Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Viel Expertise - viel Mainstream

Friedensgutachten 2014 beschwört das "Friedensprojekt Europa" – Die Ukraine im Fokus

Von Peter Strutynski *

Zum 27. Mal in Folge legten Anfang Juni 2014 die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute ihr Jahresgutachten vor. Dass sie hierzu wieder die Räumlichkeiten der Bundespressekonferenz in Anspruch nehmen, zeugt nicht nur vom gestiegenen Selbstbewusstsein der Institute, ihre Analyse und Botschaft an zentraler Stelle des politischen Hauptstadtlebens zu verkünden, sondern auch von der Aufmerksamkeit, ja, Akzeptanz, welche die politische Klasse dem Gutachten mittlerweile entgegenbringt. Letzteres kann zweierlei bedeuten: Entweder man feiert die Bekanntgabe des Friedensgutachtens als willkommenen moralischen Fingerzeig ab – um sich dann umso weniger um dessen Konsequenzen und Umsetzung kümmern zu müssen, oder das Gutachten selbst ist schon so zahnlos und allgemein geworden, dass sich jede Partei sei’s der Regierungskoalition sei’s der Opposition darauf meint berufen zu können.

Die fünf „großen“ Friedensforschungsinstitute - das sind das Institut für Interdisziplinäre Forschung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg, das Duisburger Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und das Bonn International Center for Conversion (BICC). Damit ist zwar nicht die ganze Forschungslandschaft der Bundesrepublik in Sachen Friedens-, Sicherheits- und Außenpolitik erfasst; denken wir etwa an die einschlägigen Kapazitäten der parteinahen Stiftungen oder an die regierungsnahen Think Tanks wie die vom Auswärtigen Amt alimentierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), oder denken wir an die immer noch zahlreichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich vereinzelt oder in informellen Arbeitsgruppen, innerhalt oder außerhalb universitärer Einrichtungen, ständig oder sporadisch mit friedenspolitischen Themen befassen. Richtig ist aber, dass die genannten fünf Institute über einen großen Stab exzellenter Wissenschaftler/innen mit entsprechend fundierter Expertise verfügen.

Viel Expertise

Die breite Fächerung dieser Expertise schlägt sich nieder in den vielen Einzelbeiträgen des „Friedensgutachtens“. Da findet sich etwa – aus aktuellem Anlass - ein lesenswertes Essay über die emanzipatorische Kraft des Fußballs in Brasilien und deren gleichzeitige Einschränkung durch das Mega-Spektakel der Weltmeisterschaft. Gleich vier Beiträge befassen sich mit der Rolle der „Religion in Gewaltkonflikten“ (Teil 2). Die regionalen Beispiele (Ägypten, Myanmar, Nigeria, Zentralasien) machen aber schon deutlich, dass es um den Islam, besser: den politischen Islam geht, dessen Fundamentalismus sowohl Quelle von Gewalt als auch Anlass von gewaltmäßigen Antiterrorstrategien bedrohter Regime oder äußerer Mächte sein kann. Wenn man schon an dem Titel dieses Teils des Buchs festhält, dann hätte man neben dem Islam(ismus) durchaus noch andere Religionen unter die Lupe nehmen können (etwa den Hinduismus in Indien). Noch besser wäre gewesen, die in die Irre führende Überschrift den differenzierten Analysen der Einzelbeiträge anzupassen, die in allen untersuchten Ländern weniger die Religion als vielmehr die sozialen und ökonomischen Spaltungen der jeweiligen Gesellschaften als Gewaltursache identifizieren. Die Religion ist da oft nur der ideologische Kitt, der politische Bestrebungen und Bewegungen legitimieren soll und zusammenhält.

