle Möglichkeiten des Dialogs ausgeschöpft. Deshalb begannen wir den Hungerstreik.

Beendet haben Sie ihn, nachdem das Oberste Gericht Mitte April verfügt hat, dass nur weitergebaut werden kann, wenn die Rehabilitierungsmaßnahmen in angemessenen Umfang umgesetzt werden. War Ihre Aktion ein Erfolg?

Nein, denn die Richter haben auch in zwei weiteren Anhörungen Anfang Mai keinen Baustopp veranlasst – obwohl alle Beweise auf dem Tisch lagen. Stattdessen haben sie eine weitere Kommission beauftragt, die erneut den Stand der Rehabilitierung prüfen soll. Doch wenn deren Bericht Ende Juni vorliegt, wird der Damm bereits 122 Meter hoch sein.

Einen Tag nach Ende Ihres Hungerstreiks forderte Premier Manmohan Singh vor Wirtschaftsvertretern, dass Entwicklungsprojekte nicht zu einer Bedrohung für Menschen und ihre Lebensräume werde dürften.

Ach wissen Sie, die Regierung muss sich ein menschliches Gesicht geben. Dafür wurde sie gewählt. Doch in den vergangenen fünf bis zehn Jahren haben Globalisierung und neoliberale Wirtschaftspolitik die Zahl der Zwangsumgesiedelten vervielfacht – sowohl in urbanen Zentren als auch auf dem Land. Staat und Wirtschaft dringen mit gewaltigen Infrastrukturprojekten tief ins ländliche Indien vor. Doch nicht um die Lebensgrundlage der Menschen zu verbessern, sondern um ihnen ihre Ressourcen zu stehlen.

Andere nennen das Wirtschaftswachstum.

Fest steht, dass ökologische und soziale Kosten vernachlässigt werden. Umsiedlung im Namen des Aufschwungs bedeutet in diesem Land fast immer die totale Zerstörung der Lebensgrundlage der Betroffenen, ohne sie dafür zu entschädigen – das ist meine Erfahrung nach zwei Jahrzehnten politischen Kampfes im Narmada-Tal.

Gibt es Alternativen zu den Mega-Projekten und den Verwerfungen, die daraus resultieren?

Zunächst einmal muss bereits die Planung der Projekte demokratisch ablaufen. Das bedeutet, dass etwa die indigene Bevölkerung maßgeblich über die Verwendung der in ihrem Siedlungsgebiet vorhandenen natürlichen Ressourcen bestimmt. Dazu gehört auch die Technologie, die letztlich angewandt wird. Bislang wird darüber jedoch in oft weit entfernten Machtzentren entschieden.

Was heißt das konkret?

Wassermanagement muss auf lokaler Ebene beginnen. Wenn man überall konsequent Regenwasser sammelte, müssten nicht riesige Kanalsysteme gebaut werden, um Wasser von einem Ort zum anderen zu transportieren. Zudem darf es nicht verschwendet werden. Ich frage Sie, ist es nachhaltig, wenn im regenarmen Gujarat mit enormem Aufwand Erdnussplantagen bewässert werden und nur wenige Kilometer weiter die Kleinbauern kein Trinkwasser haben?

Es wird auch argumentiert, die Dämme seien wichtig, um den steigenden Energiebedarf zu decken.

Wer so etwas sagt, darf nicht verschweigen, dass in Indien 40 bis 60 Prozent des Stroms bei der Übertragung verloren gehen – oder von denen gestohlen werden, die es sich leisten können, Diebe zu sein.

Sehen Sie Chancen für Veränderungen?

Ja, aber es ist eine Frage des politischen Willens.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, selbst politische Verantwortung zu übernehmen?

In den Parlamenten und Ministerien gibt es Leute, die gute Arbeit leisten. Doch andere sollten draußen bleiben. Politiker sagen uns, dass sie bestimmte Themen nur auf die Tagesordnung setzen können, wenn es den entsprechenden öffentlichen Druck gibt. Ich glaube, dass ich mehr erreichen kann, wenn ich meine politische Arbeit als Teil einer sozialen Bewegung fortsetze.

Was ist der größte Erfolg in 20 Jahren Narmada-Bewegung?

Sicherlich, dass wir Tausende Menschen ermutigen konnten, sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Früher haben sie Enteignung und Vertreibung als Schicksalsschläge hingenommen. Heute fordern diese Menschen selbstbewusst ihre Rechte ein.

Wie geht es weiter?

Der Sardar-Sarovar-Damm wird uns weiter beschäftigen, denn die Konsequenzen der Erhöhung werden grausam sein. Es ist eine Frage von Leben und Tod. Unser großes Ziel ist der Aufbau einer landesweiten Bewegung, um der neoliberalen Politik etwas entgegenzusetzen. Doch das wird nicht einfach.

* Aus: Neues Deutschland, 13. Juni 2006

Weitere Berichte über das Narmada-Tal:

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