"Dorn im Auge der russischen Armeeführung" und "geschätzte Ratgeberin"
Laudatio auf die Trägerinnen des Aachener Friedenspreises 2004: die "St. Petersburger Soldatenmütter" und die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin
Der Aachener Friedenspreis 2004 wurde am 1.September an zwei Preisträgerinnen
verliehen: an die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin und an die
Petersburger Soldatenmütter. Die Laudatio anlässlich der Preisverleihung hielt Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international. Wir dokumentieren ihre Rede im vollen Wortlaut.
Von Barbara Lochbihler, ai
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau Elena Philonova,
Frau Ella Polyakova, Frau Eren Keskin, Herr Steinbicker, liebe Damen und
Herren,
es ist mir eine Ehre und eine große Freude heute ihrer Einladung nachzukommen
und die Laudatio auf die Preisträgerinnen des diesjährigen Aachener
Friedenspreises zu halten. Als Vertreterin einer Menschenrechtsorganisation
bin ich mir bewusst darüber, dass, wie es der UN Generalsekretär Kofi
Annan sehr trefflich gesagt hat, die Menschenrechtsverletzungen von heute
die gewalttätigen Konflikte und Kriege von morgen sind.
Menschenrechtsarbeit ist auf das engste verbunden mit den Zielen des Vereins
Aachener Friedenspreis, der den Frieden fördern, bestehende Feindbilder
abbauen, sowie gegenseitiges Vertrauen aufbauen will und sich gegen
jede Form von Militarismus, Rassismus, Nationalismus, Faschismus, Ausländerfeindlichkeit sowie gegen Ausgrenzung von Minderheiten wendet.
Viele von ihnen, meine Damen und Herren, haben heute an der Anti-
Kriegsdemonstration teilgenommen. Sie sind auf die Straße gegangen, um
ihren Protest auszudrücken, gegen den Krieg und aktuell gegen die verfehlte
Kriegspolitik der USA und ihrer Verbündeten, deren entsetzlichen Folgen wir
fast täglich in den Medien sehen können. Ein Besatzungskrieg, wie er im Irak
geführt wird, zeigt uns mit aller Deutlichkeit die Brutalität und Zerstörungswut
eines Krieges, die zu immer weiterem Hass und Grausamkeiten führt.
Menschen in der ganzen Welt, auch in Russland und in der Türkei, sind gegen
diesen Krieg auf die Strasse gegangen und fordern von ihren Regierungen
die Rückkehr zur Einhaltung und Stärkung des internationalen Rechts
und eine ganz entschiedene Abkehr vom Recht des Stärkeren. (400.000 Demonstranten in den USA sind ein positives Zeichen.)
Für uns Deutsche ist der 1. September Anlass zur Erinnerung an den Überfall
auf Polen durch die deutsche Armee, an den Beginn des zweiten Weltkrieges.
Wir erinnern uns an die unvorstellbaren Grausamkeiten die dieser Krieg
über die Menschen in Europa und in der ganzen Welt gebracht hat. Wir erinnern
uns und fragen, warum so viele in unserer Eltern- und Großelterngeneration
nicht aufgestanden und den Verbrechern der nationalsozialistischen
Diktatur in den Arm gefallen sind. Und wir erinnern uns an die wenigen, die
außerordentlichen Mut und menschliche Größe bewiesen und aktiven Widerstand
geleistet haben.
Eine von ihnen, die junge Münchner Studentin Sophie Scholl, Mitglied der
Widerstandsgruppe Weiße Rose, möchte ich heute besonders hervorheben,
weil sie ganz entschieden den autoritären Militarismus kritisiert hat. Als am
01.09.1939 der zweite Weltkrieg begann, hat sie die jungen Männer in ihrer
Umgebung, darunter auch deutsche Offiziere, gedrängt, das kriminelle Regime
in keiner Weise mehr zu unterstützen. Im Winter 1941/42 wurde die
deutsche Bevölkerung aufgefordert, warme Mäntel, Decken, Socken, etc. an
die deutschen Truppen zu schicken, die vor Leningrad und Moskau am Erfrieren
waren. Sophie Scholl weigerte sich. Sie leugnete nicht, dass es für einen
Deutschen gerade so schlimm war wie für einen Russen zu erfrieren, aber sie
beharrte darauf, das einzige was zähle sei, dass Deutschland den Krieg so
schnell wie möglich verliere – Wollsocken für die deutschen Truppen konnten
ihn nur verlängern. Bis zu ihrer Hinrichtung 1943 forderte sie in Briefwechseln
und in Flugblättern, dass es einen starken und unnachgiebigen Geist braucht
und sanfte Herzen erfordert, um dem autoritären Militarismus zu widerstehen.