In jeder Hinsicht informativ sind auch die Beiträge in Teil 3 mit dem modischen Titel „Krieg und Frieden 2.0“. Niklas Schörnig, der schon im letztjährigen Gutachten den Beitrag über Drohnen verfasst hatte, weitet das Thema zu einer Analyse der „neuen westlichen“ Kriegführung aus, deren Logik in der Vermeidung eigener Opfer und der mediengerechten Verpackung der Einsätze liegt. Als geeignete Instrumente solcher „asymmetrischen“ Kriege gelten neben den (Kampf-)Drohnen Spezialeinheiten, die für Sonderaufgaben im weltweiten Antiterrorkampf ausgebildet werden einschließlich privater Sicherheitsfirmen. Dieser Krieg ähnelt in vielfacher Hinsicht Polizeieinsätzen, unterscheidet sich von ihnen allerdings durch die häufig fehlende rechtliche Grundlage. Die ist auch beim sog. Cyberwar nicht gegeben. Viele Staaten – allen voran die USA, Israel, Japan und China – arbeiten heute an Programmen, mittels derer lebenswichtige Infrastruktureinrichtungen und gesellschaftliche Funktionen anderer Staaten ausgeschaltet werden können. Die Cyberattacke STUXNET auf iranische Atomforschungsanlagen ist ein erstes Beispiel dafür und zugleich ein Vorbote für künftige Szenarien „kinetische“ Kriegführung mit ungleich verheerenderer Wirkung. Auch wenn der Autor dieses Berichts, Götz Neuneck, die Gefahr eines „umfassenden Cyberkriegs“ eher für gering hält, so warnt er doch vor einem „digitalen Wettrüsten“, das nicht nur internationales politisches Vertrauen untergräbt, sondern auch die Freiheit der globalen zivilen Kommunikationsnetze gefährdet. Mit diesem Aspekt befasst sich – ausgehend von den Enthüllungen Edward Snowdens über die digitale Usurpation der Geheimdienste - der Beitrag von Thorsten Thiel. Sein Plädoyer für die Wiederherstellung der „Offenheit des Netzes in technischer, rechtlicher und politischer Hinsicht“ dürfte aber so lange Wunschdenken oder Illusion sein, so lange die Geheimdienste selbst nicht in Frage gestellt und die mit ihnen kollaborierenden Mega-Dienstleister wie Google nicht entmachtet werden.

Teil 4 ist den „aktuellen Brennpunkten“ des Weltgeschehens gewidmet. Darin werden so unterschiedliche Konflikte bzw. Konfliktregionen wie die Ukraine, Afghanistan, Pakistan und Syrien behandelt – letztere mit zwei Beiträgen: einem über die syrischen Chemiewaffen und deren Entsorgung und einem zweiten über das Überschwappen des syrischen Bürgerkriegs auf die benachbarten Staaten. Man mag über die eine oder andere politische Bewertung geteilter Meinung sein: So halte ich etwa die Charakterisierung der Vorgänge in der Ukraine als eine „Revolution“ für einen Euphemismus, die Rede von vielen „Entwicklungsmaßnahmen“ der letzten 13 Jahre in Afghanistan, die nach dem Abzug der Besatzungstruppen wohl wieder „rückgängig“ gemacht würden, für eine unzulässige Verniedlichung des Krieges. Insgesamt aber zeichnen sich die Beiträge durch einen hohen Informationsgehalt und durch zahlreiche Anregungen zu eigenständigem – auch alternativen – Weiterdenken aus. Umso ärgerlicher ist der Umstand zu bewerten, dass andere bedeutsame Konflikte – mögen sie „eingefroren“ oder virulent sein – im diesjährigen Gutachten ausgespart bleiben. Dies betrifft z.B. die Kriegsherde Mali und Zentralafrika. Völlig unverständlich ist das Schweigen über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Immerhin waren mit der Kerry-Initiative 2013 wieder Hoffnungen gehegt worden, die von der unverminderten Siedlungstätigkeit zerstört wurden. Die Friedenswissenschaft kann sich aber nicht davor drücken, auch schier ausweglose Situationen zu beschreiben und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Teil 1 befasst sich mit dem Hauptthema des diesjährigen Friedensgutachtens, der Europäischen Union, und stellt die Frage, ob das „Friedensprojekt“ Europa „am Ende“ sei. Ist es nach überwiegender Auffassung der Autorinnen und Autoren der insgesamt neun Beiträge natürlich nicht – auch wenn es genügend problematische Entwicklungen gibt, die in diese Richtung weisen. Dazu zählt insbesondere die zunehmende militärische Absicherung der EU-Außengrenzen vor unliebsamen Migrationsbewegungen. Ruth Vollmer und Mac von Boemcken setzen sich in ihrer Expertise für einen „radikalen Kurswechsel“ der Migrationspolitik der EU und der Mitgliedstaaten. Viel zu offen sind dagegen die EU-Grenzen hinsichtlich des Exports von Waffen und militärischem Gerät. Das war auch schon Thema im letztjährigen Gutachten, in dem eine restriktivere Rüstungsexportkontrolle gefordert wurde. Diskutiert werden dieses Mal die nationalen Unterschiede der Exportpolitiken der einzelnen Mitgliedstaaten und Möglichkeiten ihrer Vereinheitlichung. Ob indessen eine „Zentralisierung“ der europäischen Rüstungsexportkontrolle dem gewünschten Ziel ihrer Verschärfung dienlich wäre, wie die Autoren Marc von Boemcken und Jan Grebe hoffen, ist mehr als fraglich. Eine Angleichung unterschiedlichen Praxen ist erfahrungsgemäß eher auf einem niedrigen und nicht auf einem höheren Niveau herzustellen. Fragwürdig ist auch die neu angestoßene Diskussion über die Weiterentwicklung der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Einem unverblümten Plädoyer für die Schaffung einer europäischen Armee (Paul Vallet), die im Dienst der UNO „dem Frieden als Norm und Macht“ dienen sollte, stellt Hans-Georg Ehrhart eine Reihe ernstzunehmender Argumente gegenüber. Eine europäische Armee würde z.B. das Sicherheitsdilemma verstärken, das von einem neuen militärischen Block ausginge, und würde auch die internationale geachtete Vermittlerrolle der EU untergraben.

