Recht auf Leben nicht einklagbar?
Opfer von Varvarin werden nicht entschädigt - Landgericht Bonn weist Klage serbischer Angehöriger zurück
Deutschland muss den Opfern eines Nato-Luftangriffs im
Kosovo-Krieg keinen Schadenersatz zahlen. Das Landgericht
Bonn wies am 10. Dezember 2003 die Klage von 35 Einwohnern der serbischen Kleinstadt Varvarin ab (siehe Urteilsbegründung im Wortlaut). Die Kläger kündigten Revision an.
Im Folgenden dokumentieren wir das - aus friedenspolitischer Sicht unerfreuliche - Ergebnis eines Verfahrens, das - und das war das Erfreuliche bisher - zuvor doch einige hohe Hürden überspringen musste. Wir bringen eine Zusammenstellung aus mehreren Artikeln, die alle am 11. Dezember in überregionalen Tageszeitungen erschienen sind.
Den Anfang macht Rainer Jung, der den Prozess für die Frankfurter Rundschau verfolgte.
Am Ende seiner
Urteilsbegründung am Mittwoch erlaubte
sich Richter Heinz Sonnenberger
persönliche Worte: "Es handelt sich hier
um einen Rechtsstreit, bei dem man
spontan helfen will", sagte der Vorsitzende
der ersten Zivilkammer. Aber weder
deutsches Recht noch internationale
Verträge böten Kriegsopfern einen Ansatz,
individuelle Entschädigungsansprüche an
gegnerische Länder zu stellen. Das
könnten nach herrschender
Juristen-Meinung nur Staaten
untereinander.
Einzig die europäische
Menschenrechtskonvention von 1950
räumt Individualrechte ein. Doch ihr war Jugoslawien zur Zeit des
Kriegs noch nicht beigetreten. "Wir haben alles geprüft, wir haben
es uns nicht leicht gemacht", so Sonnenberger. Die Kammer sehe
aber keinen Grund, von der bisherigen Sicht abzuweichen.
(...) Die Flugzeuge, die am 30. Mai
1999 die kleine Brücke über die Morava beschossen und dabei
zehn Zivilisten töteten sowie 17 schwer verletzten, kamen
wahrscheinlich aus den USA oder aus Großbritannien.
Warum sie die militärisch unbedeutende Brücke zerstörten, ist bis
heute ungeklärt. Die Nato bezeichnet sie ohne nähere Erklärung
als "legitimes Ziel". Denkbar ist, dass der Flussübergang mit einer
15 Kilometer entfernten Autobahnbrücke verwechselt wurde.
Kläger wie Bürgermeister Zoran Milenkovic, dessen Tochter starb,
halten aber einen gezielten - und dann völkerrechtswidrigen -
Angriff für möglich, der die Bevölkerung gegen das
Milosevic-Regime aufbringen sollte.
Die Anwälte der Kläger kündigten Revision an. "Wir hoffen, dass
die anderen Instanzen das Völkerrecht in einer moderneren Weise
interpretieren werden", erklärte Anwalt Heinz-Jürgen Schneider.
Seine Kollegin Gül Pinar kritisierte, die Bundesregierung tue nichts,
um unschuldigen Kriegsopfern zu Rechtsansprüchen zu verhelfen.
Aus: Frankfurter Rundschau, 11.12.2003
Dazu gab es in der FR noch einen Kommentar, den ebenfalls Rainer Jung verfasste. Er meinte u.a.:
Ein Zivilgericht ist nicht der Ort, um die Folgen eines Krieges zu
bewältigen. Das hat sinngemäß der Vorsitzende Richter im
ersten Prozess um die Opfer eines Nato-Luftangriffs im
serbischen Varvarin gesagt. Ohne den Urteilen höherer
Instanzen vorzugreifen: Der Mann hat Recht, hier und heute.
Die Idee, dass auch Einzelne juristisch prüfen lassen können,
ob es legal oder illegal war, sie ins Fadenkreuz zu nehmen, ist
trotzdem bestechend. Und sie müsste gerade denen ein
Anliegen sein, die Militäreinsätze gegen mörderische
Diktatoren oder Terroristen befürworten. Denn nur so lässt
sich der Eindruck verhindern, dass auch Demokratien im Krieg
nur das Recht des Stärkeren kennen. Und mit folgenlosem
Bedauern hinnehmen, wenn ihre an sich gut gemeinten
Aktionen aus sicherer Flughöhe auch Unschuldige treffen. Der
Zweck heiligt eben nicht alle Mittel, nicht in Irak, nicht in
Afghanistan, noch weiland in Jugoslawien.
