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Bundestag: Weg für den Lissabon-Vertrag frei gemacht: Jetzt hängt es an den Iren

SPD lobt sich dafür, zu viel Mitsprache von Bundestag und Bevölkerung verhindert zu haben

Von Ines Wallrodt *

In einem Schnellverfahren hat der Bundestag die Umsetzungsgesetze für den Lissabon-Vertrag beschlossen. Einziger Grund für die Eile: Der Vertrag soll wie geplant 2010 in Kraft treten. Auch die CSU stimmte zu.

Die Verabschiedung der neuen EU-Begleitgesetze am Dienstag (8. Sept.) im Bundestag könnte als schlechtes Omen verstanden werden: Wurde die Sondersitzung ursprünglich allein für die Schlussberatung darüber anberaumt, wie deutsche Parlamentarier künftig mitwirken sollen in der Europa-Politik, blieben dafür schließlich gerade 45 Minuten. Andere Themen galten auch gestern wieder als wichtiger. Egal, ob das im konkreten Fall zutreffen mag – symptomatisch ist es doch dafür, wie das Thema EU bisher im Bundestag behandelt wurde. Es war nicht zuletzt das fehlende Interesse der Parlamentarier, das vom Bundesverfassungsgericht im Juni gerügt wurde, als es das bisherige Begleitgesetz verwarf. In einem Schnellverfahren wurden die Neufassungen daraufhin erarbeitet.

Am Dienstagnachmittag stimmten nun die Abgeordneten von SPD, CDU/CSU, FDP und Grünen nach einem kurzen Schlagabtausch mit einer Zweitdrittelmehrheit für die vier Gesetze, die die Auflagen aus Karlsruhe erfüllen sollen.

Die angenommenen Gesetze

Verabschiedet wurden folgende Gesetze:
  • Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (BT-DS 16/13923), eingebracht von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; im Internet: 16/13923 (pdf-Datei)
  • Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon (BT-DS 16/13924), von CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; im Internet: 16/13924 (pdf-Datei)
  • Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (BT-DS 16/13925), von CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; im Internet: 16/13925 (pdf-Datei)
  • Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (BT-DS 16/13926), von CDU/CSU, SPD und FDP; im Internet: 16/13926 (pdf-Datei)
  • Abgelehnt wurde der Gesetzentwurf der LINKEN zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45 und 93) (BT-DS 16/13928), eingebracht von der Fraktion DIE LINKE; im Internet: 16/13928 (pdf-Datei)
(Alle Links sind externe Links)



Damit machte der Bundestag den Weg frei für die Ratifzierung des Lissabon-Vertrags. Der Bundesrat wird am 18. September voraussichtlich ebenfalls zustimmen. Die LINKE verweigerte sich als einzige Partei der Mega-Koalition.

Mit den verabschiedeten Gesetzen geben sich die deutschen Parlamentarier deutlich mehr Rechte. Die Bundesregierung muss sie umfassender darüber informieren, was auf EU-Ebene verhandelt wird. Zudem braucht sie bei Änderungen von Zuständigkeiten oder Abstimmungsregeln in der EU vorher die Zustimmung des Bundestags.

Abgesehen von der LINKEN lobten die Politiker über alle Parteien hinweg, was sie in zwei Monaten geschafft hätten. Künftig seien die Regierungsvertreter »nach innen rechenschaftspflichtig und nach außen voll handlungsfähig«, wie der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, betonte. Insbesondere die SPD hatte sich bei der Ausarbeitung damit hervorgetan, alle weitergehenden Anregungen des Bundesverfassungsgerichts entschieden abzuwehren. »Keine neuen Klagemöglichkeiten beim Verfassungsgericht, keine irritierenden Vorbehalte, keine imperativen Mandate«, brachte Oppermann den Erfolg seiner Fraktion auf eine Kurzformel. CSU und Linkfraktion wollten unter anderem diese Punkte durchsetzen. Auch Volksentscheide über Vertragsänderungen, die das Grundgesetz berühren, wird es nicht geben. Einen diesbezüglichen Antrag der LINKEN lehnten die restlichen Bundestagsfraktionen ab.

Dass den Abgeordneten erst nachgeholfen werden musste, daran mochten sich die meisten gestern nicht erinnern: Bundesrat und Bundestag verdanken ihre neuen Rechte unter anderem dem CSU-Parlamentarier Peter Gauweiler und der Linksfraktion, die diese Entscheidung durch ihre Verfassungsklage herbeigeführt haben. »Kein Wort der Selbstkritik«, monierte Gauweiler gestern. Die Kritik von Seiten der SPD an einer neuen »Allianz von CSU und Linkspartei« konterte er vor diesem Hintergrund ganz lässig mit: »Es ist besser, mit den Außenseitern das Grundgesetz zu verteidigen, als es mit den Volksparteien zu brechen.«

Zuletzt hatten die Christsozialen auch auf die Entschließung verzichtet, die die Bundesregierung auffordern sollte, den EU-Partnern mitzuteilen, dass der Vertrag nur in der Interpretation des Verfassungsgerichts gilt. Gauweiler zufolge habe Angela Merkel zugesagt, dies zu tun. Auch Gauweiler befand am Dienstag, man habe »viel erreicht«. Klagen wird er nicht noch einmal. Ob das die Linksfraktion tut, hatte sie im Vorfeld offen gelassen.