Unter den anderen Beiträgen dieses Teils sticht der von Wolfram Wette hervor, der sich dem produktiven Erinnern an den 1. Weltkrieg widmet und die Frage stellt, was 1914 und 2014 verbindet und was die beiden Daten trennt. Es bedurfte der leidvollen Erfahrung zweier Weltkriege, bis die deutsche, von Militarismus und Nationalismus geprägte Gesellschaft einschließlich ihrer Eliten einen grundlegenden Einstellungs- und Bewusstseinswandel vollzogen hat, der sich heute in einer kriegsabstinenten und eher militärkritischen Haltung eines großen Teils der Bevölkerung manifestiert – ganz im Gegensatz zu den Versuchen von Bundespräsident Gauck und anderen Politiker/innen, Deutschland wieder eine größere militärpolitische Rolle in der Welt zuzuschreiben.

Die politische Stellungnahme

Wie jedes Jahr ist dem „Friedensgutachten“ auch diesmal wieder eine gemeinsame „Stellungnahme“ vorangestellt, die von allen herausgebenden fünf Instituten verantwortet wird. Mit diesem friedenspolitische Credo soll Wirkung erzielt, die interessierte Öffentlichkeit erreicht und die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung beeinflusst werden. Es lohnt daher, diese Stellungnahme ebenfalls unter die Lupe zu nehmen.

Die „Stellungnahme“ befasst sich 100 Jahre nach 1914 mit dem zentralen Thema Europa. Es hätte ja alles so schön sein können: Während der Erste Weltkrieg ein Krieg der rivalisierenden europäischen Mächte, der Zweite Weltkrieg ein deutscher Eroberungs-, Raub und Vernichtungskrieg war, herrscht seit über 60 Jahren (weitgehend) Frieden. Anlass zur Freude und Genugtuung darüber, dass die Europäer ihre Lektion gelernt haben. Wären da nicht die irritierenden Vorgänge in der und um die Ukraine, die das „Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ (KSZE-Gipfel 1990) jäh beendeten und die Friedensforschungsinstitute zu der Frage veranlassten: „Ist das Friedensprojekt Europa am Ende?“

Exkurs: Abschied vom Friedensprojekt Europa?