Ein unnachgiebiger Geist und ein sanftes Herz ist auch den beiden Preisträgerinnen zueigen. Bei all den Unterschiedlichkeiten in ihrer Persönlichkeit, in
ihrer Arbeit, in den unterschiedlichen Entwicklungen ihrer Länder, gibt es
doch viel Verbindendes zwischen ihnen.
Ihre Arbeit setzt an bei konkreten Menschenrechtsverletzungen. Ein konkreter
Missstand ist Auslöser für mutiges Engagement, das sich ausweitet auf
die Frage nach den Ursachen für dieses Unrecht und damit wenden sie sich
einer breiteren gesellschaftlichen Realität zu. Sie beweisen außerordentlichen Mut in der Auseinandersetzung mit Militarismus und dessen Auswüchsen. Als Frauen diskutieren und kritisieren sie Zustände in von patriarchalem Denken
durchdrungenen Politikbereichen, wie Sicherheitspolitik und nationale
Einheit. Sie machen anderen Mut, sind ein Vorbild für Männer und Frauen in ihren
eigenen Ländern und weit über deren Grenzen hinaus. Und nicht zuletzt beteiligen sie sich aktiv an der Suche und Gestaltung von friedlichen, politischen Lösungen für die gewalttätigen Konflikte in ihren jeweiligen Ländern, sei es in der Türkei, sei es in Russland.
St. Petersburger Soldatenmütter
Zunächst zu den Preisträgerinnen aus Russland, den Soldatenmüttern aus
St. Petersburg, die sich 1991 gründeten. Sie kämpfen für all jene, die Opfer des russischen Militärsystems geworden sind oder noch zu werden drohen.
Die Zustände in der russischen Armee sind katastrophal. Ein Problem ist das
als "Dedowschtschina" bekannte Rangordnungssystem unter den Soldaten,
nach dem die älteren Rekruten alle Rechte haben und jüngere Soldaten oft
unterdrücken, sadistisch quälen oder sogar ermorden. So werden neu angekommene
Rekruten von dienstälteren Soldaten systematisch misshandelt
und erniedrigt. Sie haben die schlechtesten Arbeiten auszuführen, wobei auf
Versäumnisse drakonische Strafen wie Nahrungsmittel- oder Schlafentzug
bis hin zu Schlägen mit Ketten oder Vergewaltigung stehen.
Die hygienischen Verhältnisse in den Unterkünften sind miserabel; Kranke
werden vor vollendeter Genesung wieder ins Feld geschickt. Ein Autor bezeichnete
die Rekruten als Sklaven und ihre vorgesetzten Unteroffiziere als
Leibeigene, die kaum eine andere Wahl hätten, als ihre Untergebenen zu
schlagen, da es keine funktionierenden Sanktionsmechanismen gibt, und sie
Angst haben gravierende Verstöße an ihre Vorgesetzten zu melden. Nicht
selten versuchen Soldaten zu fliehen oder begehen Selbstmord. Da die Armee
über eine eigene Justiz verfügt, werden weder die Täter noch die für
diese Situation verantwortlichen Vorgesetzten je bestraft.
Weil sie das Leben in der Armee nicht mehr ertragen desertieren viele Männer.
Eine Gesetzesneuerung gab es auf Druck der Soldatenmütter Russlands
im Jahre 1998, in Härtefällen können Fahnenflüchtige nun straffrei ausgehen.
Ein ganz beachtlicher Erfolg für die Organisation.
Nach Schätzungen sind rund 40.000 Deserteure „auf der Flucht“. Die Soldatenmütter
setzen sich für diese Deserteure ein und erzeugen dadurch den
Unmut der Armee und des Verteidigungsministeriums. Ihre Arbeit macht es
jeden Tag ein bisschen schwerer Menschenrechtsverletzungen und menschenunwürdige
Zustände in der Armee zu vertuschen.