Die Koalitionsfraktionen erhoffen sich nun »positive Impulse« für den Volksentscheid in Irland am 2. Oktober. Die Iren müssen – zum zweiten Mal – über den Reformvertrag abstimmen. Tritt er Anfang 2010 in Kraft, kommt es darauf an, wie sehr die deutschen Parlamentarier ihre neuen Rechte auch nutzen.


Integrationsverantwortungsgesetz

Das »Integrationsverantwortungsgesetz«, Artikel 1 des »Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union«, knüpft an Regelungen des Vertrags von Lissabon an. Durch diese können die vertraglichen Grundlagen der EU geändert werden, die EU kann mehr Kompetenzen erhalten; zudem kann durch Einführung von Mehrheitsentscheidungen die Möglichkeit geschaffen werden, die einzelnen Mitgliedsstaaten zu überstimmen. Entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfen derartige Änderungen nur mit Zustimmung des Bundestags und, wenn die Bundesländer betroffen sind, des Bundesrats in Kraft gesetzt werden. Die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter in den zuständigen EU-Gremien dürfen den Entscheidungen nicht ohne Billigung durch vorheriges Gesetz zustimmen oder sie mittels Enthaltung passieren lassen. Ein nachträgliches Gesetz reicht dann aus, wenn nach dem Vertrag selbst die Entscheidung erst mit dem Zustimmungsgesetz wirksam wird.

Auch in Fällen, in denen nach EU-Recht ohne ausdrückliche Befugnis ein Tätigwerden »erforderlich« erscheint und deshalb erlaubt wird (Flexibilitätsklausel), wird eine Mitwirkung daran von einer vorherigen Billigung durch Gesetz abhängig gemacht. Auch können künftig Bundestag und Bundesrat Regierungsvertreter im Rat anweisen, die »Notbremse« bei Gesetzesverfahren zu ziehen, die grundlegende Aspekte der deutschen Strafrechtsordnung oder des sozialen Sicherheitssystems berühren würden. Mit diesem Notbremse-Mechanismus kann ein Mitgliedsstaat verhindern, dass bei besonders heiklen Themen, etwa Justiz, wegen des Mehrheitsprinzips gegen seinen Willen ein Gesetz beschlossen wird, das auch ihn bindet.

Die Bundesregierung muss den Bundestag künftig auch über die Themen der Welthandelsrunden und die vom Rat festgelegten Verhandlungsrichtlinien informieren. Geheimverhandlungen wie etwa beim Dienstleistungsabkommen GATS dürfte es in dieser Form nicht mehr geben. ND


Klagegesetz

Das zweite Begleitgesetz regelt die Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon. Aus rechtstechnischen Gründen muss es getrennt vom ersten Begleitgesetz verabschiedet werden, weil es erst verkündet werden kann, wenn der Lissabon-Vertrag in Kraft getreten ist.

Bei diesem Gesetz geht es darum, wie eine Subsidiaritätsklage beim EU-Gerichtshof erhoben werden kann. In solchen Fällen hätte das Gericht die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu prüfen, also, ob Entscheidungen tatsächlich auf der untersten möglichen Ebene getroffen wurden. Nach dem Begleitgesetz ist der Bundestag zur Klage verpflichtet, wenn dies ein Viertel seiner Mitglieder beantragt. Dies könnten sie zum Beispiel tun, wenn die EU auf die Idee käme, den Bau einer achtspurigen Autobahn zwischen Halle und Leipzig vorzuschreiben.

Aus dem Quorum folgt, dass kleine Fraktionen ein solches Klagerecht nicht bekommen. ND


Zusammenarbeitsgesetze

Zwei weitere Gesetze regeln die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag sowie von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union.

Im geänderten Zusammenarbeitsgesetz von Bundestag und Bundesregierung werden die Informationsrechte des Bundestags ausgebaut. Ausgenommen sind dabei jedoch die Bereiche der Außen-, Sicherheits- und Vereidigungspolitik. Für diese werden nur geringe Informationsrechte eingeräumt.

In diesem Gesetz wird auch geregelt, dass Stellungnahmen des Bundestages im Rahmen der EU-Rechtsetzung zu berücksichtigen sind. Die Bundesregierung muss diese bei Verhandlungen auf europäischer Ebene »zugrunde legen«. Vor einer Entscheidung muss sie sich bemühen, »ein Einvernehmen herzustellen«.