(...) Bessere Wege zu planieren, ist eine Sache der Politik. Doch die
legt derzeit zumeist eher den Rückwärtsgang ein. Oder sie
laviert, wie etwa die rot-grüne Bundesregierung. Klar ist: Es
wird schwierig und langwierig sein, Kriege perspektivisch zu
zivilisieren, und so etwas wird Geld kosten. Aber andernorts
kosten diese Kriege immer wieder Leben.
***
In der "jungen Welt" kam Jürgen Elsässer zu Wort, ein bekannter scharfer Kritiker des NATO-Kriegs. Das Bonner Gericht habe, so seine bittere Anklage, mit dem Varvarin-Urteil das Menschenrecht auf Leben aufgehoben. Elsässer schreibt u.a.:
Ausgerechnet am internationalen Tag der Menschenrechte hat
die deutsche Justiz die Aufhebung des wichtigsten
Menschenrechts verkündet - des Rechts auf Leben und
körperliche Unversehrtheit. (...)
(...)
Richter Heinz Sonnenberg sprach den Hinterbliebenen sein
"volles Mitgefühl" aus und gestand, seine "spontane
Meinung" sei gewesen, daß "man helfen müßte". So erklärt
sich vielleicht einer seiner Versprecher bei der
Urteilsverkündung: Er gab die bisherige Wiederaufbauhilfe der
Bundesrepublik nach dem Krieg mit 200 Milliarden Mark an -
die Serben wären froh, wenn wenigstens 200 Millionen bei
ihnen angekommen wären. Beabsichtigt war hingegen seine
Formulierung vom "bewaffneten Eingreifen" der NATO auf dem
Balkan - so wurde das böse Wort Krieg vermieden. Dies
entsprach der Linie des Urteils, das ausdrücklich die Frage
nach der Völkerrechtswidrigkeit des NATO-Angriffes und der
deutschen Mitverantwortung ausklammerte und damit einen
Schwerpunkt der Klage unter den Tisch fallen ließ.
Im Zentrum der richterlichen Ausführungen stand eine
Grundsatzentscheidung: Können Individualkläger aus einem
Staat A einen Staat B verklagen? Die bisherige Rechtsprechung
in der Bundesrepublik hat dies verneint, zuletzt im Sommer
dieses Jahres in einem Prozeß, den Hinterbliebene der Opfer
eines SS-Massakers in der griechischen Ortschaft Distomo
angestrengt hatten. Sie sollten sich statt dessen, wie andere
Naziopfergruppen, an ihren eigenen Staat wenden, der ein
Reparationsabkommen mit der BRD aushandeln müsse und sie
dann mit diesem Geld entschädigen könne. Noch bei der
Eröffnung des Prozesse zu Varvarin im Oktober hatte Richter
Sonnenberg betont, daß der Bundesgerichtshof "ausdrücklich
offengelassen" habe, ob diese Rechtsprechung über
Verbrechen des Zweiten Weltkrieges auch für die heutige Zeit
gelte.
Doch gestern machte Sonnenberg eine Kehrtwende. Sowohl
die Haager Landkriegsordnung als auch das Genfer Abkommen
zum Schutz der Zivilbevölkerung im Kriege gäben nur den
Vertragsparteien, also den Unterzeichnerstaaten, das Recht
zur Klage. Eine Ausnahme sei lediglich in solchen Fällen
möglich, wo Staaten für grenzüberschreitende Individualklagen
ein vertragliches Regelsystem geschaffen hätten. Dies sei
etwa in Form der Europäischen Menschenrechtskonvention aus
dem Jahre 1950 geschehen. Bedauerlicherweise können sich
aber nur Bürger der Staaten darauf berufen, die diese
Konvention ratifiziert haben - Jugoslawien gehört nicht dazu.
Sonnenberg: "Individualrechte gibt es, aber nicht für unsere
Kläger." So werden die Bürger eines Landes diskriminiert, das
für seine buntgemischte Bevölkerung - fünf Nationen, drei
Religionen und zahllose Minderheiten - verfassungsmäßige
Rechte garantiert hatte, von denen - Europäische
Menschenrechtskonvention hin oder her - ein Türke oder ein
Italiener in Deutschland nur träumen können.