Erst diesen August wurde ein Ausbilder der russischen Armee verurteilt, weil
über hundert Wehrpflichtige auf dem Transport zu ihrer Kaserne an Lungenentzündung
erkrankt waren, ein junger Mann starb. Die Männer hatten bei
Temperaturen von –25°C mehrere Stunden ohne Winterkleidung im Freien
warten und in einer unbeheizten Baracke übernachten müssen. Gegen die
Militärärzte, die sich zunächst geweigert hatten die Männer stationär zu behandeln
wurden bislang nichts unternommen. Es ist jedoch eine absolute
Ausnahme, dass solche Vorfälle überhaupt an die Öffentlichkeit, geschweige
denn vor ein Gericht gelangen.
Die Soldatenmütter sind der Armeeführung auch deshalb ein Dorn im Auge,
weil die ohnehin schon schwierige Rekrutierung von genügend jungen Männern
(viele ignorieren des Einberufungsbefehl, kaufen sich Atteste etc.) durch
die Unterstützung der Deserteure scheinbar noch schwieriger wird.
Eine der Hauptforderungen der Soldatenmütter ist die Abschaffung der
Wehrpflicht. Ella Poljakowa, Mitglied der Soldatenmütter St. Petersburg
schreibt zum russischen Wehrdienst folgendes: "Solange es dieses System
noch gibt, in dem ein bestimmter Teil der Gesellschaft ausgegrenzt bleibt
und keine Bürgerrechte genießt, solange gibt es einen Schlüssel zum Totalitarismus,
so lange kann es bei uns keine Reformen geben. So lange wird uns
die Armee immer wieder zurückreißen, auch wenn der fortschrittliche Teil der
Gesellschaft nach vorne drängt."
Die Soldatenmütter aus Petersburg haben sich nicht nur für die eigenen Söhne
eingesetzt, sondern das Schicksal von sehr vielen jungen Russen an das
Licht der Öffentlichkeit gebracht. Das ist auch einer der Gründe, warum man
die Soldatenmütter als die Nichtstaatliche Organisation bezeichnen kann, die
im unmittelbarsten Kontakt zur Bevölkerung steht und die dort deswegen am
angesehensten ist.
Diese Arbeit erfordert Mut, denn gerade in jüngster Zeit waren Menschenrechtsorganisationen immer häufiger Angriffen der Staatsmacht ausgesetzt. So wurde seitens des Verteidigungsministeriums der Öffentlichkeit suggeriert, die Komitees der Soldatenmütter finanzierten sich aus dubiosen Quellen. Die Zeiten für unabhängige und kritische nicht-staatliche Organisationen in Russland sind nicht leichter geworden. Im Gegenteil, gerade die Organisationen, die sich dafür einsetzen, dass die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen staatlichen Funktionsträger zur Rechenschaft gezogen werden und die Opfer Zugang zur Justiz erhalten, können in Russland nicht mehr unbehelligt ihrer Tätigkeit nachgehen. Hier ist die internationale Solidarität von Organisationen und Menschen im Ausland gefordert und unsere Regierungen sind aufgefordert gegen diesen Missstand öffentlich bei ihren russischen Regierungskollegen zu protestieren.
Die Soldatenmütter von St. Petersburg haben es sich zur Aufgabe gemacht
nicht nur Menschen in Not Hilfestellung zu leisten, sondern ihnen das Werkzeug
in die Hand zu geben sich und anderen selbst zu helfen. Sie bieten Hilfe
zur Selbsthilfe, Menschenrechtsbildung im eigentlichen Sinne. In ihren
Sprechstunden werden betroffene Männer und ihre Familien über ihre Rechte
aufgeklärt. Eine Aufgabe die auch gegen das weitverbreitete Denk-Schema
angeht, dass sich Russen und Russinnen in erster Linie als passive Empfänger
von Rechten ansehen, nicht als deren aktive InhaberInnen.
Der Krieg und die Vorbereitung auf den Krieg verändert nicht nur die Soldaten.