Schon die Frage ist falsch gestellt. Sie abstrahiert vollkommen von den Entstehungshintergründen der Vorgängerorganisationen der EU. An der Wiege dessen, was sich heute Europäische Union nennt, stand die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch „Montanunion“ genannt). Die Gründerstaaten waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande und der Sinn des Vertrags war es, die Produktion und den Handel mit Kohle und Stahl von einer gemeinschaftlichen Behörde regeln zu lassen. Diese Konstruktion ging auf den französischen Wunsch zurück, sich einen politischen Einfluss auf die Wiederaufnahme der Schwerindustrie in Westdeutschland (der alten Bundesrepublik Deutschland) zu sichern. Mit dem Ergebnis waren schließlich alle Seiten zufrieden: Der französische Außenminister Robert Schumann sah in der Durchsetzung seines nach ihm benannten Plans einen Beitrag zum Frieden insofern, als die kriegswichtige Schwerindustrie „vergemeinschaftet“ wurde, der „Erbfeind“ Deutschland also den Zugriff Frankreichs und der anderen Vertragsstaaten auf seine Montanwirtschaft dulden musste. Umgekehrt hieß das aber auch – und das war das Kalkül Adenauers -, die Besatzung des Ruhrgebiets durch Großbritannien zu beenden. Beides schließlich wurde indessen nur möglich durch die ebenfalls von Adenauer betriebene und von den USA stark geförderte Westbindung der BRD, die schließlich schnurstracks in den NATO-Militärpakt (1955) und in die Remilitarisierung der beiden deutschen Staaten (die DDR folgte auf dem Fuß) sowie in die Gründung des Warschauer Vertrags (1956) führte.

Immerhin lässt sich aber sagen, dass die Entwicklung von der EGKS über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957) bis zur Europäischen Gemeinschaft (EG, 1993) eine vornehmlich wirtschaftspolitische Erfolgsgeschichte darstellte. Sie hatte ihren Umfang von ursprünglich sechs auf zwölf Staaten erweitert, der Konkurrenzorganisation EFTA (Europäische Freihandelszone) durch den Übertritt von Großbritannien, Dänemark (1973) und Portugal (1986) den Rang abgelaufen und schließlich in den 90er Jahren im Zuge der EU-Erweiterung um Finnland, Österreich und Schweden (1995) so gut wie überflüssig gemacht. Mit der nach dem Ende der Bipolarität einsetzenden Ost- und Südosterweiterung wuchs die EU bis heute auf 28 Staaten mit rund 500 Mio. Einwohnern; weitere Staaten (die Balkanländer Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien, Makedonien) stehen auf der Warteliste.

Mit dem Maastrichter Vertrag 1992 änderte die EG/EU ihren Charakter grundlegend. Einmal wurde die Wirtschafts- und Währungsunion gegründet - die den daran beteiligten Ländern nicht nur den Euro als Gemeinschaftswährung, sondern in der Folge auch zahlreiche Stabilitätskriterien bescherte -, zum anderen wurde die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) aus der Taufe gehoben. Und die hatte es in sich. Die EU übernahm die von der Westeuropäischen Union (WEU) 1992 auf dem Petersberg bei Bonn beschlossenen „Petersberg-Aufgaben“. Diese betreffen die Durchführung von „humanitären Aktionen oder Rettungseinsätzen, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens, Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung, einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen, gemeinsamen Abrüstungsmaßnahmen (die sich wohlgemerkt an Dritte richten), Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung sowie Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“. Alle diese Aufgaben sind 2009 Bestandteil des Lissabon-Vertrags geworden (Art. 42) und um eine Dimension noch ergänzt worden: die gemeinschaftliche (militärische) Bekämpfung des internationalen Terrorismus, und zwar ausdrücklich auch außerhalb des EU-Raumes.