Die Länder und der Bundestag können also künftig bei allen Europa-Vorhaben, die ihre Belange berühren, Vorgaben für die Bundesregierung beschließen – sei es beim Arbeitsrecht, bei der Umweltpolitik, beim EU-Haushalt oder bei der kommunalen Daseinsvorsorge.

Allerdings findet sich hier auch der entscheidende Hinweis, dass die Stellungnahmen den Regierungsvertreter in Brüssel nicht fest binden. Denn die Bundesregierung darf sich aus von ihr behaupteten wichtigen »außen- und integrationspolitischen Gründen« darüber hinwegsetzen. Sie muss das hernach nur begründen, unter Umständen im Rahmen einer Plenardebatte.

Geändert wurde auch der Umgang mit völkerrechtlichen Verträgen der Europäischen Gemeinschaft. Bisher bekam diese der Bundestag erst zugeleitet, wenn es um ihren Abschluss ging. Nun bekommt der Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme, bevor der endgültige Vertragstext ausgehandelt ist.

Außerdem muss der Bundestag bei zwei weiteren Fällen seine Zustimmung geben: bei der Aufnahme von Verhandlungen mit möglichen Beitrittsländern und bei der Aufnahme von Verhandlungen zur Veränderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union. ND

* Aus: Neues Deutschland, 9. September 2009


Brüssel ist erleichtert

Von Carsten Hübner **

Die Erleichterung war in Brüssel mit Händen zu greifen, als das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni seine Entscheidung verkündete. Nicht der EU-Vertrag von Lissabon, so die Karlsruher Richter, sondern lediglich das deutsche Begleitgesetz widerspreche in wesentlichen Punkten dem Grundgesetz, weil es dem Bundestag und dem Bundesrat keine ausreichenden Beteiligungsrechte an »europäischen Rechtsetzungs- und Vertragsänderungsverfahren« einräume. Ein Malus, der mit Blick auf die politischen Mehrheitsverhältnisse in Deutschland schnell zu korrigieren schien.

Vielseitige Zuversicht

»Ich bin zuversichtlich, dass das Gericht mit diesem Urteil den Weg für den raschen Abschluss der deutschen Ratifizierung des Vertrags von Lissabon geebnet hat«, verkündete EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Die zusätzlichen Rechte für das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente seien ein Fortschritt. Er setze darauf, dass das Verfahren in allen Ländern bis Herbst abgeschlossen werden könne. Gleichzeitig mahnte er, der Vertrag sei »unabdingbar für die Handlungsfähigkeit der EU in der jetzigen Zeit«. Auch der amtierende EU-Ratspräsident und schwedische Außenminister Carl Bildt zeigte sich nach dem Urteil zuversichtlich, dass die Europäische Union am bisherigen Zeitplan festhalten könne. Das Szenario für die kommenden Monate werde sich nicht ändern, sagte er in Stockholm. Ziel sei, dass das Regelwerk bis Ende 2009 in Kraft tritt.

Auf die Diskussion in der CDU/CSU, das Begleitgesetz durch einen Entschließungsantrag zu flankieren, wonach eine Zustimmung Deutschlands zum Lissabon-Vertrag nur im Rahmen der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts gelten solle, reagierte der Vizepräsident der EU-Kommission, Günter Verheugen (SPD), gereizt. »Jetzt noch draufzusatteln wäre gefährlich. Der Abschluss der Ratifikation darf nicht gefährdet werden«, unterstrich er. Deutschland dürfe nicht verantwortlich sein für eine Verzögerung des Reformvertrags »und damit für eine institutionelle Krise in der Europäischen Union«. Mit dem nun vorliegenden Entwurf sei er »durchaus zufrieden«, so Verheugen. »Das Begleitgesetz birgt keine Probleme für die notwendige Weiterentwicklung der Europäischen Union. Vielmehr kann und muss es dazu führen, dass die europapolitische Diskussion in Deutschland kompetenter und effektiver wird.«

Furcht vor Schwerfälligkeit

Ebenso interpretierte Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker die deutschen Gesetze: Die Bundestagsfraktionen hätten es damit verstanden, der deutschen Bundesregierung in Brüssel keine Fesseln anzulegen, lobte er. Demgegenüber befürchtet das Lobby-Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland (EBD), in dem 171 Organisationen aus Politik und Gesellschaft zusammengeschlossen sind, dass die deutsche Europapolitik künftig in den Entscheidungsabläufen schwerfälliger wird. Allerdings geht auch die EBD davon aus, dass der Vertrag von Lissabon noch in diesem Jahr ratifiziert wird und damit Anfang 2010 in Kraft treten kann.

** Aus: Neues Deutschland, 9. September 2009


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