Die Soldatenmütter haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Menschen
die durch die sog. Schule der russischen Armee gegangen sind eigentlich
therapeutische Hilfe brauchen. Stattdessen werden sie in ein ziviles Leben
entlassen, in dem sie sich nicht zurechtfinden können. Ihnen wurde die
Fähigkeit sich sozial zu verhalten systematisch ausgetrieben und nun sollen
sie als Ehemänner und Väter leben. In diesem Zusammenhang muss man
sich nicht über die horrenden Zahlen wundern, die russische Frauenorganisationen
in Bezug auf häusliche Gewalt in Russland nennen. So starben allein
im Jahr 2002 rund 14.000 Frauen, die Täter waren ihre Ehemänner oder andere
Verwandte.
Bereits früh protestierte die Organisation öffentlich gegen das Engagement
der russischen Armee in Tschetschenien. Benennt mutig und deutlich diese
schreiende Wunde in der russischen Gesellschaft und fordert eine politische
und friedliche Lösung des Konflikts. Mir persönlich ist ganz nachträglich der
Vortrag von Ella Polyakova im Gedächtnis, als ich mit dem Frauenfriedenszug
der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit im August 1995
von Helsinki zur Weltfrauenkonferenz nach Peking reiste und wir in St. Petersburg von ihre Bewertung des Tschetschenienkonflikts erfuhren. Ganz unvergessen ist der Friedensmarsch von Moskau nach Grosny im März 1995
den sie organisierten und die konkrete Zusammenarbeit mit den Frauen aus
Tschetschenien. Ihre Unerschrockenheit und Furchtlosigkeit vor den diffamierenden Angriffen der russischen Öffentlichkeit ist mir bleibend im Gedächtnis.
Und nicht nur mich hat die energische und entschlossene Haltung der Soldatenmütter aus St. Petersburg vieles gelehrt und ermutigt, wo auch immer gegen den Krieg und die Gräuel des Krieges aufzustehen. Die amnesty Koordinationsgruppe zu Russland hat mich ausdrücklich gebeten die besten Glückwünsche zur Preisverleihung zu überbringen und ganz herzlich zu danken,
denn die vielen Gespräche mit den Soldatenmütter St. Petersburg haben dazu
beigetragen, dass sich die deutsche Sektion von amnesty international seit
einer langen Zeit intensiv mit der Menschenrechtsarbeit zu Russland
beschäftigt. Wir erinnern uns gern an ihren Besuch auf der Jahresversammlung
1997 in Berlin. Sie sind ein Vorbild und Inspiration für vielen Menschen in Russland und in der ganzen Welt geworden, die sich gegen die Allmacht von Militarismus und dominanter Kriegslogik einsetzen.
Eren Keskin
Die andere Preisträgerin Eren Keskin, ist ebenso eine sehr geschätzte Ratgeberin
für amnesty international. Sie ist Menschenrechtspreisträgerin der
deutschen Sektion und war mehrfach Gast bei ai Versammlungen, nicht nur
in Deutschland.
Eren Keskin arbeitet seit 1984 als Rechtsanwältin in der Türkei. Sie übernimmt
die Verteidigung insbesondere in politischen Prozessen. Seit der
Gründung im Jahre 1986 ist sie aktives Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD. 1996 wurde Eren Keskin zur stellvertretenden Gesamtvorsitzenden des IHD gewählt. Lange Jahre war sie Vorsitzende der größten und aktivsten Zweigstelle des IHD in Istanbul.
1997 gründete Frau Keskin zusammen mit anderen Rechtsanwältinnen das
Projekt „Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften
vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden“. Das Projekt
leistet betroffenen Frauen kostenlosen Rechtsbeistand und unterstützt sie in
ihren Klageverfahren gegen die Täter. Bei ihrem Projekt haben fast 200
Frauen (Stand Juni 04) einen Antrag auf Unterstützung gestellt, die Opfer von
sexueller Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte geworden sind.
Immer wieder ist sie aus diesem Grund von staatlichen Stellen, den Medien
und Berufskollegen diffamiert worden.
Gerade wenn Frauen Menschenrechtsverletzungen an Frauen anprangern
und die Täter nennen, dann müssen sie mit doppeltem Widerstand rechnen.
Sie sollen nicht kritisch in der Öffentlichkeit sprechen und schon gar nicht über
die oft noch tabuisierte sexuelle Gewalt. Damit wird ein viel weiteres
Thema in die Diskussion gebracht, über das nicht geredet werden soll, nämlich
der vorhandene Sexismus in einer Gesellschaft. Marie Luise Jansen Jurreit
hat dies einmal sehr gut beschrieben: „Sexismus war immer Ausbeutung,
Verstümmelung, Vernichtung, Beherrschung, Verfolgung von Frauen. Sexismus
ist gleichzeitig subtil und tödlich und bedeutet die Verneinung des weiblichen
Körpers, die Gewalt gegenüber dem Ich der Frau, die Achtlosigkeit gegenüber
ihrer Existenz, die Enteignung ihres Körpers, den Entzug der eigenen
Sprache bis zur Kontrolle ihres Gewissens, die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit,
die Unterschlagung ihres Beitrags zur Geschichte der
menschlichen Gattung.“ All das berührt Eren Keskin auch, wenn sie über die
sexuelle Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte spricht und damit es vielen
Frauen erleichtert, über ihre Gewalterfahrungen nachzudenken und zu sprechen,
in einer Gesellschaft in der die „Ehre“ einer Familie noch oft über die
Verfügungsgewalt des weiblichen Körpers bestimmt wird.
Nach einem Auftritt in Köln im Jahr 2002, bei dem Eren Keskin über das
Problem der sexuellen Misshandlung von Frauen durch Sicherheitskräfte in
ihrer Heimat gesprochen hatte, wurde sie das Opfer einer Hetzkampagne in
den türkischen Medien.
Ende 2002 hat ihr die nationale Anwaltskammer die Zulassung für ein Jahr
entzogen – der erste Fall, in dem in der Türkei gegen eine Rechtsanwältin ein
Berufsverbot aus politischen Gründen verhängt wurde. Die Begründung der
Anwaltskammer war, dass Eren Keskin dem „Ansehen ihres Berufsstandes
geschadet“ habe. Ich meine, genau das Gegenteil ist der Fall. Ihr Einsatz für
Menschenrechte, ist eine ausgesprochene Zierde und hervorraagender Beitrag
für das Ansehen dieses Berufsstandes.
Auch ihr Land, die Türkei, ist geprägt von einem Jahrezehnte dauernden gewalttätigen
Konflikt um die Rechte der Kurden. Frau Keskin hat sich immer für
eine friedliche Lösung des Kurden-Konfliktes und für die Rechte der Kurden
eingesetzt.
Seitdem sie den Führer der bewaffneten Oppositionsgruppe „Arbeiterpartei
Kurdistans“ (PKK), Abdullah Öcalan, 1999 vor Gericht vertreten hat, haben
die Drohungen gegen sie noch zugenommen. In unzähligen Gerichtsverfahren
wurde ihr nicht zuletzt wegen ihres humanitären Engagements der Prozess
gemacht. 1995 musste sie eine sechsmonatige Freiheitsstrafe antreten,
weil sie in einem Brief an das belgische Parlament das Wort „Kurdistan“ benutzt
hatte. amnesty international hat sie als gewaltlose politische Gefangene
betrachtet, da sie allein aufgrund der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung verurteilt worden war.
Aber Eren Keskin wird wegen ihres mutigen menschenrechtlichen Engagements
nicht nur mit Gerichtsverfahren überzogen, sondern seit Jahren wird
auch ihr Leben bedroht. Immer wieder erhält sie Morddrohungen. Im Oktober
1994 schossen Polizisten auf sie, als sie mit einer Menschenrechtsdelegation
in Diyarbakir war. Zweimal führte amnesty international für sie und andere
Menschenrechtler eine Eilbriefaktion wegen Morddrohungen durch, zuletzt
am 10. April diesen Jahres. Nachdem sie an einer Delegation teilgenommen
hatte, die nach dem „Verschwinden“ von zwei Politikern der HADEP Recherchen
in der Provinz Sirnak durchführte, nahmen die Drohungen gegen sie zu.
Sie kritisierte die Macht, die das Militär auf die türkischen Politik ausübt, ja
diese bestimmt. Auch solche Kritik brachte ihr Prozesse wegen Verleumdung
und Beleidigung der Streitkräfte ein.
Sie hat über sich einmal sehr bezeichnend gesagt: „Meine Arbeit ist meine
Lebenseinstellung, meine Lebensweise, meine Aufgabe. Dies ist mein Weg -
für mich der einzig mögliche. Daher lasse ich mich trotz aller Bedrohungen
und Widrigkeiten auch nicht von diesem Weg abbringen.“ Nicht aufzugeben
trotz immer wieder auftauchender Behinderungen und Bedrohungen des eigenen
Lebens, das ist es, was Eren Keskin zu einer solch herausragenden
Persönlichkeit macht.
In diesem Herbst, genauer Anfang Oktober, wird die EU-Kommission ihren
Bericht zu den Perspektiven einer Aufnahme der Türkei in die EU veröffentlichen.
Der Bericht soll die Empfehlung enthalten, ob die EU mit der Türkei
konkrete Beitrittsverhandlungen aufnehmen soll oder nicht.
Die Beitrittsbestrebungen der Türkei und die von der EU aufgestellten Kriterien
haben vor allem in den letzten zwei Jahren zu wesentlichen Schritten in
Richtung auf eine bessere Wahrung der Menschenrechte in der Türkei geführt. So wurde die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft und die Spielräume
für politische Meinungsäußerungen erweitert.
Dennoch reichen die vorgenommenen Änderungen noch nicht aus, um die
Meinungsfreiheit und die freie Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte in vollem
Umfang zu garantieren. Oppositionelle Politiker, Journalisten und Menschenrechtler
werden noch immer häufig drangsaliert, vor Gericht gestellt und
zu Freiheits- und Geldstrafen verurteil. Kulturelle Rechte für die Kurden wurden
bisher nur in minimalem Umfang gewährt; die schon in der gesetzlichen
Regelung sehr begrenzten Möglichkeiten für kurdische Radio- und Fernsehsendungen
wurden in der Praxis noch nicht umgesetzt. Kurden werden noch
immer verfolgt, wenn sie – auf friedlichem Wege – politische Rechte für ihre
Volksgruppe einfordern.
Die Türkei ist unabhängig von der Frage eines EU-Beitritts zur Einhaltung der
Menschenrechte verpflichtet. Die Beitrittsvorbereitungen sind jedoch ein wesentlicher
Motor für Verbesserungen und amnesty international hofft daher,
dass von Seiten der EU einerseits die Erfüllung der Menschenrechtskriterien
konsequent eingefordert werden, andererseits aber auch der Anreiz der Beitrittsperspektive
aufrecht gehalten wird.
Wie auch immer die Entscheidung der EU ausfällt, eines bleibt wichtig: die
Menschenrechtssituation muss auch nach diesem Datum aufmerksam beobachtet
werden und der Druck auf die Regierung gesetzliche Verbesserungen
umzusetzen, darf nicht nachlassen.
Wir, Friedensaktivisten und Menschenrechtsverteidiger, sollten uns nicht in
die Irre führen lassen, wenn sich Regierungen gegenseitig bestätigen, dass
eine ordnende Hand notwendig ist, und Regierungen alles tun müssen um
Sicherheit und Ordnung, insbesondere bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus, zu gewährleisten. Zu durchsichtig sind die eigentlichen Motive
derer, die nicht hinsehen was ist und über eine wirkliche nachhaltige Lösung
nachdenken wollen.
Es ist nicht akzeptabel, dass der deutsche Bundeskanzler Schröder Anfang
Juli diesen Jahres dem russischen Präsidenten Putin gegenüber öffentlich
sein Vertrauen in den russischen Rechtsstaat ausgesprochen hat. Für viele
Menschen in Russland und besonders in Tschetschenien ist das geradezu
eine Verhöhnung ihrer alltäglichen Lebens- und Überlebensrealität. Zwar bekennt
sich Russland in Artikel 1 seiner Verfassung zur Rechtstaatlichkeit als
Grundlage des Staatswesens und ist Mitglied im Europarat und erkennt somit
die Vorherrschaft des Rechts an. Die Rechtswirklichkeit sieht jedoch leider
anders aus. Ich habe dem Bundeskanzler anlässlich seines Besuchs in Sotchi
gestern und vorgestern, in einem offenen Brief widersprochen und ihn
nachdrücklich aufgefordert, die dringende Verbesserung der rechtsstaatlichen
Verhältnisse in Russland offen mit Präsident Putin anzusprechen.