Damit nicht genug verpasste sich die EU über die Jahre ein ansehnliches Instrumentarium militärischer Rüstungs- und Interventionsfähigkeit. Zu nennen sind hier im Wesentlichen vier Aspekte:
  • erstens eine Aufrüstungsverpflichtung, die sowohl in der Europäischen Sicherheitsstrategie (2003, hier ist die Rede davon, dass die „Mittel für Verteidigung aufgestockt“ werden müssten), als auch im Lissabon-Vertrag (hier wird die „Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ verlangt) festgeschrieben ist;
  • zweitens die Aufstellung von Krisenreaktionskräften, den sog. Battlegroups, das sind schnell verfügbare nationale, bi- oder multinationale Einheiten, bestehend aus einem Infanterieverband in Bataillonsstärke; die dafür notwendigen Handlungsanweisungen wurden 2004 im „Headline Goal 2010“ beschrieben, sind bis zu diesem Datum aber nur teilweise umgesetzt worden;
  • drittens die Schaffung der Europäischen Verteidigungsagentur mit Sitz in Paris; diese Behörde soll die Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten fördern, die nationalen Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsprogramme der EU-Staaten koordinieren sowie multilaterale Schlüsseltechnologien identifizieren;
  • viertens wurde in den Lissabon-Vertrag eine allgemeine Beistandsverpflichtung aufgenommen, die der EU endgültig den Charakter eines Militärpakts verleiht; die Beistandsklausel geht noch über die entsprechende NATO-Formulierung hinaus (Art. 5 NATO-Vertrag), wonach die Mitgliedstaaten im Fall eines äußeren bewaffneten Angriffs auf ein Mitglied zwar zur Solidarität verpflichtet seien, die Art der Hilfe aber selbstständig festlegen; der Lissabon-Vertrag schreibt in Art. 42 vor, dass bei einem bewaffneten Angriff auf einen Mitgliedstaat die anderen „alles in ihrer Macht stehende tun, um Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen“ zu leisten; diese kollektive Beistandspflicht wird lediglich für die neutralen Staaten (wie Österreich, Finnland, Irland) eingeschränkt, wenn es heißt, sie lasse den „besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ ausdrücklich unberührt (Art. 42,7).
All dies ist den Herausgeber/innen und Autor/innen des Friedensgutachtens 2014 nicht unbekannt. Dass solche Aspekte in der politischen Stellungnahme keine Erwähnung finden, deutet darauf hin, dass die etablierte Friedensforschung ihren endgültigen Frieden mit der sich militarisierenden EU geschlossen hat und das Wunschbild des „Friedensprojekts“ EU der rauen Wirklichkeit vorzieht.

Ukraine im Fokus

Die Interpretation der Vorgänge in der Ukraine unterscheidet sich nur graduell vom herrschenden westlichen Diskurs. Die friedensgefährdende Krise in Osteuropa hat einen Namen: Putin. Er verleibte sich – nach dem „Pseudoreferendum“ die Krim „völkerrechtswidrig“ ein, schürte Zwietracht in der Ukraine, „lenkt“ mit seiner aggressiven Politik „von innenpolitischen Problemen ab“ und regiert in Russland mit „Autoritarismus und Repression“. Und die von Putin angestrebte „Eurasische Union“ ist „als autoritäres Gegenprojekt zur EU gedacht“. Die Vorgänge auf dem „Euromaidan“ in Kiew bis zum Sturz Janukowitschs werden als „Revolution“ gefeiert, die Beteiligung rechter und faschistischer Gruppen wie beiläufig erwähnt, allerdings nicht mehr als Bestandteil der „Revolutionsregierung“. Natürlich wird auch Kritik geübt, allerdings längst nicht so entschieden wie es Altbundeskanzler Helmut Schmidt tat, der dem Westen die Hauptverantwortung für das Ukraine-Debakel anlastete. Dass die EU die Ukraine vor die Wahl zwischen Russland und dem EU-Assoziierungsabkommen stellte, wird von den Friedensforscher/innen lediglich als „unklug“ kritisiert. Auch die langjährige Praxis des Westens, sowohl die EU- als auch die NATO-Grenzen immer weiter nach Osten zu verschieben und damit Russland auf den Pelz zu rücken, wird nur als Perzeptionsproblem der Russen gesehen: Russland „empfand“ die Osterweiterung als „Ausgreifen des Westens an seine Grenzen“; der Kreml hat es „nie verwunden“, dass er im NATO-Russland-Rat „zwar mit am Tisch sitzt, aber nicht wie im UN-Sicherheitsrat mit entscheiden darf“. Und wenn schließlich einem Regimewechsel in Moskau das Wort geredet wird (der Westen wird nur davor gewarnt, ihn „von außen zu forcieren“), dann ist die Grenze friedenswissenschaftlicher Seriosität doch wohl eindeutig überschritten.