Wie stark das Völkerrecht im Umbruch ist, zeigt die Einrichtung
des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag (ICC), vor
dem Staaten auch wegen individueller
Menschenrechtsverletzungen beklagt werden können. Dieser
weltweiten Entwicklung trägt das gestrige Urteil keinerlei
Rechnung, obwohl die deutsche Regierung, anders als die
US-amerikanische, zu den Förderern des ICC gehört. Damit
entsteht ein gespaltener Bezug auf die Menschenrechte, der
schlimmer ist als ihre Ignorierung: Ihre Verteidigung sei
wichtiger als die Staatssouveränität, heißt es immer dann,
wenn ein Krieg gerechtfertigt werden soll. Melden sich nach
dem Krieg die Opfer, steht die Staatssouveränität wieder über
allem. (...)
Aus: junge Welt, 11. Dezember 2003
***
In eine ähnliche Richtung geht der Artikel im "Neuen Deutschland": "Kein Recht für NATO-Opfer". René Heilig schreibt u.a.:
(...) Mit Hilfe einer deutschen Bürgerinitiative
wollten die Opfer und ihre Angehörigen die Bundesrepublik Deutschland zivilrechtlich haftbar machen,
weil deren Regierung und Parlament den völkerrechtswidrigen Angriff gegen Jugoslawien
mitbeschlossen und mit Bundeswehr-Truppen selbst aktiv betrieben haben.
Die Kläger warfen der Bundesregierung stellvertretend für die NATO vor, gegen diverse Vorschriften des
Genfer Protokolls zum Schutz von Zivilisten und weitere Zusatzabkommen verstoßen zu haben. So
bestimmt das erste Zusatzabkommen zum Genfer Abkommen aus dem Jahre 1977, dass direkte
Angriffe auf Zivilisten - so wie auf die Brücke von Varvarin - verboten sind. Selbst bei Attacken auf
militärische Objekte müsse dafür Sorge getragen werden, dass keine zivilen Opfer drohen, "die in
keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren Vorteil stehen". Das Dokument wurde
zwar nicht von den USA, wohl aber von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert.
Für ihre erlittenen Schmerzen und den Verlust von Angehörigen forderten die Kläger gemeinsam die
bescheidene Summe von maximal 710000 Euro. Die Prozessvertreter des Bundes bestritten jegliche
Verantwortung für den Angriff. Es seien keine deutschen Flugzeuge beteiligt gewesen. Im übrigen sei der
Krieg wegen der drohenden humanitären Katastrophe im Kosovo gerechtfertigt gewesen.
Ihre Ablehnung der Klage begründete die 1. Zivilkammer des Bonner Landgerichts damit, dass die
geltend gemachten Ansprüche weder im Völkerrecht noch im deutschen Staatshaftungsrecht eine
Grundlage fänden. Der Vorsitzende Richter Heinz Sonnenberger versicherte den Klägern abermals, sie
hätten das "volle Mitgefühl" des Gerichts, dennoch müsse er sich "an geltendes Recht" halten. Das
war in den vergangenen Jahren auch stets die Formel gewesen, mit der deutsche Gerichte Opfern von
Wehrmacht und SS Entschädigungen versagten. Sonnenberger unterstrich, die Forderungen der
serbischen Kläger ließen sich auch nicht aus der Haager Landkriegsordnung, dem Genfer Abkommen
oder dem NATO-Truppenstatut ableiten. Diese internationalen Vereinbarungen fänden ausschließlich
Anwendung auf der Ebene nationaler Regierungen. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention
von 1950 biete keine Anspruchsgrundlage, da Jugoslawien zum Zeitpunkt des Angriffs nicht Mitglied des
Europarats gewesen sei.
Gül Pinar, Anwältin der Varvariner, meinte, Sonnenbergers Begründung stehe auf "sehr wackligen
Füßen". Varvarins Bürgermeister Zoran Milenkovic bekräftigte noch im Bonner Gerichtsgebäude, man
ließe sich durch diese Niederlage "nicht davon abhalten, den nächsten Schritt zu gehen". Demnächst
wird sich also das Oberlandesgericht Köln mit den von der NATO verübten Morden in Varvarin befassen
müssen. (...)
ND, 11.12.2003
Über Varvarin haben wir mehrmals berichtet, siehe:
Weitere Beiträge zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien
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