Sie können sich sicher sein, liebe Frauen aus St. Petersburg, dass es in
Deutschland eine wache Zivilgesellschaft gibt, die die Äußerungen der Regierungsvertreter
beobachtet und nicht unkritisiert lässt. Denn auch der russische
Präsident soll wissen, dass die Friedens- und Menschenrechtsgruppen
in Russland nicht alleine sind mit ihrer Arbeit, sondern auf die Solidarität und
Unterstützung vieler Freunde, gerade im europäischen Ausland bauen können.
Der heutige Anti-Kriegstag hat seine Aktionen auch unter das Thema gestellt,
die Europapolitik zu demilitarisieren, eine ganz wichtige und wesentliche Aufgabe
für uns alle in der europäischen Friedens- und Menschenrechtsbewegung.
Die unermüdliche Arbeit und die Erfolge der St. Petersburger Soldatenmütter
und Erin Keskins in der Türkei sind für alle in der europäischen Zivilgesellschaft
eine Bestärkung, Ermutigung, ein Vorbild und eine Hoffnung,
dass es gelingen kann menschenwürdig und in Frieden ein gutes Leben zu
leben, seien die gegenwärtigen Bedingungen auch noch so schwierig und
unüberwindbar.
Beide Preisträgerinnen zeigen mit großer Selbstverständlichkeit, wie erfolgreich
sie sich als Frauen in gesellschaftliche Debatten, in traditionelle Männerdomänen
einmischen können. Sie definieren und erweitern Sicherheitspolitik,
dass diese auch nicht-militärische Lebensbedürfnisse miteinschließt -
Sicherheit vor Armut, Sicherheit vor Krankheit, Sicherheit vor Arbeitslosigkeit,
Sicherheit vor Hunger, Sicherheit vor Analphabetismus. Sie legen ihrem Denken
und Tun die Universalität der Menschenrechte zugrunde, huldigen nicht
Nationalismen jedweder Art und lassen sich nicht abstumpfen von der sich
immer wiederholenden Propaganda der Obrigkeit, dass Gewalt und ‚hartes
Durchgreifen’ notwendig sind.
Sie haben den langen Atem und die Geduld, die notwendig sind, um die großen
Widerstände und die zahlreichen Gegner eines friedlichen, menschenwürdigen
Zusammenlebens, zu überwinden. Sie tun dies, ohne die Gefahren
für sich selbst und ihre Familien zu unterschätzen. Sie sind Frauen die sich
keine Illusion machen über die Strukturen und Dynamiken von Macht.
Sie erkennen Macht in ihrem Kern und treten doch ganz entschieden für die
Ermächtigung, oder wie man heute sagt, das ‚empowerment’ der Frauen und
Männer ein, einen Weg aus entsetzlichen Lebensumständen zu finden.
Sie sind Frauen die sich ihrer Macht bewusst geworden sind. Macht nicht
verstanden als Macht zu zerstören, oder Macht zu töten, sondern Macht die
bedeutet, anderen Leben zu ermöglichen und es in reicherem Maß zu ermöglichen.
Oder wie es die niederländische Theologin Chatharina Halkes beschreibt:
Macht verstanden als ein Mittel, andere machtvoll zu machen.
Ich danke den beiden Preisträgerinnen von ganzem Herzen für ihre Arbeit,
ihren Mut und Ihre Zuversicht und ich beglückwünsche den Verein Aachener
Friedenspreis e.V. zu seiner hervorragenden Entscheidung den Preis an Sie,
Frau Keskin und an die St. Petersburger Soldatenmütter zu vergeben.
Ich danke Ihnen.
Quelle: Homepage von amnesty international: www.amnesty.de
Vgl. auch unsere Berichte zu den Preisverleihungen
2001,
2002 und
2003.
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