Die politischen Empfehlungen zur Lösung des Ukraine-Konflikts entsprechen nur zum Teil den Forderungen der Friedensbewegung: Runde Tische mit allen Konfliktparteien, Absage an einen NATO-Beitritt der Ukraine, Kritik (aber nur ganz leise) an „riskanten“ Sanktionen, Stopp der Waffenexporte (allerdings nur an Russland!). Zum Teil sind sie aber auch etwas daneben. Was soll z.B. die Einrichtung einer „Kontaktgruppe P5+3“, der neben den fünf ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern und der Ukraine noch Polen und Deutschland angehören sollen?!

Weitere Themen der „Stellungnahme“ sind europäische Streitkräfte (hier werden nur Argumente pro und kontra gegenübergestellt, zu einer Position kann sich das Gutachten nicht durchringen), die stärkere Berücksichtigung europäischer Polizeikräfte bei „Friedensmissionen“, eine „aktive und humane Migrationspolitik“, die Verhinderung „präventiver Totalüberwachung“ im Zuge der europäischen Antiterrorpolitik sowie die Beendigung der Drohnenangriffe von deutschem Boden aus.

Interessant an der Stellungnahme ist die große Vor- und Rücksicht, mit der die außenpolitischen Brandreden von Gauck, Steinmeier und von der Leyen bei der diesjährigen Sicherheitskonferenz gewürdigt werden. Sie hätten sich großes Verdienst erworben, den Anstoß für eine neue außen- und sicherheitspolitische Diskussion geliefert zu haben. Und alle drei hätten mitnichten „das Gespenst von Militäreinsätzen“ beschworen; ihr Anliegen sei vielmehr in Richtung „präventive Politik, Entwicklungszusammenarbeit“ und „Einbindung aufstrebender Schwellenländer“ gewesen. Militärische Gewalt sei von den drei Politikern nur als Ultima Ratio“ genannt worden. Die Tatsache, dass dies so prononciert geschah und dass Außenminister Steinmeier sich ausdrücklich von der bisherigen „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ distanzierte, wird aber dann doch als bedenklicher „Kurswechsel“ eingestuft. Als Gegenmittel empfiehlt die Stellungnahme den zehn Jahre alten Aktionsplan „Zivile Krisenprävention“. Sonst nichts.

Immerhin werden die Prinzipien dieses Aktionsplans an die Lösung aktueller Konflikte in Afghanistan, Ägypten und Syrien angelegt. Sie gipfeln in der Forderung, statt 10.000 Syrern Asyl zu gewähren, 200.000 syrische Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Das ist immerhin mutig in einer Stellungnahme, die sich ansonsten so sehr auf die Anschlussfähigkeit der etablierten Friedensforschung an die herrschende Außen- und Sicherheitspolitik bedacht zeigt. Unter dem Strich bleibt aber als Fazit übrig: Die gemeinsame Stellungnahme entspricht weder dem Niveau der wissenschaftlichen Beiträge des Friedensgutachtens noch den Erfordernissen einer friedensorientierten Außen- und Sicherheitspolitik.

Ines-Jacqueline Werkner, Janet Kursawe, Margret Johannsen, Bruno Schoch und Marc von Boemcken (Hrsg.): Friedensgutachten 2014 der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Institut für Interdisziplinäre Forschung, des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF), des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH), der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), des Bonn International Center for Conversion (BICC), LIT-Verlag: Berlin, Münster usw. 2014, 336 Seiten, 12,90 Euro; ISBN 978-3-643-12556-9

Peter Strutynski, Dr. phil., Kassel, Politikwissenschaftler und Friedensforscher; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag; www.ag-friedensforschung.de

Eine stark gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien in "junge Welt" vom 12. Juni 2014 (unter dem Titel "Etabliert im Mainstream"); der "Exkurs" erschien in der Wochenzeitung "unsere zeit" vom 13. Juni 2014. Der vorliegende Text soll in Heft 4/2014 der "Marxistischen Blätter" erscheinen.



Zurück zur Wissenschafts- und Hochschul-Seite

Zur Wissenschafts- und Hochschul-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur EU-Europa-Seite

Zur EU-Europa-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage